Tramperrechtshilfevereinsbenefizveranstaltung

June 20th, 2002

Das nennt man Rollenwechsel. Der Film geht weiter und die Zuschauer merken nicht das Geringste.

Meine Hand drückt die Tür auf, ich betrete die Party und schon jetzt kommen mir so viele Gesichter vertraut vor. Noch auf dem ersten Meter frage ich einen blonden Rastaträger nach einer Zigarette, weil ich Tanja küssen will.

Wieder betreten ist nicht betreten, du steigst nicht zweimal in die selbe Veranstaltung ein. Einen weiteren Meter hinter dem Kippenspender steht ein improvisierter Einlaß mit zwei Halbwichtigmännern in Lederjacken daneben. Habe ich vorher sicher übersehen, weil es überhaupt nicht so wirkt. Auch hier wird gekifft und erst jetzt, als ich kurz stehenbleibe, sagt mir einer der beiden: “Das is heute Benefiz für die Tramper.”

“Äh, werden die denn verfolgt?” frage ich.

“Wenn du dich n bißchsen umhorschst, findest du drinne son paar Kunden vom Rechtshilfeverein, die so Anwaltskosten bezahln, wenn einer blöd irgendwo gestanden hat oder dem BGS begeschent is.”

Ich lasse ihnen einen Fünfer daliegen und nehme mir ein kleines Heftchen mit, das Heiko-Defense heißt. In der Mitte aufgeschlagen: “Begrenzungspfosten sind leichter zu entfernen, gerade wenn man akut mit der Straßenlage gar nicht zufrieden ist; aber meistens sind sie nützlich, um die Jacke dranzuhängen. Für deutliche Verbesserungen der Mitnahmewahrscheinlichkeit mußt du dich an die Leitplanken oder Mindestgeschwindigkeits- oder Halteverbotschilder heranwagen. Zu diesem Zweck solltest du folgenes Werkzeug ständig bei dir führen…” Ah ja, die unschuldigen Opfer der Polizei, ich bin im Bilde.

Manno, mit noch jemandem zufällig ins Gespräch kommen, das wird langsam anstrengend. Und bin ich nicht gerade erst auf den Weg des möglichst bloßen Daseins geschickt worden? Und das mit einiger Überzeugungskraft.

In einem Verbindungsgang steht eine Kinostuhlreihe und ich nehme Platz, hoffe, daß der Film einfach losgeht, wenn mich hinsetze und der Gong ertönt.

“Man kann ja bei vielen Filmen sagen, es ginge um gar nichts, aber hier geht es wirklich um was”, erklärt ein leicht schwankender, großer, schwarzhaariger, schwarz gekleideter, schwarz beschuhter, leichenblasser, nickelbebrillter Bewerber um den Publikumspreis auf dem Friedhof einer pausbäckigen, in selbstgestrickten Umhängen versteckten, überforderten, die Fingernägel auf Reinlichkeit prüfenden, rothaarigen und ebenso blassen Blumensurferin und beide rempeln mich nacheinander im Vorbeigehen an.

“Man ruft erfreut aus: Sowas wie Handlung! Das muß genügen”, schließt er und dreht sich linksrum und rechtsrum auf der Suche nach Verbündeten im Kampf gegen die Gravitation.
So setzen sich beide rechts neben mich und sie gibt zu bedenken: “Aber das kammer ja och selber machen.”

Worauf er nickt: “Was heißt das schon?”

Er riecht unter seiner linken Achselhöhle und sieht dabei mich, er riecht also zu Ende und fragt: “So früh am Abend schon bedient vom Diskurs?”

“Ich denke, ich habe für mich etwas herausgefunden. Ich will nichts wissen, ich will erstmal wieder da sein.”

“Aber das ist doch Grütze, Wissenheit war doch sicher überhaupt noch nie dein Problem, oder?”

“Meine Geschichten haben alle nicht geholfen. Ich fahre ohne Wörter ganz gut, denke ich.”
Er schiebt die Brille die Nase hinauf und sagt zu seiner Begleitung, ohne den Blick von mir abzuwenden: “Er kommt aus einem Land ohne Buchstaben.”

“Land ohne Buchstaben?” erschrickt sie gespielt. “Das muß ja ein schreckliches Land sein, sicher regiert dort ein böser Zauberer.”

Er wackelt aufgeregt hin und her und hält mich für höchstens sieben: “Jeder Buchstabe, der in diesem Lande fortgezaubert wird, fliegt, schwupps, in diese Truhe.”

Sie: “Und was wird, wenn wir diese Buchstaben befreien?”

Wie angestochen fuchtelt der Schwarze Mann neben mir mit einem Stift herum und intoniert einen alten verschrumpelten Märchenzausel: “Hipphopp! Sucht das verdammte Buch! Ich dulde keine Bücher in meinem Reich! Ich bin der Oberzauberer, ich bin der König in meinem Lande, ich allein bin klug und weise, alle anderen haben dumm zu bleiben! Jawohl! Hipphopp!”

Das umhangene Mädchen beugt sich an ihm vorbei, daß die Stuhlreihe quietscht und sagt ganz liebevoll zu mir: “Willst du immer noch nichts lernen? Hast du denn immer noch nicht gemerkt, wie schwer es die Menschen im Land ohne Buchstaben haben? Alle müssen dumm bleiben, damit der Zauberer sie beherrschen kann.”

Niemand hat mir versprochen, daß es einfach sein würde, mich in der neuen Umgebung zurechtzufinden und sie scheinen es ja nett zu meinen. Also spiele ich mit und antworte: “Beherrschtwerden macht doch aber gar nichts, wenn man einfach sein Ding macht.”

Es klingt, als wäre es meine langjährige Überzeugung.

Das bringt das Mädchen nun gehörig auf und sie wird theatralisch: “Seiner Sprache mächtig sein heißt daher nichts anderes, als aller Kräfte seines Geistes und des ganzen Ideenvorrates mächtig sein, welchen die Sprache bezeichnet. Seine Angelegenheiten zu regeln zu können und zu wollen ist gleichwohl die einzige Versicherung gegen die Tyrannei der bösen Männer.”

Die lustig-finstere Nickelbrille läßt eine wirkungsvolle Pause verstreichen, um sich dann wieder mit konspirativem Augenaufschlag an mich zu wenden: “Wenn deine Geschichten nicht funktionieren, dann sind sie verschlissen, dann müssen ein paar Teile ausgetauscht werden und vielleicht auch durch neue ersetzt.” Jetzt mit erhobenem Kopf, eines alten Films würdig: “Hast du vielleicht schon von den Aufschneidern gehört? Sie schälen die Bücher, weil in der Rinde ja nichts steckt, und dann schneiden sie sie ganz fein und drapieren sie angenehm auf Tischen, Platten, Tellern.”

Ich bin in Zugzwang, ich muß jetzt entscheiden, ob ich wenigstens vorübergehend kapituliere oder dabeibleibe, weil es ja scheinbar nicht aufhört. “Und die können mir helfen?”

Er lehnt sich zurück und atmet tief durch, hat aber immer noch dieses Wahnhafte in der Stimme: “Sie helfen dir, wenn du etwas loswerden willst, und sie können dir zeigen, wie du selbst wieder etwas gewinnst. Geh morgen zu einer beliebigen Zeit ins Hornheim auf der Helmholtzer Hauptstraße.” Ende der Vorstellung, er schiebt die mittlerweile wieder verrutschte Brille zurecht, sagt: “Du hast ja gar nichts zu trinken mehr, das ist beim Dasein aber sicher nicht hinderlich”, und angelt eine Bierflasche aus seiner Manteltasche.

Oh, süß, Überraschung, aber… lecker. Ungemein lecker. Er hat mich beobachtet und lacht: “Tja, Schwarzbier. Was hast du gedacht?”

Ich schau mir das Etikett an und nehme noch einen Schluck, als ich es zurückgeben will, sehe ich die beiden knutschen. Das scheint zu dauern, also stehe ich auf und beschließe, vielleicht doch ein bißchen offensiver dazusein. Es macht ja nicht direkt den Eindruck einer Herausforderung, Kontakte zu knüpfen. Noch ein wirklich bemerkenswerter Punkt, fast surreal, fast wie ausgedacht.

In einem kleinen Nebenraum finde ich einen Tisch mit mehr von den Broschürchen und einigen Büchern: “Sissy – Schicksalsjahre einer Tramperin”, “Per Anhalter durch die Galaxis”, “On the road”. Hier läuft auch Musik und es wird mitgesungen. Zur Hilfe werden die Texte an die Wand geworfen: gerade singen sie:

Spaniens Himmel breitet seine Sterne
über schmale Straßengräben aus
und der Morgen grüßt schon aus der Ferne
bald fährt hier sicher wieder n Auto raus

Ich schau die Bücher durch und sage beiläufig zu dem netten Hippie, der den Tisch zu betreuen scheint: “Bei dem kleinen Ratgeber hier ist es aber schon kein Wunder, daß ihr Ärger habt.”
Er wird überraschend sauer und sagt ernst: “Wer hat denn den Krieg begonnen? Die ganzen unsäglichen Kampagnen, die wuchernden Verkehrswüsten, die Verdrängung der Bahn?”
Ein gelangweilt wirkender Pulloverträger wirft ein: “Ist es nicht so, daß die Leute lieber Auto fahren wollen? Dazu muß sie doch keiner zwingen. Die spinnen, die Tramper.”

“Das mag für viele stimmen, aber nicht für die täglichen Pendler und die Mittellosen, die wollen nur irgendwohin und es bezahlen können.”

Sie singen: “Ich will zurück auf die Straße, denn Straßen sind aus Dreck gebaut…”

“Und wer führt diesen Krieg nun?” will ich wissen.

“Tu doch nicht so, als wäre das eine Verschwörungstheorie. Was läuft denn in Deutschland ohne die Automobilindustrie und die Versicherungen? Denen ist schnell klargeworden, daß öffentlicher Nahverkehr und Mitnahmefreudigkeit pro Kopf der Bevölkerung ein, zwei Autos oder manchmal sogar alle einsparen und das ist sehr schlecht fürs Geschäft. Also zahlen alle den Neubau der Straßen mit, die von LKWs verwüstet werden, aber die Bahn muß ihre Schienen selbst pflegen. Also wird die Tramperversicherung aus DDR-Zeiten abgeschafft und alles völlig zugebaut.”

“Das ist trotzdem noch kein Grund für Terrorismus, finde ich.”

“Ach Gott, wir unterstützen lediglich kleine Verschönerungsmaßnahmen. Ein Halteverbot ist nur für den Verkehrsfluß wichtig, stauforschermäßig betrachtet. Aber das Problem gibt es doch nur wegen der Unmengen sinnlosen Verkehrs auf der Straße.”

Der Zweifler wieder: “Da bin ich aber dafür: Unmengen sinnlosen Verkehrs auf der Straße!”

Sie singen eine Art Choral: “Ihich will nur nach Hause, ihich will nur nach Hahause…”

“Man kann sich doch einfach an Raststätten stellen, da stehen ja auch noch manchmal welche”, versuche ich eine letzte Attacke. Aber auch auf die ist er schon vorbereitet: “An der Ausfahrt gilt es für die Polizei als Verkehrbehinderung und sie verjagen einen dauernd, auf dem Parkplatz wird man schon mal des Landfriedensbruchs bezichtigt und an der Tanke heißt es Kundenbelästigung.”

“Das ist doch jetzt übertrieben.”

“Am Rasthof Holzkirchen bei München findet sich neben der schicken Enterprisetür das Schild: Der Aufenthalt von Anhaltern im Tankstellenbereich ist untersagt. Und es gibt für die Grütze keine richtige Rechtsgrundlage, weil jemanden nach dem Fahrtziel zu fragen, juristisch gesehen überhaupt nichts ist. Es ist schiere Willkür.”

Ich gebe auf und wende mich den Singenden zu, das Lied kommt mir bekannt vor, eine poppige olle Rocknummer, einiges Entzücken verursachend. Kann nicht am Song liegen, denke ich, obwohl ich sowas selbst schon mag oder mochte oder was weiß ich.

It was a rainy night when he came into sight
Standing by the road, no umbrella, no coat

Neben mir unterhielten sich zwei Kapuzenshirtträger, die sicher noch zur Schule gingen über Technik: “Wenn du dich in die Routenplanung der Fahrer reinhacken könntest, wüßtest du, wo fette Beute lauert.”

So I pulled up along side and I offered him a ride
He accepted with a smile so we drove for a while

“Es sagt dir natürlich trotzdem nicht, auf welchen Raststätten jemand rausfährt.”
“Aber viel besser: wo er auf die Autobahn draufrollt.”

I didn’t ask him his name, this lonely boy in the rain
Fate tell me it’s right, is this love at first sight
Please don’t make it wrong, just stay for the night

“Trotzdem weiß ich nicht, wie du an die Daten kommen willst. Viel schlauer wäre es, mit dem Machbaren einzusteigen: Tramper könnten mit GPS ausgerüstet sein, damit du weißt, wo schon wer steht.”

All I wanna do is make love to you
Say you will you want me too
All I wanna do is make love to you
I’ve got lovin’ arms to hold on to

“Das ist wirklich ‘ne gute Idee, weil du durch nichts mehr ablost, als durch Mitbewerber. Haken hierbei, es sind ja nich alle inner Gewerkschaft.”

So we found this hotel, it was a place I knew well
We made magic that night. Oh, he did everything right

“Selbst wenn wir alle Oft-Anhalter am Start hätten, würden es einem gerade die Sonntagstramper versauen, die eben nicht aufm Schirm sind.”
“Ja, plötzlich stehen da zwei Polen mit großen Kraxen und du kannst dich erstmal schlafen legen.”

He brought the woman out of me, so many times, easily
And in the morning when he woke all I left him was a note

“Knifflig. Das einzige, was an einem mobilen Rechner demnach wirklich von Vorteil wäre: Wettervorhersage und die Daten vom Verkehrsministerium. Du angelst im Verkehrsfluß, also mußt du wissen, wo die Fische langschwimmen. Es gibt große Behörden, die das zählen.”
“Ob das offenliegt?”

I told him I am the flower you are the seed
We walked in the garden we planted a tree
Don’t try to find me, please don’t you dare
Just live in my memory, you’ll always be there
All I wanna do is make love to you…

“Man könnte es offenlegen…”
“Im Gegensatz zum Mysterium des Tramperstands.”
Ich horchte auf: mystische Technikfreaks?

Oh, oooh, we made love, love like strangers, all night long

“Ach ja, warum es immer erst weitergeht, wenn es weitergehen soll.”
“Und warum einen immer das Auto mitnimmt, das einen mitnehmen soll. Es sitzt immer die richtige Person darin, die es gerade sein soll.”
“Sieh es mal andersrum, vom Fahrer aus: Der nimmt ja immer dich mit.”
“Haha, der merkt es nur nicht, weil das so selten vorkommt.”

Then it happened one day, we came round the same way
You can imagine his surprise when he saw his own eyes
I said please, please understand, I’m in love with another man
And what he couldn’t give me was the one little thing that you can

“Hab ich aber letztens wirklich rausgehauen, bevor der Kunde sagen konnte, daß ich ja solches Glück gehabt hätte, daß er gerade da lang fährt…”
“Was für ein dämlciher Spruch, oh ja!”
“…sage ich also: Da haste aber Glück gehabt, daß ich da gerade stand, sonst müßteste jetzt alleine fahren.”

All I wanna do is make love to you
One night of love was all we knew

“Aber gar nicht zu weit rausgelehnt eigentlich, weil ich höre immer öfter von Geschäftsreisenden so Sachen wie: Wenn ich keinen mitnehme, telefoniere ich die ganze Zeit teuer übers Handy, fahr dauernd sinnlos überall raus und kauf Quatsch, zwischendurch trete ich total drauf, weil es sonst langweilig wird – und so unterhalte ich mich mit dir und spar das alles. Da fällt mir echt langsam auf, daß wir nicht nur nichts bezahlen, sondern denen auch noch Geld sparen.”
“Und manchmal bläst man einem einen.”
Oh, das war also auch kein Bluff gewesen?

All I want to do is make love to you
Come on, say you will, you want me too

Hach ja, da habe ich doch ein gutes Werk vollbracht. Beziehungsweise, der komische Tramperstand hat meine Beziehung zerlegt, damit ich die richtigen Leute mitnhemen konnte. Warum muß das eigentlich stimmen oder nicht stimmen? Für die Tramper klingt es gut, es ist ein ungefährlicher Glaube, meinetwegen. Die Schlampe war nie eine Schlampe, bis sie eine hatte sein sollen. Das ändert nichts am Stand der Dinge, aber der Tramperstand der Dinge hat aus meinem Leid Nutzen gezogen.

Jetzt fangen sie an, das Knieschießlied zu singen, das mir im Auto schon vorgesungen wurde, der musikalische Untergrund ist tatsächlich Punk, so nett es auch klingt. Bis auf den Schluß, ach ja.

Mal wieder zur Tanzfläche schauen, die ganze Gedankenflut ein bißchen im Nervensystem verteilen. Nach Gebrauch schütteln.
Auf der Treppe nach oben ist alles voller knutschender Pärchen. Und hier und da ist die Zahl der Beteiligten auch größer als zwei. Was für ein Ort.

Der Menschenwald hat sich etwas gelichtet, immer noch wird ausgiebig und gerudert und gewedelt, Tanja tanzt nach wie vor oder schon wieder, gerade läuft eine Art Mittelalterpunk, aber auch ziemlich nett, es wird auch hier mitgesungen, ohne daß die Texte irgendwo zu lesen wären:

Dort oben leuchten die Sterne mit silberglänzendem Licht
die sehen aus als hätten sie mich gerne, ich glaube die sind nicht ganz dicht

Ich tanze mich an Tanja heran, und obwohl ich mich gar nicht mehr für hibbelig halte, geht mir der simple Polkatakt mächtig in die Beine, mein Hintern hat halt seinen eigenen Kopf.

die Nachtvögel dort in den Zweigen sind schwarz wie der tiefste See
sie starren mich an und sie schweigen, als wären auch sie nicht okay

“Was ist denn nun?” will ich von ihr wissen. “Alles geschehen lassen oder alles selber machen wollen oder was ist der Trick, weshalb seid ihr so?”
“Ich weiß nich, Bert, gleiten statt schrubben, würde ich sagen.” Dann verschwindet ihr Gesicht wieder hinter den Haaren, die davor herumfliegen.

doch stehe ich hier nicht alleine, die Armee der Verlierer ist groß
wir stehn wie das Vieh auf der Weide und warten auf das große Los
ich steh auf der untersten Stufe, der Weg nach oben ist weit
es hat keinen Sinn mehr, doch ich rufe: es ist an der Zeit!

Für den Rest des Liedes lasse ich mich mitreißen und versuche mir vorzustellen, wie ich an der Straße stehe, was ich wirklich nur einmal gemacht habe, vor Ewigkeiten, zwanzig Kilometer weit, aber das Bild fliegt mir zu, weil ich immer noch bedingst bin oder weil der Tramperstand es mir zusendet oder weil es ein Archetypus ist oder weil ich froh bin dazuzugehören oder es zumindest so scheinen zu lassen, obwohl es natürlich… überhaupt nicht so ist.

Das Lied endet, und das nächste fängt mit einer etwas heiseren nördlichen Stimme an, die nur von kurzen Akkorden unterbrochen wird:

Ich bin drei Schritte vom
Abgrund entfährnt
Ich bin drei Schritte vom
Abgrund entfährnt

Dann kreischt der Verzerrer, der Rhythmus setzt ein, der Sänger klingt weniger heiser, aber etwas schlumpfiger:

Und ich kann nicht springen und ich kann nicht gehen

Woraufhin alle (sie kennen den ganzen Krempel wirklich) mitgröhlen:

Und vor allen Dingen kann ich hier nicht stehen

In einer aktionistischen Anwandlung fasse ich Tanja an beide Oberarme, damit sie mit dem Schütteln aufhört, frage: ”Bereit?”

Sie sagt: ”Bereit, wenn Sie es sind.”

Ich lege ihr einen Arm um die Schulter und hebe mit dem anderen ihre Beine hoch und trage sie hinaus.

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Dieser Text stammt aus dem Buch “Aufschneider” aus dem Jahr 2003. Enthält ausführliche Samples aus den Songs “All I wanna do is make love to you” von Heart, “An der Zeit” von Subway to Sally und “Ich bin drei Schritte vom Abgrund entfernt” von Tocotronic, aus den Filmen “Fight Club” und “Das Schweigen der Lämmer, aus dem Buch “Das Land ohne Buchstaben” von Georg Willroda sowie ein Zitat von Gottfried August Bürger und eine Verfremdung der “Thälmannkolonne” von Ernst Busch.

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