Sid Meier’s Fanclub Party

October 20th, 2002

Das nennt man Rollenwechsel. Der Film geht weiter und die Zuschauer merken nicht das Geringste.

“Tüte war mal in Berlin und hat jetzt so `ne Location hier aufgerissen. Irgendso’n besetztes Abrißhaus, wo Se heute `ne Civilization-Party machen.”

Meine Hand drückt die Tür auf, ich betrete die Party und wieder kommen mir viele Gesichter vertraut vor.

“Was für ‘ne Party?” frage ich.

Noch auf dem ersten Meter frage ich einen blonden Laptopträger nach einer Zigarette, weil mir Tanjas Kuß fehlt. Er sagt, er raucht nicht.

“Das is’n Computerspiel, auf das ein paar Leute voll abgehen, so schon eher suchttechnisch und so.”

Wieder betreten ist nicht betreten, du steigst nicht zweimal in dieselbe Veranstaltung.

Und schon gar nicht in eine andere.

“Wenn de willz, kannze ja mit zu mir komm und das Spiel ma antestn. Ar is ni ohne, nur daßte vorgewarnt bist.” Daraufhin spielte ich den ganzen Nachmittag Sid Meier’s Civilization II. Und den ganzen Abend, obwohl es noch zwei andere Spiele gab, die ich hätte kennen müssen, um die Party einigermaßen zu verstehen.

Einen weiteren Meter hinter dem Nichtraucher steht ein improvisierter Einlaß mit zwei Halbwichtigmännern vor ihren Bildschirmen. Auch hier wird gecivt, und erst jetzt, als ich sichtbar vor ihnen stehenbleibe, sagt mir einer der beiden: ”Der Eintritt is Benefiz für die Suchthilfe.”

”Äh, is das echt so schlimm?” frage ich verblüfft.

”Wenn du dich n bißschn umhorschst, findest du drinne son paar Kunden davon da, die so erste Beratungsstunden übernehmen, wenn‘s wer selber noch gar ni gemerkt hat.”

Ich lasse ihnen einen Fünfer daliegen und nehme mir ein kleines tintengestrahltes Heftchen mit, das ”Das Sid Meier Erbe” heißt und dem Untertitel nach aus einer amerikanischen Huldigung übersetzt wurde. In der Mitte aufgeschlagen ein Zitat vom Meister: “Dinge, die in Filmen funktionieren, sind dazu gedacht, dich mit etwas zu beeindrucken, was jemand anders tut. Ein gutes Spiel beeindruckt mit dem, was du selbst tust.”

Das hat er so gut hinbekommen, daß die Gefahr besteht, daß das, was andere tun, irgendwann völlig uninteressant zu werden scheint. Die Opfer des genialen Verführers – bin ich nicht gerade selbst auf den Weg geschickt worden? An die Nadel gehängt, in diesem Fall also an die Maus und die Flimmerkiste.

Ich bin gespannt, wie die Junkies drauf sind, vielleicht besonders, weil mir schon die kaum fünf, naja, sechs, eher sieben Stunden, die ich vorm Rechner hing, klarmachten, daß ich über kurz oder lang dazu gehören könnte. Bemerkenswert simples und funktionelles Design der grafischen Elemente umrahmte ein zwingendes, gigantisches Schachspiel mit komplexen strategischen Möglichkeiten und dem erkennbaren Anspruch, die Geschichte der menschlichen Zivilisation abzubilden. Sid Meier ist nicht der begabteste Programmierer, den die Welt bisher gesehen hat. Er liegt nachts nicht wach und knobelt die erlesenst optimierte 3D-Engine aus, genausowenig benötigt man die letzten Stand-der-Dinge-Rechner, um die Spiele zum Laufen zu bringen – merkwürdig in einem Industriezweig, der davon besessen ist, das Gehäuse bis zum Platzen vollzustopfen.

An mir werden civende Laptops vorbeigetragen, hier und da vor dem Hintergrund von Screenshots, die an die Wand gebeamt werden. Eine Projektion zeigt die Farbbalken einer Umfrage in einem Onlineforum: “Deine Kaufentscheidung bei Strategiespielen ist von folgenden Faktoren abhängig.” Die meisten legten Wert auf Komplexität, Spieltiefe und intelligente Computergegner, kaum jemand auf Effekte oder Kurzweiligkeit. “Ich vermisse irgendwie die Zeiten, in denen Spiele nur nach ihrer Spielbarkeit beurteilt wurden.” Leute in liebevoll zusammengestellten Kostümen aus früheren Epochen laufen umher, vor allem knapp beschürzte und kantig frisierte Pharaonensklaven-Lookalikes.

Ich frage mich nach der Suchthilfe durch und bekomme sehr freundliche Auskünfte. Merken sie mir das schon an? Oder sind die hier so nett?

“Leute mit Design oder Persönlichkeiten zu beeindrucken oder womit auch immer Filme transportiert werden, funktioniert bei Spielen nicht, da es vom Spieler ablenkt, der eigentlich der Star ist. Je mehr der Spieler der Star ist, desto besser ist das Spiel.” Im angesteuerten Raum ist ebenfalls ein Umfrageergebnis zu sehen, aus dem selben Forum, hier aber zur Frage: “Warum werden die Spiele vom Herrn Meier gespielt?” Manche wählten die Optionen “Abreaktion”, “aus dem selben Grund, aus dem ich Schach spiele” oder “Völker ausrotten, die Weltherrschaft erringen”. Die mit Abstand größte Fraktion bildet jedoch die simple Antwort: “Sucht.”

Neben der Projektion finde ich einen Tisch, auf dem mehrere der Sid-Meier-Broschürchen und einige Bücher feilgeboten werden: ”Civilization Manual”, ”Civilization II Manual”, ”Sid Meier’s Alpha Centauri”. Ich schau die Bücher durch und sage beiläufig zu dem netten Hippie, der den Tisch zu betreuen scheint: ”Bei den Büchern hier und nach den Äußerungen des Herrn Meier ist es aber schon kein Wunder, daß ihr alle abhängig seid, oder? Also: consider turning a friend on to Civilization II, arguably the greatest game ever designed.”

Er wird überraschend sauer und sagt ernst: ”Wer hat denn den Krieg begonnen? Niemand bereitet die Kids auf Sucht vor, ganz zu schweigen davon, daß es sich hier um ein irrsinnig potentes Suchtmittel handelt.”

Ein gelangweilt wirkender Pulloverträger wirft ein: ”Ist es nicht so, daß die Leute gerne Computer spielen? Dazu muß sie doch keiner zwingen. Die spinnen, die Zocker.”
Der Hippie geht gar nicht drauf ein, sondern behält mich beim Wickel: ”Das mag für viele stimmen, aber nicht für die täglichen User und die Mittellosen, die wollen nur irgendwo rein und es bezahlen können.”

”Und wer führt diesen Krieg nun?” will ich wissen.

”Tu doch nicht so, als wäre das eine Verschwörungstheorie. Was läuft denn in Amerika ohne die Softwareindustrie? Denen ist schnell klargeworden, daß Brettspiele und Minesweeper keine Hardwarekäufe nach sich ziehen, daß die volkswirtschaftliche Sogwirkung von Games erst bei harter Echtzeitanimationskacke einsetzt. Also werden die DOS-Spiele aus den neuen Betriebssystemen verbannt, eigentlich gibt es nicht mal mehr die Befehlszeile, mit denen die alten Spiele gestartet werden können.”

”Ich denke, Sid Meier baut eben nicht solche aufwendigen Spiele, für die man nachrüsten muß.”

“Das hat schon gestimmt, als dieses Heftchen hier geschrieben wurde. Es gab nichtmal einen Kopierschutz für CivII, bei CivI war er mit einiger Kenntnis des Spiels leicht zu knacken. Aber als alle endgültig angefixt waren, kam der dritte Teil raus, der sicher eine Weiterentwicklung ist, das bestreite ich gar nicht. Er verlangt nur in der späteren Spielphase eine sehr gute Maschine, damit nicht jede Runde mehrere Minuten dauert. Unverantwortliche Entwicklung.”

Der Zweifler wieder: “Ich bestreite, daß es eine Weiterentwicklung ist, Alpha Centauri war in jeder Hinsicht schon viel weiter. Civ3 ist nicht nur ein Aufrüstungsdruckmittel, es verschleppt auch die Evolution der Strategiespiele, die bis vor zwei, drei Jahren viel rasanter verlaufen ist.”
“Aber es gibt doch Phasen von eher inhaltlichem und von eher technischem Fortschritt, das ist doch völlig normal”, versuche ich eine letzte Attacke. “Ist den Spielentwicklern überhaupt klar, wie süchtig die User sind?”

“Schwer zu sagen”, sagt der Standbetreuer.

“Letztlich schon”, sagt der Einwerfer. “Es wird ihnen aufgefallen sein, daß sie nicht nur ihre offiziellen Szenario-Updates massenweise verkauft haben, sondern sogar Zusammenstellungen lausigster, halbfertiger Szenarien aus dem Netz.”

Der Standmann beharrt: “Nein, das sagt gar nichts, die Leute, die süchtig sind, bauen sich pro Woche selbst zwei Szenarien, die kaufen sich solchen Schrott gar nicht. Das ist auch der Punkt an Civilization gegenüber Alpha Centauri: es gibt einen wesentlich besseren Editor, mit dem jeder selbst neue Spiel mit neuen Regeln bauen kann. Gerade dieser Editor ist bei Civ3 erst zur Reife geracht worden. Daher ist auch die Werbung für die erste Erweiterung gar nicht übertrieben: Play the world! Vor allem: Spiel deine eigene Welt.”

Mir dämmert der Haken: “Moment, würdest du sagen, daß es eine tolle Sache ist, daß jeder in seiner eigenen Welt spielt?

“Ja, es trainiert die Wahrnehmung der wirklichen Welt. Einen Schritt zurücktreten und Varianten ausprobieren. Was wäre, wenn…”

“Dann sind Civheads doch aber auf eine sehr produktive Weise süchtig. Ist das dann überhaupt ein Problem?”

Es wirkt, als würde der Standmann merken, wie sein Fuß in einer Falle feststeckt: “Tja, sekundärer Krankheitsgewinn. Hm, keine Ahnung. Das ist aber bei anderen Suchtgeschichten ähnlich schwer auseinanderzuhalten. Es leuchtet sofort ein, daß es einen Unterschied gibt zwischen den unzähligen Leuten, die von Hasch gut draufkommen und sensibler und friedlicher werden und den paar Kandidaten, die sich wirklich irgendwann das Gedächtnis und den inneren Antrieb wegkiffen. Trotzdem weiß keiner, wo die Grenze langläuft und was zu tun ist.”
“Also würdest du sagen, daß die Suchtgefahr bei Civ nicht größer ist als bei Dope?” frage ich.
“Na doch. Es gibt nur wesentlich mehr kontrollierte User, die mit dem Umstand, daß sie von dem Spiel nicht mehr loskommen, irgendwie schöpferisch umgehen können. Das versuchen wir ja auch zu ermutigen. Entzug ist praktisch unmöglich. Er ist noch nicht vorgekommen.”
Peinliche Gesprächspause. Es läuft leider auch keine Musik, die die Ratlosigkeit übertönen würde. Die Gäste reden leise und sehr zurückhaltend miteinander, die Herumlaufenden sind auch hier überwiegend altägyptisch gewandet.

Ich frage den Zweifler: “Was ist das Ding an Alpha Centauri? Wieso meinst du, das wäre schon weiter gewesen?”

Er wendet sich zum Gehen und winkt mich hinter sich her. In einem Verbindungsgang steht auf einer Kinostuhlreihe sein Rechner und wir nehmen Platz.

“Hier siehst du den Innenpolitik-Bildschirm. Und der zeigt, daß die Editoren bei Civilization Dreck sind, da sie dich die wirklich interessanten Dinge gar nicht ändern lassen. Wieviel Möglichkeiten der Innenpolitik gab es bei Civ?”

“Äh, ich hab es heute zum ersten Mal gespielt, ich denke, ich konnte zwischen sechs oder sieben Regierungsformen wählen und dann noch mit der Verteilung des Handels auf Steuern, Luxus und Forschung ein bißchen dran drehen.”

“Genau. Dazu kannst du in den Städten einige Leute zu Spezialisten machen, die sich dann nur der Forschung oder nur der Steuereintreiberei widmen.”

“Das hatte ich noch gar nicht gewußt.”

Er wandert mit der Maus über das rechte Viertel des Bildschirms, das eine Liste zeigt: “Okay, aber hier ist das alles komplexer gelöst. Du hast eine Modelltheorie, wenn du so willst. Es gibt zehn Variablen, die einen klar definierten Einfluß auf deine Gesellschaft haben. Wachstum gibt das Tempo des Bevölkerungswachstums an, Effizienz zeigt an, wieviel von den erschlossenen Ressourcen wirklich umgesetzt wird und wieviel als Korruption verloren geht und so weiter.”
Jetzt klickt er im linken Teil herum, wobei sich die Werte der Variablen ändern: “Du hast die Möglichkeit, deine Politik zwischen Demokratie, Fundamentalismus oder Polizeistaat umzustellen. Jede dieser Einstellungen verändert die Variablen, jede hat Vor- und Nachteile und ist für bestimmte Situationen sinnvoll und für bestimmte nicht. Wirtschaftlich kannst du zwischen Freier Marktwirtschaft, Planwirtschaft und Grüner Wirtschaft wählen, wiederum werden einige Variablen positiv und andere negativ beeinflußt. Marktwirtschaft erhöht deine Zinserträge und die Handelseinnahmen dramatisch, sorgt aber für krasse Umweltzerstörung und für Aufruhr unter der Bevölkerung. Planwirtschaft erhöht das Bevölkerungswachstum und die Arbeitsproduktivität, verschlechtert aber wiederum die finanzielle Ausbeute. Jetzt zieh dir die Editorenmöglichkeiten hier rein: Wenn du meinst, Planwirtschaft ist doch aber eher mies für die Arbeitsproduktivität, dann kannst du das ändern.”

“Oh ja, darüber bin ich erst belehrt worden.”

“Der Punkt ist also, daß der Civilization-Editor eine richtige Windows-Maske mit schicken Tools ist, daß du hier jedoch viel tiefer in die Funktionen des Spiels hineinkannst.”

Er schließt den Bildschirm und geht aus dem Spiel raus. Während er ein Szenario lädt, erklärt er: “Außerdem sind auch die Spezialisten frei belegbar, welche Faktoren sie wie stark positiv und negativ beeinflussen. Jetzt”, der Ladevorgang ist abgeschlossen, “schau dir mal diese kleine Bastelei an. Ich habe CivII auf Alpha Centauri gelegt. Die Grafik sieht aus wie Zukunft und Centaurioberfläche, ein paar Standardwerte ließen sich nicht verändern, aber sieh dir mal die Innenpolitik an.” Er drückt auf E und der Bildschirm von vorhin ist wieder zu sehen, diesmal jedoch mit leichten Veränderungen. “Ich habe die Variablen umbenannt, aber sie haben noch dieselbe Wirkung. Das wäre auch mal noch fett, naja. Um civilizationmäßig durch die letzten 6000 Jahre zu schlingern, sind natürlich andere Modelle angezeigt. Es war leicht, aus drei möglichen Einstellungen vier zu machen, in dem ich die ‚Nichts‘-Option auch belegt habe. Die Wirtschaftsmodelle sind Tauschwirtschaft, Agrarkultur, Stadtkultur und Industriegesellschaft. Die Politik ist zwischen Despotie, Aristokratie, Republik und Massenpartei wählbar. Dazu Werte und Prinzipien, das hält für die Dauer menschlicher Geschichte bei Laune. Ich kann Kombinationen ausprobieren, aber die ausgewogenen spielen sich am besten, weil der Gegner sie eben auch benutzen kann.”

“Also trainiert auch ein Spiel, bei dem die zukünftige Besiedlung eines fernen Planeten geschildert wird, den Spieler für die Welt, in der er lebt?”

“Wenn er Regeln ändert und sich der Vorgänge bewußt wird. Auch in der unveränderten Fassung ist Alpha Centauri bewußtseinstechnisch der Hammer. Du kannst mit deinen Einheiten Gelände senken oder anheben, um die Niederschläge zu beeinflussen. Die technologischen Fortschritte, die du erzielst, sind gut dokumentierte Zukunftsprojektionen von Quantenmechanik, Retrovirentechnik und magischer Spiritualität. Es wird einem egal Nietzsche um die Ohren gehauen, aber auch originale AC-Sprüche wie: Gott würfelt nicht nur mit dem Universum, er schummelt sogar.”

Ich beobachte zwei ägyptisch verkleidete Mädchen, die sogar Spachtel und einen Zirkel mit sich tragen. Ich bitte meinen Guide um eine Zigarette, aber auch er raucht nicht. “Ich muß mal verdauen gehen”, sage ich und gehe in einem großen Bogen zum Eingang zurück. Meine Fresse, noch mehr Sowohl-als-auch-Gedanken, diesmal aus einer völlig anderen Richtung, der Welt der Strategiespielsüchtigen. Kratze an irgendetwas und du bekommst irgendetwas anderes. Das dir wiederum etwas anderes völlig neu beleuchtet.

Draußen steht der Baß von den Aufschneidern und raucht. Er ist erfreut, als ich ihn anschlauche: “Ich dachte schon, ich bin hier unter den Mönchen.”

“Ägyptische Priesterschaft”, antworte ich und laß mir die Kippe von ihm anstecken. “Es sieht von hier wirklich so aus, als würden sie das Haus gerade erst bauen. Die rennen hier überall mit Handwerkerequipment rum.”

“Tja, authentische Partys sind echt selten”, sagt der Baß. “Ich bin auch eher hier, weil ich die Sache gut finde, die Figuren hier sind mir viel zu korrekt.”

“Ist aber seltsam, ich dachte, der Bewußtseinsflash hätte sie auch lockerer gemacht.”

“Nee, es is eher so, daß sie in die p.c.-Falle getappt sind. Sie haben komplexe Zusammenhänge gezeigt bekommen und jetzt wollen sie bloß nichts mehr kaputtmachen. Hast du sie reden gehört? ‚Macht es dir etwas aus, wenn ich dir eine Frage stelle?‘ Hoho.”

“Schade, das hier in lustig wäre echt cool, glaube ich.”

“Denke ich auch, aber p.c. ist halt echt eine Plage. Später werden uns unsere Kinder fragen, was denn p.c. war und wir werden ihnen erklären, daß es darum ging, politisch korrekt zu sein, was in der Praxis hieß, daß niemand lachen durfte. Außerdem kommt noch dazu, daß es ein ziemliches Geschlechtermißverhältnis gibt. Mittlerweile sind hier zwar auch ein paar Mädels, aber das war bisher nicht so und auch jetzt sind sie eine kleine Minderheit. Und sexuelle Unerfahrenheit sorgt für noch mehr Porzellanladen-Atmosphäre.”

“Und das in der gleichen Stadt, in der gestern so erstaunlich abgegangen wurde.” Ich hebe beschwörend die Arme und gehe wieder nach drinnen. Mir fällt auf, daß ich mich noch gar nicht in den oberen Stockwerken umgesehen habe, also steige ich die Treppen hinauf und sehe weiter überall Laptops und stille Spieler, dazwischen hin und wieder einen Ägypter.

Im dritten Stock ist es plötzlich laut, ein monströses Gedröhn aus Voodootrommeln kommt mir entgegen, aus der Nähe erkenne ich die Backgroundmusik von CivII, allerdings schon ein bißchen durch den Mixer geschoben. Als ich endlich an die Quelle der Beschallung vorgedrungen bin, ist es ruhig, der Remix ist verstummt. Dann flashen an den Wänden Replays des Einsatzes von Atomwaffen im Spiel auf und ein sehr fetter Hardcoresong setzt ein.

There’s a war in the day no peace at night, there’s blood on the hands of man

Im größtmöglichen Zoom wird gezeigt, wie im Spiel drei Handels-LKWs auf ein Transportschiff verladen werden, das in See sticht und sofort von einem Kreuzer versenkt wird. Ein Diplomatiebildschirm ist zu sehen, auf dem ein böser Chinese die Technologie der Massenproduktion fordert und mit der Auslöschung der Zivilisation des Spielers droht.

But the violence won’t decrease unless our murders cease

Die Einblendung: “Der Engländer hat den Waffenstillstand gebrochen” wird weggeklickt, es folgen endlose Attacken offenbar englischer moderner Reiterei auf herumstehende Siedler und Städte.

Well I’ve tried the best I can
I’ve tried to understand
Civilized man so-called civilized man

Die Einblendung: “Engländer aktivieren Bündnis mit den Babyloniern. Babylonier erklären Krieg gegen Ägypter!” wird weggeklickt. Die Ägypter, wohl die Zivilisation des Spielers, werden nun von den Babyloniern angegriffen, wo immer sie in Reichweite sind. Weitere Schiffe werden versenkt, Bewässerungsanlagen zerstört, in einigen Städten werden von Saboteuren Tempel und Fabriken zerstört.

Yes I’ve tried the best I can
But who can understand
Civilized man?

Jetzt erst wende ich den Blick von den Wänden ab und sehe richtige Hardcoreleute, die richtig abgehen und mitschreien, daß sie erfolglos zu verstehen versucht haben. “Ich dachte, ich bin im Porzellanladen”, sage ich mit erleichterter Begeisterung zu einem Mädchen, das so wie ich am Rande der Tanzfläche mitwippt, “aber hier sind endlich auch die Elefanten.”

“Um die zu bauen, muß man erst Polytheismus entdecken. Und p.c. ist für die Softies da unten der einzige Gott.”

“Äh, wow, ja, äh”, formuliere ich meinen Gedankengang dazu, “allein der Umstand, daß es hier Musik gibt…”

“Yeah, sie sind mechanisch ans Geflacker angeschlossen, sie haben vergessen es zu genießen, mit den Sinnen, dem Verstand, der Wut, den Ohren, yeah.”

“Ist ja bei der Suchtgefahr auch nicht ganz so einfach, wie ich gemerkt habe.”

“Ach”, sagt sie verächtlich und schaut mich das erste Mal richtig an. Was ich wohl für einer bin? Weiß ich auch nicht, obwohl ich mit dem ausgeborgten T-Shirt des coolen Aufschneiders gut getarnt bin. Es scheint zu funktionieren, ich bin für würdig befunden, es von ihr erklärt zu bekommen. So ist das nämlich: “Du weißt doch, daß Hardcore das beste Mittel ist, mit krassem Zeug fertigzuwerden. Alles, was du an einer Sache nicht klarkriegst, kannst du rausschreien und raustreten und rausfuchteln. Das hilft bei Drogen genau wie bei Politik und Sex. Aber du mußt den Kanal freilegen.”

Das T-Shirt war offenbar überoptimal ausgesucht worden, obwohl ich mir unter dem Aufdruck Boysetsfire gar nichts hatte vorstellen können. Die energische und sachkundige junge Dame hängt mir plötzlich am Ohr: mit der Zunge: mit den Zähnen: am Ohrläppchen: an der Ohrmuschel: am Trommelfell.

Es ist diesmal mein Satz: “Bereit, wenn Sie es sind.”

Ich läßt von meinem Ohr ab und sieht mich durchdringend an, dann faßt sie meine Hand und zieht mich hinaus.

Auf dem Hof plumpsen wir in eine Ecke, sauber? schulterzuck, bequem? schulterzuck, und sie versenkt ihre Zunge tief in meinen Gehörgang. Meine Augen wandern über das Haus, ich wundere mich über die Form, über die betriebsamen Ägypter überall, von denen hier draußen noch mehr zu beobachten sind, ich weltwundere mich über die Form, die sie dem Haus geben und erkenne eine entstehende gelbe Pyramide, bevor ich die Augen schließe und erst viel später wieder öffne.

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Dieser Text ist ein Remix der “Tramperrechtshilfevereinsbenefizveranstaltung” und stammt aus dem Buch “Aufschneider” aus dem Jahr 2003.

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