13. Tag des Schreibmonats

June 24th, 2003

Ich komme gut voran und müßte im Laufe dieser Woche alle Abtipparbeiten bewältigt haben: Erich Margrander, die Transmitter-Kassette, Waus Interviews, die Videos.

In Sammeldateien bilden sich seltsame Fragekomplexe, zum Beispiel zum Übergreifen des Chaos auf meine Nachforschungen:

Daten und Festplatten gehen verloren, Erich Margrander müllt gerade ein halbes Jahr vorher seine Materialien aus, alle erinnern sich an nichts, zumindest nichts Konkretes, Waus Vater stirbt, Interessenkonflikte um das Archiv und das Buch, daher Zwist, auch beim Vollmond, Informationssperre mit Fragezeichen gegen mich, Konrads Tape geht verloren.

Oder eine Theorie zum Werdegang:

er wurde im Westen ausgelutscht, er steckte in der Verwertung: Medien, Lebensunterhalt, Erwartung, Politik, Geheimdienst – CHAOS
im Osten dann Entspannung und Verankerung: Familie, WG, Freunde, Schuldenerlaß, geregelte Tätigkeit – RAHMEN
Es gab dieses Feindbild so im Osten nicht, Polytechnik war hier keine Subkultur, Ordnung und Chaos viel stärker verwoben: BIDIREKTIONALER PANOPTISMUS

Das könnte noch unerwartete Wege gehen…

Das Wochenende war gut flüssig und lecker, am Sonntag schauten wir “Im Alleingang”, einen bemerkenswerten Film aus der Sowjetunion der späten 80er. Am meisten überrascht rückblickend, wie gut sie die Amis hinbekommen haben; die Szenen, die in den USA spielen, sehen aus, als wären sie in Hollywood gedreht worden.

Außerdem vermischt sich die Theweleit-Lektüre mit der Fragestellung nach der Ekstase in der Musik zu einer grandiosen Ablenkung, über die nachgedacht werden will. Popdiskurs ist so eine jämmerliche Kopfsache, sogar wenn es ums Tanzen geht. Die Körper, die sich bewegen, sind dagegen meist besoffen oder auf Speed und zeigen auch nicht gerade körperliches Spiel oder dergleichen. Es scheint, als wäre die wirklich ekstatische Musik immer wieder verniedlicht und überdeckt worden; wie der gemessene Tanzschritt der Herrschenden dem Veitstanz des Mittelalters entgegengesetzt wurde (nichts über die Kunstfertigkeit dabei!), schiebt sich dieser Weichspülerswing später über den Jazz, werden Schlager und Pop über den Rock’n’Roll gelegt. Herrje, Bon Jovi und Slayer. Scooter und die Basement Jaxx. Limp Bizkit und Refused.
Und die Poplinke flieht eher ins Diskurslastige, als würde sich das widersprechen. Der Stoff, aus dem diese Musik ist, bleibt trotzdem die Ekstase; ob sie freigesetzt und hochgeschaukelt wird oder ob man sie bändigt und “kultiviert” – keiner würde sich dafür interessieren, wenn es nicht mit innerer oder äußerer Bewegung verschränkt wäre.

Da paßt nun Theweleit prima hinein:

>>Es handelt sich um ein Körpergefühl, nicht um Wörter oder Gedanken; nicht um simple Verbote: ‘das darfst du nicht’ (Wer würde sich von solchen Mätzchen abhalten lassen, etwas Verbotenes zu tun?), es ist der Körper, der reagiert, das muskelverkrampfende Zusammenzucken beim Hören eines unschicklichen Wortes, der Eindruck, das Herz bliebe stehen beim Erwähnen des Unaussprechlichen, die harten abwehrenden Backenmuskeln in den kernigen Gesichtern, das hohle Gefühl im Magen und der Pinkelzwang vor Prüfungen, der Schauer des Ekels, der den Körper der alten Jungfer schüttelt beim Anblick des minderjährigen Liebespaares…<< Schöne Aufzählung auch das hier, wobei er sich teilweise zur ironischen Verdrehung des Vokabulars der Freikorps-Leute bedient ('rote' Flut, Schleim, Brei...) um ihre besessene Angst vor körperlicher Vermischung zu bezeichnen: >>Alle diese Vorgänge, die vermischtes Fließen der Körper, am, im, auf, aus dem Körper sind: die Schleime und Fluten der saugenden Küsse, die Sümpfe der Vagina, ihre Schleime, ihren Schlamm, der Schleim und der Brei des männlichen Samens, der Schweißfilm auf Bauch, Schenkeln, in der Afterspalte, der aus zwei Unterleibern eine subtropische Landschaft macht, der schleimige Strom der Menstruation, Feuchtigkeiten an allen Berührungspunkten der Körper und Wärme, die die Körpergrenzen zum Verschwinden bringen, die Fluten des Orgasmus, Samenstrom, die in die Muskulatur fließenden Ströme der Entspannung, der Blutstrom zerbissener Lippen, die klebrige Nässe durchschwitzter Haare, all die flüssigen Wonnen der frühen Kindheit: der warme Pißstrom, der an den Beinen herunterrinnt, die Schlamme und Breie der frischen Scheiße in den Windeln des Kleinkindes, duftende Wärme, in der der Körper sich ausdehnt, der Milchstrom aus der Mutterbrust, das Schmatzen am Schnuller, süße Breie über Hände und Gesicht verteilt, das Lutschen am niemals alle werdenden Daumen, der wohlschmeckende Rotzstrom aus der Nase in den Mund, nicht zu vergessen der erlösende Strom heißer Tränen, der aus der Maske einen Matsch werden läßt, dann wieder ein Gesicht.<< Mjam, mjam.

Leave a Reply

2MWW4N64EB9P