Deutschland vier Minuten kaputt

February 23rd, 2007

Es sind die letzten vier Minuten – eindeutig rationiert von der Negermusik verachtenden Klavierlehrerin, den sadistischen Bullen und dem trinkenden und vergewaltigenden Vater – in denen die herumgeschubste und darüber gedankenlos-brutal gewordene Pianistin aus dem Knast die vorher eine ganze Filmlänge zelebrierte deutsche Welt angreifen darf. Zum Zwecke des Konzerts entflohen, spielt sie nicht, was der nazideutsche Klassikfetisch von Lehrerin und Vater verlangt, sondern das, was diese ausdrücklich verabscheuen und immer wieder “Negermusik” nennen, weil es unsauber ist und die Technik versaut.

Jenny haut auf das Klavier ein, streichelt es, trommelt darauf, reißt die Klaviersaiten an, erzeugt Techno, spielt als Kontrast dazwischen kurze Passagen des angekündigten Stücks, bis all diese verschiedenen Elemente ineinander verschmelzen und sogar die lebenslang abstinente Klavierlehrerin Wein trinkt.

Ist Einsicht der erste Schritt zur Besserung? Soll man sich über einen Film freuen, der einfängt, wie nationalsozialistisch Deutschland nach wie vor funktioniert, wie weiträumig es von sadistischen Zwangscharakteren und Toleranz heuchelnden Kultureinebnern bevölkert ist? Es ist ein Film, in dem die Abweichung genau vier Minuten dauern darf, eine mit der Polizei abgesprochene Gnadenfrist, nach der Jenny, in ihrer sozialen Abgestumpftheit selbst keine Identifikationsfigur, wieder einfährt. Davor tut alles weh: das Kultur-Training, das Auswendiglernen von Weltliteratur, die Zucht, die Zerschlagung jedes Zeichens von Eigensinn, das Getöse von Aufgabe, Pflicht und Sieg, die Folgerichtigkeit, mit der auch die Figuren, die kurzzeitig sympathisch erscheinen, sich noch in derselben Szene als deutschestmöglich erweisen.

Vier Minuten Schlußszene

Aber so hat den Film wohl kaum jemand außer mir gesehen. Etwa die FAZ sah vielmehr “einen Konflikt zwischen einer alten und einer jungen Frau, der am Ende in die Versöhnung der Generationen und – im Zweifel konservativ – in die Anerkennung der Vormacht des Alters mündet.” Für programmkino.de lockt die Klavierlehrerin “eine junge Mörderin ans Piano und damit aus der inneren Emigration”. Und in der Fimwoche zählt natürlich vor allem, daß der “Jin Jue Award und die begeisterte Anerkennung für VIER MINUTEN sich im gesamten asiatischen Raum positiv für das Ansehen des deutschen Films auswirken wird.”

Schellnack sieht zuviel Klischees, Tivoli fand den Film “sensationell gut”, Mehr Licht “absolut packend”, critic.de den “Plot glaubwürdig und den Film berührend”, die evangelische Filmarbeit hält ihn für “ein gelungenes Plädoyer für die Chance, sich aus aufgezwungenen Mechanismen und persönlicher Verschlossenheit lösen zu können.”

Plomlompom fand ihn abgesehen vom Anfang einfach langweilig.

2 Responses to “Deutschland vier Minuten kaputt”

  1. Philip Says:

    hm. mich hat bisher nur das filmplakat resp. die lippen der hauptdarstellerin darauf überlegen lassen, sich diesen film anzusehen. sollte man?

    außerdem; ein witz der rubrik “halb sieben morgens arbeiten müssen”:
    chris kraus will make you jump, jump.

  2. nichtidentisches Says:

    “wie nationalsozialistisch Deutschland nach wie vor funktioniert” naja. Also Kulla.

    Ansonsten fand ich den Film brilliant, wollte ihn auch schon rezensieren, aber mir fehlt der Atem. Finde, es geht hauptsächlich um die Unmöglichkeit einer Bewältigung des Nationalsozialismus. Sehr genial die Reaktion der übrigens hinreißenden Anna Herzsprung: “Soll ich jetzt heulen oder was?” Jegliches Erzählen nähert sich dem Kitsch an, wird brüchig und erstirbt.

    Auch die Kritik an Positivismus und Halbbildung für die der Auswendiglernende Wächter steht, ist adornesk in ihrer Tiefe. Aufklärung bringt eben nichts, wenn sie nicht Erfahrung einbezieht. Wobei die Lehrerin ja selbst in ihrer Abscheu vor Negermusik und Disziplinlosigkeit dem Adorno noch erstaunlich nahesieht.

Leave a Reply

2MWW4N64EB9P