Leben in der DDR

January 7th, 2010

Mir wurde ein ganz bemerkenswertes Buch geschenkt, das sich jenseits von Verherrlichung und Verdammung dem Innenleben der DDR annimmt, die Welt also noch mal aus der Sicht verschiedener DDR-Bürger darstellt, die sich hier zwischen zahlreichen privaten und offiziellen Fotos zu ganz unterschiedlichen alltäglichen wie auch weltanschaulichen Themen äußern; in den Worten der Herausgeberin: “Erinnerungen an etwas, das nie wieder erlebt werden kann.”

Franziska Kleiner Leben in der DDR
Franziska Kleiner: Leben in der DDR

Ich will hier aus den mehr als 100 zumeist anekdotischen Beiträgen – z.B. über Geburtenkontrolle, verbotene Musik, werktätige Frauen, den Gruppenrat, Friedenstauben, Plattenbauten, Christenlehre oder Schichtarbeit – nur zwei Beispiele nennen, die vielleicht die rückblickende Ambivalenz am besten illustrieren. Zum einen der Text “Die Russen kommen” von Karen Matting:

Solange ich denken kann, wohnten wir in einem Neubaugebiet, das gleich an der F96 lag. Diese Fernverkehrsstraße führte nach Herzberg und dann weiter nach Leipzig. Eigentlich war dort immer tote Hose. Außer es ging mal zufällig die Friedensfahrt durch unser Städtchen oder die Russen fuhren.

Mein Kinderzimmer lag zur Straße raus. Es hatte ein Fenster, das vom Boden bis zur Decke reichte. Wenn ich im Bett lag, fuhren oft die Russen vorbei. Eine Kolonne von mindestens 100 Autos schob sich laut brummend über die Straße. Dabei wanderten die Autolichter anheimelnd durch mein Kinderzimmer. Das war für mich der Ausdruck des vollkommenen Friedens, der absoluten Geborgenheit. Zufrieden eingekuschelt schlief ich ein.

Zum anderen der Text von Günter Herlt, überschrieben mit dem Lenin-Zitat “Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist”:

Der Sozialismus hat doch auf jenem Drittel der Erde, wo er gesiegt hatte, seine Fahnen eingerollt. (…) Das lag aber nicht an Karl Marx. Der wollte nie der Erfinder des Marxismus sein. Der entdeckte durch gründliche Analyse die Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise, die Entstehung von Wert und Mehrwert, das Wesen der Ausbeutung und Profitmaximierung, die tiefen Klassengegensätze zwischen Bourgeoisie und Proletariat, dem Grundwiderspruch zwischen dem zunehmend gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem engeren Zirkel der privatkapitalistischen Aneignung. (…) Das war nie gedacht als Bibel zum Glauben und Nachbeten, immer als Werkzeugkasten zum Weiterarbeiten an den konkreten sozialhistorischen Existenzbedingungen.

Das Buch kann ich jedem empfehlen, der sich heute noch damit auseinandersetzen will, wie die DDR funktioniert hat, wie die Mehrzahl ihrer Bewohner die Welt sah und welche Verzerrungen es in der Wahrnehmung bis heute gibt. Keineswegs ersetzt das allerdings die Lektüre derjenigen Stimmen, die damals nicht zu Wort kamen, oder gar derjenigen, die damals und heute nicht ins Bild passen.

6 Responses to “Leben in der DDR”

  1. cony Says:

    “Erinnerungen an etwas, das nie wieder erlebt werden kann.”
    das läßt ja kaum auf den inhalt de buches schließen. vor 5sek war auch etwas, das ich mmh wahrscheinlich nie wieder erleben kann. verdammte mistekiste. ich mein, aus dem satz schreit die nostalgie nur so heraus. nur die kritik ist ja hier an die falsche person gerichtet 🙂
    “… die vielleicht die rückblickende Ambivalenz am besten illustrieren.”
    warum illustrieren denn die beispiele eine ambivalenz besonders gut. wo liegt für dich die besondere qualität dieser beispiele? das erste hätte auch jedes x-beliebige system als rahmen haben können. ob jetzt milizen oder russen im rahmen eines friedenstags oder so am heim vorbeirollen ist für das kindliche herz glaube ich eher irrelvant. aber schön wie du die ambivalenz hier personifizierst 😉

  2. Shigekuni Says:

    “derjenigen Stimmen, die damals nicht zu Wort kamen, oder gar derjenigen, die damals und heute nicht ins Bild passen.”

    Welche meinst du? Ich schreibe gerade an einem längeren essay über DDR LIteratur, also besonders Irmtraud Morgner (http://shigekuni.wordpress.com/2008/06/22/emanzipation/), und suche gerade nach solchen Stimmen. Echt, also nach spätestens fünf nonfiction TIteln über die Epoche gehen einem die drei Narratives die es über diese Zeit gibt einfach nur noch auf den Sack.

    Ich weiß du bist beschäftigt, aber ich warte gerne. Holding my breath.

    Grüze

  3. Aktionskletterer Says:

    Als angelernter Bundesbürger hat man da stattdessen Amisoldatenbüchsenkuchen im Kopf und wie es war als Franz Josef Strauß starb.

  4. toll Says:

    das reiht sich nahtlos in die restlichen “ostenverherlichungsbücher” der fr. Kleiner ein.

    bähhhhhhhhhh

  5. Wolfgang Says:

    Sicher hatte die DDR gute Seiten. Die jetzt aber in einem Buch verherrlichen zu müssen (mal wieder), sind doch langsam enorm nervig. Denn die Schattenseiten haben für mich rückblickend definitiv überwogen. Vor allem in Betracht dessen, welch Leben heute möglich ist. Das ist kein Vergleich und daher braucht es derartige Bücher NICHT.

  6. classless Says:

    Kraß – personalisierter Ost-Spam!

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