Richtige Stellung (3): WikiLeaks & Wau Holland

July 29th, 2011

[Sommer & auf Arbeit: Zeit für eine Postingreihe mit liegengebliebenen Korrekturen & Bemerkungen – “richtig” heißt: so seh ich’s wirklich, “Stellung” heißt: Stellung im Produktionsprozeß und in den Auseinandersetzungen statt Unterstellung]

Heute vor zehn Jahren starb Wau Holland, einer der Mitbegründer des Chaos Computer Club, dem ich erst kurz vor seinem Tod viel zu wenige Male begegnet bin und den ich im Grunde erst beim Verfassen der posthumen biographischen Annäherung “Der Phrasenprüfer” von 2003 näher kennenlernte. Mit dieser finde ich mich nun wiederum im gerade erschienenen “Julian Assange – Die Zerstörung von WikiLeaks? Anonymous… Info-Piraten versus Scientology, Pentagon und Finanzmafia” von Gerd G. Rueger wieder. (Dazu z.B. Moblog: Erstes interessantes Wikileaks-Buch?)

Der Zusammenhang besteht vor allem darin, daß die Wau-Holland-Stiftung für Wikileaks nach den weltweiten Kontensperrungen zum wichtigen Geldsammler wurde und ich das bisher einzige Buch über Wau Holland geschrieben habe, das Rueger seitenlang als Quelle sowohl zu Wau als auch zum von mir ausführlich interviewten und letztes Jahr verstorbenen Andreas Pfitzmann verwendet.

So schön es ist, wenn nach so langer Zeit mal ein paar Gedanken und Funde aufgegriffen werden, sehe ich mich doch vereinnahmt und ordentlich verzerrt wiedergegeben. Mein Buch käme “aus dem literarischen Untergrund der Hackerszene”, was auch immer das sein soll, und sei “im kleinen Computer- und Drogenverlag Grüner Zweig” erschienen, der aber Werner Pieper & The Grüne Kraft heißt und abgesehen von den Hackerbibeln thematisch wie praktisch recht wenig mit Computern am Hut hat. Ich selbst wiederum werde als “Betreiber des Internet-Literaturprojekts www.systemausfall.de” vorgestellt, was sich auf meine seit Jahren nicht mehr aktive alte Website bezieht, ich würde “aus der Ostberliner Wendegeneration” stammen und meine “Werke leben vom ungeheuren Lebens- und Lesehunger ostdeutscher Freidenker nach dem Mauerwegfall”. Teilweise irgendwie schmeichelhaft, aber wirklich nicht in meinem Sinne: für mich ist am Systemausfall ’89/’90, den ich in Thale am Harz erlebte, im Rückblick die Zeit zwischen den deutschen Staaten und die vorübergehende Hoffnung auf eine sozialistische Radikalisierung interessant, wohingegen ich in der Maueröffnung durch die SED ein Mittel sehe, durch das eben diese Radikalisierung abgewürgt werden sollte und in dessen direkter Folge sich der nationale Taumel bahnbrach, dem schon bald zahllose Menschen zum Opfer fielen.

Über all dies hätte ich dennoch gut und gern wegschauen können, auf Seite 70 klappte mir dann aber doch der Unterkiefer herunter. Dort heißt es in bezug auf einen Exkurs im “Phrasenprüfer” mit dem Titel “Inverser Panoptismus” (eine Begriffsprägung von Thomas Barth zur Illustration des Selbst- und Weltbildes der Hackerszene und ihres Kerns, der Umkehrung der Foucaultschen Überwachungssituation):

>>Der folgende Exkurs über Utopiemodelle der Hackerszene greift Thomas Barths Studie auf und stammt aus der Wau-Holland-Biographie “Der Phrasenprüfer” (Kulla 2003, 29) und [!] wurde mit einem Aufsatz aus der Fachzeitschrift “Informatik Forum” erweitert (Barth 1996).<< Was folgt, hat kein erkennbares Ende, geht also nahtlos in Ruegers Text über, enthält kaum etwas von meinem genannten Exkurs, dem es entstammen soll, und ist zwar um inhaltliche Details (vermutlich aus Barths Text) ergänzt, die meiner Darstellung fehlten, läßt aber vor allem meine Pointe aus: den übermoralischen Standpunkt, der sich aus dem “Watching them watching us” und der anonymen Aneignung von Überwachungs- und Kontrollmitteln ergibt. Dieser Punkt ist mir wichtig, gerade angesichts der heutigen, von Rueger breit vorgestellten Hackerassoziation Anonymous, bei deren demokratieidealistischer Zielauswahl man immer nur auf Umsicht hoffen kann, mehr noch aber mit Hinblick auf jenen NPD-Hack, bei dem aus Stolz auf Deutschland und Sorge um dessen Ansehen u.a. die Spenderliste der Nazipartei öffentlich gemacht wurde.

Schon in dieser dubiosen Anverwandlung meines Textes, aber auch anderswo im Buch wird der “Inverse Panoptismus”, der für mich ja vor allem ein zentrales Problem ist, zur Utopie, zum Gesellschaftsentwurf, auf den hingewirkt werden sollte.

In meiner Kritik an Wikileaks bzw. an seinen Anhängern (Vortragsslides) stellte ich stark vereinfachend die “Renegaten” den “Apostaten” gegenüber, also diejenigen Hacker oder Aktivisten, die das System reparieren und optimieren wollen, denjenigen, die es verändern und überwinden wollen. Ich denke, ich habe keinen Zweifel daran gelassen, mit welcher Gruppe ich mehr sympathisiere.

Jetzt müßte ich diese Unterscheidung offenbar auch für andere Kritik an Wikileaks bzw. Assange treffen, die in Gestalt von Ruegers Buch als Rettung der von “Geldelite” und “Finanzmafia” geknechteten Wirtschaft und als Wiederbelebung und Ausweitung der von “Machtelite”, Krieg und Korruption zerrütteten Demokratie daherkommt, also als Bilderbuchbeispiel für die “Renegaten” im Sinne meines Wikileaks-Vortrags wie auch als ebenso typisches Beispiel für die Bewohner der “Republik der Netzdynamiker”.

Das Buch, sprachlich wie inhaltlich eine Mischung aus Spiegel Online und der Globalisierungskritik von vor zehn Jahren, ist auch ansonsten bei aller lobenswerten Materialfülle wirr und voller Stellen, bei denen Rueger sich schlicht versteigt. Zu Pfitzmann heißt es, er hätte “sogar” geglaubt, “die USA wären ein demokratischer Staat.” Wau sei zum Internet-Alexander Assange der “Aristoteles, Diogenes und Sokrates in einer Person”.

Ich lege es jetzt besser beiseite und denke an Wau.


“Der Phrasenprüfer” bei amazon, bei The Grüne Kraft.

12 Responses to “Richtige Stellung (3): WikiLeaks & Wau Holland”

  1. letzte Zeile Says:

    Genau, vergiss das doofe Buch. Heute geht’s um Wau!

  2. lasterfahrerei Says:

    “im Rückblick die Zeit zwischen den deutschen Staaten und die vorübergehende Hoffnung auf eine sozialistische Radikalisierung interessant, wohingegen ich in der Maueröffnung durch die SED ein Mittel sehe, durch das eben diese Radikalisierung abgewürgt werden sollte”

    das hackt doch aber sehr. meinst du die ganzen leute die die reisefreiheit gefordert haben und in der zeit rübergemacht haben waren quasi eine verdeckte SED aktion um eine ominöse sozialistische radikalisierung abzuwürgen? was war dann die radikalisierung eigentlich?
    ich glaube eher das die radikalisierung erst nach der maueröffnung scheu zu gedeihen begann, dann aber von der BRD aus einfach abgewürgt wurde. die 40 jahre DDR hat nun ja auch naive menschen produziert die einfach von glassperlen händlern über den tisch gezogen werden konnten.

  3. n99 Says:

    Apropos System reparieren und optimieren versus verändern und überwinden, drei der letzten WikiLeaks Tweets:
    “It is clear that the rule of law is breaking down all over the West. Many are now held for days or years without charge.”
    “As such we can drop any pretense of legitimate governance. It is just one wretched, scheming network of patronage and power.”
    “It is not reformable, although it might be destroyable. We must create our own networks of trust and authority and live within them.”

  4. classless Says:

    @ lasterfahrer

    So hat halt jeder seinen Lieblingsfeind 😉

    Ich bestreite nicht, daß es dieses Nationale vorher schon gegeben hatte, sonst wäre es ja auch kaum möglich gewesen, daran so wirkungsvoll zu appellieren. Aber für mich bleibt zwischen dem 4. November auf dem Alexanderplatz und dem 9. November, als die Mauer ja mit der Intention geöffnet wurde, genau ersterem den Wind aus den Segeln zu nehmen, ein großer und nicht nebensächlicher Gegensatz bestehen. Die SED wollte sich ihre Macht sichern und hat sich dabei völlig verkalkuliert, sie hat damit aber nicht nur sich selbst zerstört sondern auch den Radikalisierungen, die in Gestalt von Kritik schon stark sichtbar waren und später immerhin noch zur Betriebsrätebewegung und der VL reichten, frühzeitig die Grundlage entzogen.

  5. classless Says:

    @ n99

    Das ist ja auch kein Feindbild oder sowas – wenn der Versuch unternommen wird, sich gegen die herrschende Ordnung zu organisieren und sich ihr zu entziehen, spreche ich vom erstmal vollzogenen “Glaubensabfall” (der übrigens dennoch nicht irreversibel ist) – und das traue ich prinzipiell auch allen zu. Ich bleibe aber mißtrauisch gegenüber der Figur des enttäuschten Gläubigen, die nach Verschärfungen sucht, um das Bestehende bzw. ihr Ideal davon in anderer Form zu retten.

    Mein Ansatz besteht ja darin, Kriterien dafür zu entwickeln, woran sowas festgemacht werden kann, wo da die Linien zu ziehen sind und wie das jeder auf sich anwenden könnte.

  6. cooper Says:

    Es ist echt widerlich, dass auch noch ein Zitat aus Ruegers Buch von heise im Artikel über Waus 10. Todestag benutzt wird: “Sein Tod an den Folgen eines Schlaganfalls am 29. Juli 2001 hat sicher dazu beigetragen, die deutschen Hacker im und um den CCC zusammenzuschweißen und sie nach dem 9/11-Crash energischer als anderswo in die großen Propagandaschlachten um den Überwachungsstaat zu führen”

    Ich habe mich auf jedenfall nach Waus Tod vom CCC entfernt. Vielleicht hat es ihn ja zusammengeschweisst, aber das ging sicher einher mit einem gewissen Tunnelblick und Beschränktheit der Mitglieder. Sicher tue ich damit Einigen Unrecht und kann auch nur aus meinen Congresserfahrungen folgern, aber es gab doch einen enormen Unterschied zwischen den HAKP Congressen und den heutigen Events, die mehr an eine nerdige re:publica erinnern.

  7. cooper Says:

    Sorry, für das CCC bashing wieder. Gehört hier auch eigentlich gar nicht hin.

  8. b. Says:

    Oh, Kulla will wieder Linien ziehen. Da wird’s ungemütlich…

  9. classless Says:

    Du bist doch nur sauer, weil du immer nix vonkriegst!

  10. Donauwelle Says:

    @n99 – 1989 war nur ein Fehlstart

  11. Gerd R. Rueger Says:

    Me@ Culp@!
    Hiermit entschuldige ich mich ausdrücklich bei Autor Daniel Kulla für die ungenaue Darstellung seines Werkes.
    Das Kapitel zum “Inversen Panoptikum” sah zuerst ganz anders, Kulla-näher aus; aber dann wurde mir neue Literatur dazu zugespielt -ich überarbeitete es ein paarmal und so bliebs dann im Buch,
    nicht die Kulla-Version, sondern die vom Original-InvPanoptismus:
    http://anders-verlag.de/page4.php

  12. Gerd R. Rueger Says:

    @cooper
    eine merkwürdige Sichtweise brodelt da:

    —Es ist echt widerlich, dass auch noch ein Zitat aus Ruegers Buch von heise im Artikel über Waus 10. Todestag benutzt wird: “… Ich habe mich auf jedenfall nach Waus Tod vom CCC entfernt… mehr an eine nerdige re:publica erinnern—

    nicht ganz falsch beobachtet, aber warum so wütend darauf?
    Nerds als Medienfigur -das kann man als Reaktion der Mainstremmedien auf die lange Arbeit der Hackerkultur sehen -die Machtelite muss nun reagieren; das ist gut. Aber ihre Strategie ist teile und herrsche: einige kreuzigen, ins Abseits schieben usw. einige assimilieren.
    Dagegen kämpfen, nicht auseinandertreiben lassen wäre sinnvoller, als sich selbst ins Abseits begeben und schmollen, denke ich jedenfalls.
    Ein CCC mit 200 Leuten im Bürgerhaus Schnelsen/Hamburg muss anders sein als einer 20 Jahre später mit 4000 Leuten in Berlin. Da kann man auch viel Gutes drin sehen!

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