Christian Heller, Post-Privacy und die Selbstauflösung der Menschheit

November 16th, 2011

Außerhalb seines just erschienenen Buches “Post Privacy: Prima leben ohne Privatsphäre” habe ich Christian “plomlompom” Heller, kurz Plom, nie sonderlich oft in einem allgemeineren Sinn “wir” sagen hören; charakteristisch für ihn schien mir immer eher seine halb-ironische, halb-mitleidige Formel “ihr Menschen…” Von denen nimmt er sich in Antizipation des Ziels der dereinst erhofft möglichen Selbst-Volldigitalisierung, zur Teilnahme an der sogenannten Singularität, selbst gern aus. Er hält Menschen für vielleicht schon überholt, auf jeden Fall aber auf dem Weg zum Auslaufmodell, das bald von schlaueren Menschmaschinen, Maschinenmenschen oder auch schlicht Maschinen abgelöst werden wird und auch soll.

Grundlage dieser Selbstdigitalisierung ist die lückenlose Dokumentation der eigenen Gedanken, Taten und in Ploms Fall z.B. auch der Lektüre und der Bargeldausgaben.

Innerhalb seines Buches fehlen einerseits derartige Verweise, weshalb ich hoffen muß, hier nicht zu viel ausgeplaudert zu haben; andererseits und stattdessen ist ständig von einem “wir” die Rede, das sich kaum genau bestimmen läßt, das manchmal auf alle Menschen, die Bewohner Europas und Nordamerikas oder die Bewohner meines Lieblingslands abzielen könnte, meist aber nicht besonders viele Menschen zu umfassen scheint. Und diese Menschen “erfinden sich” relativ häufig, an einer Stelle gleich zweimal in aufeinanderfolgenden Absätzen. Schließlich erfinden die Menschen nicht nur sich selbst, sondern die Welt, und zwar neu: “Durch die Entfesselung der Daten wird das Netz zu einem großen Spielplatz, in dem wir die Welt immer neu erfinden.” (S. 57)

Mit diesem unspezifischen, aber emphatischen “wir” läßt Plom durchblicken, daß er sich nicht sicher ist, wie weit er noch zur Menschheit dazugehört oder dazugehören will bzw. wie weit die Menschheit schon seinem Pfad hin zur Digitalisierung folgt.

Dazuzugehören scheint er, dazu gleich mehr, zunächst hinsichtlich seiner Idealisierung der herrschenden Gesellschaftsordnung, aber auch in Bezug auf die Themen, bei denen er zwar der Zeit voraus wirkt, aber eben nur genau die Avantgarde längst um sich greifender Entwicklungen darstellt: zum einen seine Technikbegeisterung und zum anderen die Idee der Selbstabschaffung der Menschheit in vorauseilender Anpassung an die Maschine. Das Kapital ist diese gesellschaftliche Maschine, von der die meisten Menschen glauben, daß sie in ihrem Dienst stünde oder zumindest wieder in ihren Dienst zu stellen wäre, der sie sich aber immer vollständiger und automatischer unterwerfen und deren Anforderungen die Menschen am ehesten entsprechen könnten, wenn sie selbst zu Maschinen werden würden.

>>das 20. Jahrhundert
der Anbruch der Maschinenherrschaft
Menschen werden Maschinen
und zerstören mit Menschen und Maschinen
Menschen und Maschinen
und hören nicht mehr damit auf
<<
(“Alles muss raus”)

Technikidealisierung

Plom verehrt die Technik und überhöht sie entsprechend vielerorts im Buch, wenn er etwa dem Internet Willen, Entscheidungsfähigkeit und erwachendes Bewußtsein zuschreibt (“Das Netz will alles lernen über diese Welt, in die es hineinwächst, in der es langsam zu Bewusstsein gelangt.” S. 8, “Wozu sie [die Daten] werden, das entscheidet die Maschine, die sie liest und verarbeitet.”, S. 48); wenn er dem Netz ein zweckoptimales Funktionieren attestiert (“Im Netz dagegen erreicht jede Information nur den, der sich für sie interessiert.”, S. 10); wenn er in Google-Software Spontaneität erblickt (“So kann ich Google beispielsweise fragen, wann im historischen Vergleich welches Wort in der Weltliteratur wie häufig vorkommt – und Google organisiert mir die Datenmenge aller Büchertexte spontan zu einem Diagramm.” S. 55); wenn er den Abschnitt “Die Entfesselung der Daten” mit dem Dekret eröffnet “Und was lässt sich in Zahlen übersetzen? Alles.” (S. 47); wenn er sich an der scheinbaren Unbeherrschbarkeit des Netzes berauscht (“Um nur einen relvanten Bruchteil davon [Urheberrechtsverstöße] zu ahnden, müssten ganze Bevölkerungsschichten vor Gericht gestellt werden.” S. 21 – oh je! War On Drugs? Rassismus? Abschreckung?). In ähnlicher Netzanarchie-Begeisterung schreibt Plom zu Wikileaks-Informant Bradley Manning: “Ein einziger Saboteur scheint zu genügen, um die Datensicherheit der Vereinigten Staaten zu zerstören…”, und spricht trotz der nicht-geheimen Klassifizierung fast sämtlicher von Manning geleakter Daten von “vertrauliche[m] Material” und auch von der “Veröffentlichung von 90 000 internen, geheimen Dokumenten zum Afghanistankrieg.” (S. 23)

Passend zu dieser ganzen Projektion und Technik-Überschätzung wird im gesamten Buch bezüglich der weiteren Entwicklung eine Art Finalismus gepredigt: daß der Kampf um die Privatsphäre ohnehin schon so gut wie verloren sei, nur als Rückzugsgefecht noch einen Sinn haben könnte und daß “Privatsphäre, die einmal ans Netz verloren ist, (…) sich nicht wieder zurückgewinnen” läßt. (S. 24)

Demokratieidealisierung

Während er mit seinem Selbstdigitalisierungsvorhaben und seiner Überhöhung von Technik und Künstlicher Intelligenz scheinbar Avantgarde ist, bleibt er den Ideologien seiner lieben Mit-Auslaufmodelle ganz offensichtlich stark verhaftet, was besonders für seine Idealisierung der bürgerlichen Herrschaft gilt. Ja, ich greife zu Gegenstandpunkt-Vokabular und sage: Demokratieidealismus!

Das äußert sich ganz klassisch in Widersprüchen, wenn es erst heißt: “In einer Demokratie gehören die Daten des Staates dem Volk, nicht einem König.” Und direkt danach: “Jeder Bürger sollte sich aus den Daten, deren Erzeugung mit seinen Steuern bezahlt wurde, sein eigenes Bild machen können…” (S. 56) Ein paar Seiten später heißt es dann schon wieder: Wenn wir den Einzelnen ermächtigen wollen”, dem ja in der Demokratie eigentlich bereits alles zustehen soll, “dann sollten wir…” usw. usf. (S. 62)

Hinzu tritt eine verstörende Verwechslung bzw. Gleichsetzung von Bürokratie mit “rule by law”: “Die bürokratischen Abläufe müssen einer großen Menge von Fällen mit den gleichen Regeln begegnen – so verlangt es die Herrschaft des Gesetzes.” (S. 49) Kurz darauf wird nochmals voraussetzungslos von der “gerechten (also: gesetzestreuen, abstrakt geregelten) Verwaltung einer Bevölkerung” gesprochen, ohne daß klar wäre, warum es diese Zielsetzung gibt oder wie Verwaltung und Gerechtigkeit historisch oder funktional zusammenhängen.

Sein Bild von der modernen Demokratie paßt Plom konsequent an sein Ideal von ihr an. “Im 20. Jahrhundert demokratisierte sich die Privatsphäre”, schreibt er. “Erstens wurden der Unterschicht die Mittel zu einer Privatsphäre geschenkt” und zweitens “lockerte sich die patriarchale Unterwerfung von Frauen und Kindern im Privaten.” (S. 42) Die Verbesserung des Lebensstandards der beherrschten Klassen ist hier kein Ergebnis von Kämpfen und Obstruktion, sondern ein Geschenk, und auch das Partiarchat “lockerte sich” einfach so.

Die Gegenwelten finden sich in der Geschichte (“Das “Private” ist heute beraubt um seine Erzählungen von der weiblichen Schutzbedürftigkeit und der sittlichen Idylle…” S. 45) oder in den “totalitären” Systemen (“Und tasächlich finden wir auch im Sowjetkommunismus und im Nationalsozialismus den Anspruch radikaler öffentlicher Eingriffe in das, was zuvor als privat galt.” S. 43) oder in beiden (Das Private “ist auch beraubt um die totalitären Systeme, gegen die es sich als Freiheitswert profilieren könnte.” S. 45)

Die Blindheit gegenüber der Funktion von Demokratie als Herrschaftsform des heutigen Kapitalismus geht einher mit einer Idealisierung eines ihrer wichtigsten Herrschaftsmittel, der Wissenschaft: “Theorien beweisen sich an der Genauigkeit ihrer Vorhersagen. Liegen sie falsch, gestehen sie ihr Scheitern demütig ein. Dann räumen sie das Feld zugunsten einer besseren Theorie.” (S. 62) Hier gibt es keine Ideologie, kein falsches Bewußtsein und keine Paradigmen. “Die Wissenschaft lebt von der Transparenz ihrer Theorien. Dass Theorien für jedermann einsehbar, überprüfbar und kritisierbar sind, führt zu ihrer fortwährenden Verbesserung.” (S. 137) Ausbildung, Zugang zu den Forschungseinrichtungen und -geräten sind demnach keine Beschränkungen.

In Ploms Welt battlen sich Ideale und Entitäten. Ein “Plan zur Bekämpfung der Netzanarchie (…) würde zentralen Gewalten die ausufernde Überwachung des Netzes und der Computer der Nutzer ermöglichen. Datenschutz aber sieht in der Überwachung gerade sein Feindbild. Doch Kontrolle der Daten braucht Werkzeuge, um sie durchzusetzen.” (S. 87) Mit “staatlichen Mitteln schützend einzugreifen, verbittet sich der Liberalismus als Angriff auf die Freiheiten, für die er einsteht…” (S. 96)

Seltsame An- und Abwesenheit von Herrschaft

Neben dem Datenschutz und dem Liberalismus ist die am häufigsten auftretende Entität im Buch die “Macht”. Ihre recht klassisch postmoderne Verhandlung, in welcher Herrschaft, verschoben in den Begriff der “Macht”, zur bloßen Unerfreulichkeit wird, zur fürs Funktionieren dieser Gesellschaft eigentlich überflüssigen, aber einstweilen irgendwie noch notwendigen Schikane, sorgt für eine seltsame An- und Abwesenheit von Herrschaft und Klassenkampf im Buch. Einerseits werden der “Macht” und dem Staat mit seinen Gewalten verschiedene Kontroll- und Zwangsmaßnahmen zugeschrieben (“Die Diskriminierung ist nämlich nicht einfach die des Datenmediums, sondern die des polizeilichen Alltags.” S. 101) und diese zumindest unterschwellig kritisiert (“Die Sicherheit, nicht überwacht zu werden, erhält nur der, an dessen Überwachung der Staat kein ausreichendes Interesse hat.” S. 79). Andererseits macht diese Beschreibung stets vor systematischeren Herrschaftstrategien und der Frage nach ihren Ursachen halt, zuweilen ist krasse Verharmlosung von Herrschaft zu lesen.

Plom gibt Datenschützer damit wieder, daß die zunehmende Verdatung “den Menschen in bloßes Material” verwandelt, “den Weg zu seiner gefühllosen Verwertung und Vernichtung” bereitet. (S. 76) Das machen jedoch das Kapital bzw. die Warenform bzw. die ihr zugrundeliegende Herrschaft schon seit sehr viel längerer Zeit. Doch nicht nur das Kapital hat einen solchen abwesenden Auftritt, auch die Arbeit bzw. die Arbeiterbewegung tritt im Buch mehrmals auf und Plom biegt an der interessantesten Stelle jedesmal ab. Ursprünge der modernen Überwachung sieht er in Benthams Panopticon, dessen Attraktivität u.a. darin bestand, in der “Fabrik, wo das Geschwätz der Arbeiter untereinander die Arbeit aufhält oder gar in Streikverabredungen mündet”, ihre “Bänder der Solidarität untereinander lösen” zu können. (S. 101) Die Sprache, in der Plom dieses Thema behandelt, scheint mir übel relativierend und auch herrschaftsaffirmativ:

>>Ein bürgerliches Unbehagen des 19. Jahrhunderts galt den Proletariermassen, den Horden der Unterschicht. Mit sozialen Wohnprojekten sollte nicht nur die Verwahrlosung [!] der Elenden unterbunden werden, sondern vor allem auch ihre Vermischung, ihre Zusammenballung. (…) Das Zivilisieren der Arbeiter bedeutete: sie schweigen lehren und sie voneinander trennen. (…) Das eigene Häuschen sollte die Arbeiterfamilien erziehen. Der Arbeiter sollte lernen, sich als getrennt von seinem Nebenmann zu betrachten, statt als Teil derselben Schicksalsgemeinschaft [!] im Klassenkampf.<< (S. 120)

Doch Trennung und “Zivilisierung” der Arbeiter dienten in Ploms Darstellung ausschließlich dazu, ihren gewerkschaftlichen Zusammenschluß zu verhindern. (“Löhne lassen sich drücken, wenn unklar ist, wo der Durchschnitt liegt.” S. 133) Es mag stimmen, daß es für Tarifverhandlungen nützlich ist, die Arbeiter voneinander abzusondern, doch einerseits besorgt das ihre konkurrierende Stellung auf dem Arbeitsmarkt teilweise selbst und andererseits ist der zufriedene, leistungsbereite Arbeiter systemimmanent auch wichtig; nur angesichts seiner systembedrohenden Rolle wird im Zweifelsfall lieber auch seine Unzufriedenheit riskiert. Für Plom schwächt Vereinzelung jedoch lediglich “die Verhandlungsposition”, was zwar sicher eine große Rolle gespielt hat, neben der viel größeren und grundsätzlicheren Bedrohung durch Arbeiterrevolutionen jedoch ein nachrangiges Problem gewesen sein dürfte.

Doch bis auf ganz wenige Stellen fehlt die Option des Kampfes sowieso, etwa wenn er für eine Überwachungsdystopie als “einzigen Weg, den furchtbaren Strafen – Arbeitslager, Folter, Tod – zu entgehen” bestimmt, zu “lernen, das eigene Verhalten immerwährend und so tiefgreifend der erwünschten Norm anzupassen, dass der mögliche Zuschauer nichts zum Bestrafen findet.” (S. 100)

Flucht nach vorn: Die “Transparente Gesellschaft”

Angesichts dieser für ihn eher diffusen, aber irgendwie größtenteils sinnvollen und hier und da sogar ganz netten Macht plädiert Plom schließlich für die Flucht nach vorn, nämlich in die von David Brin (übrigens ein Säkularisierer des Tikkun Olam) konzipierte “Transparente Gesellschaft”. Dessen Idee, daß durch die Entwicklung und Verbreitung von Kameras und Netzwerken nur der Kern menschlicher Privatsphäre erhalten bleiben wird (“He feels that this core privacy can be saved simply because that is what humans deeply need and want.”) und sich daher die Frage nach der Verwendung all dieser Kameras stellt, wird von Plom totalisiert: “Wenn die Überwachung schon total wird und alle erfasst, dann soll sie wenigstens auch allen zur Verfügung stehen. Dann lässt sie sich nämlich nicht nur von der Macht [!] gegen uns [!] einsetzen, sondern auch von uns gegen die Macht. Die totale Überwachung wird zur totalen Transparenz.” (S. 111)

Und diese Wendung schwächt bei Plom “die Privatsphäre genauso wie das Gewaltmonopol” (S. 112), da “in einer Transparenten Gesellschaft (…) Anwälte, Anarchisten und Sträflinge an der Überwachung der Polizisten” teilnehmen und “manches Durchgreifen sicher anders” bewerten (S. 113). Als gäbe es zwischen Informationslage und Verurteilung keinen Unterschied und als würden nicht auch z.B. Nazis an der Überwachung beteiligt sein, soll die totale Entblößung (die Brin ja offenbar gar nicht fordert) die Machtverhältnisse kippen.

>>In einer Transparenten Gesellschaft keine Privatsphäre zu haben heißt: zu allen Seiten hin angreifbar sein, gegenüber zahlreichen Mächten. Das jedoch in einer Welt, in der sich verschiedene Wissensmächte gegenseitig im Zaum halten können. In der es keine unangreifbar einzige Wahrheit gibt, sondern so viele Wahrheiten wie Augen, Ohren und Köpfe.<< (S. 116)

Offenlegung der Verhältnisse ermöglicht für Plom Solidaritäten mit größerer Reichweite. Das folgert er aus der Existenz von “Neigungsgemeinschaften” im Internet, die “sich an wesentlich mehr ausrichten [können] als nur entlang gemeinsamer Sexualfetische oder Musikvorlieben: nämlich auch an politischen Forderungen.” (S. 134) Nur ist z.B. Armut keine Neigung, und auch sonst scheinen Plom die völlig unterschiedlichen Wirkungen von Transparenz je nach Lebenslage nicht klar zu sein: für den Typen im Späti oder den Dealer oder die Antifaschistin oder die renitente Psychiatrisierte bleibt sie zumeist kreuzgefährlich. Und wenn er fragt, wie “ein größerer Terroranschlag vorbereitet werden [soll], wenn nicht im Geheimen” (S. 113), drängen sich mir die Gegenfragen sofort auf: Und eine militante Aktion? Ein Deal? Ein Aufstand? Eine Revolution?

Aber selbst bezüglich erwähnter Neigungen ist Plom blauäugig oder verharmlosend, wenn er schlicht meint: Je mehr Daten ein Nutzer ins Internet von sich eingibt, desto “mehr Besucher werden in seinem Profil Interessantes finden.” (S. 9) Sie finden dort zum Beispiel Ausschlußkriterien oder Informationen, mit denen sie andere erpressen können oder die ihnen anderweitig einen Konkurrenzvorteil verschaffen. (Auch bei sexuellen Neigungen läuft’s praktisch anders als von Plom erhofft: Gerade erst vor ein paar Wochen schloß eine großartige SM-Bar in Berlin, deren Betreiber die versiegende Besucherschaft darauf zurückführte, daß, was dort passierte, wegen des Internets nicht mehr dort blieb, so daß sich die meisten vorm Outing fürchteten und fernblieben.)

Werbung für die Maschinenherrschaft

Mir scheint, als hätte Plom seine Menschlichkeit gedanklich schon so weit hinter sich gelassen, daß ihm die von Brin als menschliches Grundbedürfnis bezeichnete Welt des Intimen und Vertraulichen seltsam fremd (geworden) zu sein scheint. An Stellen, wo er seinem Publikum die totale Transparenz schmackhaft zu machen versucht, klingt er dann auch besonders wie der Advokat der allgemeinen Volldigitalisierung. Er benutzt “1984” als Schreckgespenst, gegen das sich selbstredend so ziemlich alles weniger schlimm ausnimmt: “Aber wenn unsere Privatsphäre ohnehin wegbricht, dann ist die Transparente Gesellschaft mit Sicherheit einem Orwell’schen Panoptismus vorzuziehen, der uns ganz und gar einer zentralen Überwachungsgewalt ausliefert, die nicht die unsere ist.” (S. 119) Er vergißt wieder und wieder die Herrschaftsverhältnisse und tut so, als wären in der “Transparenten Gesellschaft” alle automatisch gleich: “Wenn ich alles und jeden beobachten kann – kann ich dann nicht auch beobachten, wer mich beobachtet? Könnte ich dann nicht jeden maßregeln [?], der mir zu sehr hinterherspioniert? Ließe sich so nicht eine gesellschaftliche Norm durchsetzen, sich nicht gegenseitig in die Schlafzimmer zu spähen, selbst wenn das technisch möglich ist?” (S. 151) Er blendet bei seinen historischen Beispielen manchmal alles außer dem bürokratisch-technischen Funktionieren aus, wenn er in Bezug auf Deutschland im Zweiten Weltkrieg fragt: “Was nützt die fleißigste Bürokratie, wenn die Züge nicht mehr fahren…?” (S. 104)

Und er greift zu rhetorischen Taschenspielertricks: In liberalen Erzählungen von einer Welt ohne Privatsphäre wäre diese “grauenvoll und nicht lebenswert. Aber ist das so sicher? Könnte an der Post-Privacy nicht auch manches gewinnbringend sein? Ohne Zweifel schafft der Niedergang der Privatsphäre viele neue Probleme und Gefahren. Vielleicht bringt er aber auch ganz neuartige Lösungen und Chancen mit sich…” (S. 25)

Als Werbung für die Totalkapitulation der Menschen vor den Maschinen ergeben auch Ploms ständige Vergleiche der Rechenleistung und Verarbeitungskapazität von beiden viel mehr Sinn. Während Rechengeschwindigkeit, Speichergröße, Vielfalt der Korrelationsprogramme bei den Maschinen weiter sprunghaft wachsen, bleibt “unser Schädel dagegen (…) gleich groß.” (S. 65) Die “neue Reichhaltigkeit der Welt wird uns aufgeschlossen von Datenmaschinen, deren natürliches Verstandesfeld gerade die Daten-Übermengen sind, an denen unser Affenverstand scheitert.” (S. 72) Ganz unabhängig davon, daß sich auch das Wissen und die schiere Zahl der Menschen in den letzten Jahrzehnten massiv vergrößert haben und sie nicht notwendig so isoliert und in Konkurrenz denken müssen wie in der herrschenden Gesellschaftsordnung, ist ohne die Behauptung der Überlegenheit der Maschinen der ganze Vergleich Quatsch – es ließe sich auch schlicht festhalten, daß unsere Werkzeuge immer leistungsfähiger werden, yay!

Konkreter wird’s noch mal am Beispiel des menschlichen Gedächtnisses. Plom schreibt: “Erinnerungen im Kopf kommen und gehen, wie es ihnen beliebt. Dort drängt sich auf, was ich vergessen wollte; dort entzieht sich, was ich konzentriert nachgrübelnd suche.” (S. 58) Dagegen liefert der Maschinenspeicher immer genau das, wonach er gefragt wird. Den naheliegenden Einwand nimmt Plom selbst vorweg: “Aber liegt nicht gerade in der Unvollständigkeit, der Fehlerhaftigkeit und Aufmüpfigkeit des Gedächtnisses eine seiner Kräfte? Speist sich nicht auch daraus die Kreativität unseres Denkens?” Um dann aber wieder rhetorisch zu manövrieren: “Vielleicht. Aber nichts hindert uns daran, Unvollständigkeit, Fehlerhaftigkeit und Aufmüpfigkeit in die Software zu gießen, die unser digitales Gedächtnis für uns verwaltet, uns zugänglich macht. Daten sind geduldig und lassen alles mit sich machen. Und sei es, nach Zufallsprinzip angezeigt, verfälscht, durcheinandergewürfelt zu werden.” (S. 59) Aus Aufmüpfigkeit wird Zufall, ein auf Random gestellter Maschinenspeicher hat plötzlich die gleiche Funktion wie ein assoziatives Gedächtnis, und vor allem hat uns Plom schon wieder eine Entweder-Oder-Frage unterzujubeln versucht: als ginge es darum, ob wir unser Gedächtnis oder ein maschinelles benutzen wollen – und als könnten wir nicht einfach mit zweiterem dem ersteren zu helfen versuchen.

In Ploms Buch drückt sich ein Bedürfnis aus, mit einem absurden Befreiungsschlag die Flucht nach vorn antreten zu können, ein “Ätsch”, bei dem man selbst weniger Schaden zu nehmen hofft als man gewinnt, nicht zuletzt der eigenen Ausgangslage und Privilegien wegen – worauf Paul Solbach in seiner Besprechung des Buches hingewiesen hat:

>>Während die Masse der netzaffinen Mittelstandskinder ihre Privatsphäre mit Freude für verloren erklärt und dies als Chance eines völlig neuen Miteinanders begreift, schirmen sich andere Teile der Gesellschaft weiterhin ab. Der Blick geht nach München-Grünwald oder Berlin-Zehlendorf, in die Wohlstandsbezirke deutscher Großstädte, wo unter den Klingeln keine Namen stehen. Prominente Fernsehfiguren halten sich eifrige Journalisten per Abmahnung vom Leibe. Über den Privatier und Aldi-Gründer Karl Albrecht ist so gut wie nichts bekannt. Fast könnte dies zu der paradoxen Feststellung führen: Je weniger wir haben, desto mehr zeigen wir es. Vielleicht wird Privatsphäre jetzt erst recht zu einem bürgerlichen Luxus.<<

Gegen die Vorstellung einer unvermeidlichen Selbstauflösung in Daten und gegen den KI-Gebärneid würde ein wohldosierter und umsichtiger Ketamin-Trip vielleicht helfen können.

Mit der herrschenden Ideologie ist’s schwieriger. “Utopien haben sich noch nie ganz sauber verwirklicht”, schreibt Plom, der inmitten einer global entfalteten einstigen Utopie lebt. Und umgedreht heißt es: “Ihr negatives Gegenstück, die Dystopien, aber auch noch nie.” (S.161) Das stimmt, in der Realität ging man immer wieder schlicht daran, sie zu übertreffen.

Menschen, die so sein wollen wie Maschinen und sich ihnen immer weiter anpassen, waren und sind für solche dystopischen Großtaten die besten Kandidaten. Der Mensch, schrieb ich mal anderswo, “kann nicht rund um die Uhr aufmerksam sein, kann nicht augenblicklich Kontinente überbrücken und kann nicht diese enormen Datenmengen bewegen und statistisch analysieren. Was der Mensch kann, ist genau das, was die Maschine nicht vermag. Die menschlichen Fähigkeiten, die sich als Resultat der Lösung von Sippe und Stamm erst in historisch jüngster Zeit individuell auszuprägen begonnen haben, liegen im Abwechslungsreichen, Überraschenden, Durchdachten, das Zeit braucht.”

Die vollständige Zerstörung der privaten, intimen Sphäre ist nur dann unausweichlich und alternativlos, wenn alle dabei mitmachen, wenn alle so weitermachen oder gleich auf dem “allseits beschrittenen Weg der Anpassung an Technik und Verwertbarkeit” vorauseilen, statt “auf den menschlichen qualitativen Möglichkeiten von starker Empirie und tiefer Analyse einerseits und dem politischen Vertreten der eigenen Ansprüche andererseits” zu beharren und sich als menschliches globales Kollektiv überhaupt erstmal zu konstituieren.

6 Responses to “Christian Heller, Post-Privacy und die Selbstauflösung der Menschheit”

  1. h Says:

    “Im Netz dagegen erreicht jede Information nur den, der sich für sie interessiert.”

    Dann scheine ich mich ja brennend für Potenzpillen und Investments in Nigeria zu interessieren.

    Im Ernst, an Heller scheinen die medientheoretischen Debatten der letzten 50 Jahre vorbeigegangen zu sein. Da wird ein völlig unterkomplexer Technikdeterminismus abgefeiert, für den sich selbst Kittler-Jünger schämen würden. Klar, es ist fashionable und – at least in some respects – auch nicht ganz abseitig, technischen Artefakten in konkreten sozialen Situationen eine gewisse agency zuzusprechen. Aber nicht weil sie Autonomie besitzen, sondern weil sie als quasi sedimentierte materielle Resultate historischer, sehr kontingenter Aushandlungsprozesse !zwischen Menschen! das Apriori menschlichen Handelns bilden können. Ein bißchen Mediengeschichte würde hier helfen.

    Und: Post-Privacy, von wegen Avantgarde. Im Grunde ist das doch alles ein ganz alter Hut. Schon die Gruppendynamiker haben, lange vor dem Internet, versucht diesen demokratisierten Panoptismus in die Tat zu setzen. Deren Versuchsanordnung: Was passiert, wenn in einer nicht-hierarchischen Gruppe alle möglichst alles über alle wissen. Wie das ausgegangen ist kann man wunderbar bei Ulrich Bröckling (“Über Feedback”) nachlesen. Spoiler: Unangenehm.

  2. tX Says:

    Ergänzend zum “menschlichen Gedächtnis” bei Plom:
    > Konkreter wird’s noch mal am Beispiel des menschlichen Gedächtnisses. Plom schreibt: “Erinnerungen im Kopf kommen und gehen, wie es ihnen beliebt. Dort drängt sich auf, was ich vergessen wollte; dort entzieht sich, was ich konzentriert nachgrübelnd suche.” (S. 58) Dagegen liefert der Maschinenspeicher immer genau das, wonach er gefragt wird.

    Ich glaube, an dieser Stelle liegt der Fehler schon im Begriff. Plom identifiziert das Gedächtnis mit dem anonymen Datenspeicher, obwohl es eigentlich erst in der Funktion des Fragens besteht. Das Gedächtnis ist wie die Frage immer intentional (wenn auch nicht bewusst) und subjektiv. Beides geht Maschinen aber völlig ab, sie haben weder Absichten noch Perspektiven, keine sterblichen Körper und kein Interesse an der Welt.

    Das Interesse ist vielleicht wesentlich in der Funktion von Intelligenz, was von der “KI-Forschung” völlig ignoriert wird, weil es sehr schnell auf die Unmöglichkeit einer vollständigen Simulation menschlicher (oder allgemein: lebensförmiger) Intelligenz führt. Maschinen leben eben nicht, sie sind virtuell unsterblich und genau deswegen notwendig dumm. Keine Intelligenz ohne Interesse und kein Interesse ohne den Tod.

  3. Benni Says:

    @tx: Wieso kein Interesse ohne den Tod? Sicherlich gäbe es dann andere Interessen, weil die Perspektive eine andere wäre, aber wieso gar keine mehr? Leuchtet mir erst mal so nicht ein.

  4. Qaumaneq Says:

    Wer darauf spekuliert als Außerirdischer den Kosmos zu bereisen spricht offensichtlich nicht das erdverbundene Wir der asembleas und people´s microphones sondern eine Sprache relativistischer Ungleichzeitigkeit. Dessen ungeachtet bleibt Privatsphäre eine elementare Qualität irdischer Kreisläufe, und wer sie gänzlich hinter sich lassen will dem bleibt nur den Planeten zu verwüsten und/oder zu verlassen.

    Indem der Autor bewusst zu denken versucht was der Automatismus des kapitalistischen Systems unbewusst tut, liefert er ein Lehrstück zur Beherrschung seiner Destruktivkräfte. Das muss er auch, um diejenigen von uns die hier bleiben wollen von einer Möglichkeit überzeugen zu können seinen Traum zu verwirklichen ohne dabei noch mehr Verwüstungen anzurichten.

    Entscheidend ist schließlich weniger ob einer von allen seinen irdischen Qualitäten Gebrauch zu machen trachtet, sondern dass es auch wenn diese bereits zu Kollateralschäden geworden sind noch möglich sein muss den Kampf gegen das destruktive System erfolgreich weiterzuführen. Sobald der Kapitalismus überwunden ist werden wir ja sehen ob sein Projekt technisch überzeugen kann, und ob er mit seiner dann neu gewonnenen Privatsphäre selbst noch so überzeugt davon ist.

  5. h Says:

    Man könnte auch die letztlich cartesianische Prämisse dieser Mind-Upload-Phantasien problematisieren, dass Kognition etwas sei, das quasi getrennt vom Sein in der Welt als Repräsentation der Welt funktioniere. Es gibt dazu einen sehr spannenden Text von Hubert L. Dreyfus (“Why Heideggerian AI failed”).

    In dem Zusammenhang wäre dann auch interessant zu fragen, ob wirklich ‘alles’ in Zahlen übersetzbar ist. Oder es nicht vielmehr gerade die Spezifik eines cartesianischen Subjekts mit seinem techno-szientifischen Weltbild ist, dass sich ihm die Welt nur als berechenbar präsentieren kann. Und dabei ein vielleicht nicht intelligibles, aber doch erfahrbares Potential reduziert wird. In anderen Worten, das mit dem Ketamin ist gar keine so schlechte Idee.

  6. Nicolai Says:

    So, nach dem ich das Buch auch gelesen habe, wollte ich mir Daniels Rezension endlich auch anschauen und ein paar Einwürfe machen.

    a) Schade um die Bar. Dort gab es auch prima Sicherheits- und Technik-Kurse. Ich wusste nicht, dass sie aus diesem Grund zugemacht hat.

    b) Gerade weil alle Dinge in Werte in einem Speicher umgewandelt werden, kann die von Plom angepriesene (S.65f.) korrelative Analytik nicht funktionieren.

    „Den Komplexitäten dieser Welt ist sie in mancher Hinsicht besser gewachsen als ein Denken in Erzählungen, in Ursachen, in klaren Bewegungen.“ (S.66)

    Dahinter steht die Idee, dass die Computerintelligenz die Welt sieht, wie sie ist. Die digitale Beschreibung ist die Welt in nuce. Das stimmt aber gar nicht und kann auch gar nicht stimmen. Diese „Intelligenz“ entspricht genau der „Logik der Praxis“ (Pierre Bourdieu) und dem „Common Sense“ (Clifford Geertz), nur wird sie computerisiert in Ploms Erzählung massenhafter angewendet.
    Die Widersprüchlichkeiten, mit denen der Computer nicht direkt umgehen kann, werden dann halt in die Kategorien verlagert, in denen gezählt wird. Und da fallen sie dann keiner Logikeinheit auf.

    Das ist doch keine erhabene Intelligenz, das ist die Form des Denkens, mit der wir unsere Schuhe binden und den Nachbarn schief angucken, weil er eine PoC ist.

    Allerdings funktioniert das Denken im Neoliberalismus ganz ähnlich (sieht man z.B. bei Hayek, ist wirklich erschreckend festzustellen), also fällt Ploms Ansicht sicherlich auf fruchtbaren Boden. Genauso, wie die Anthropologie, besonders die anti-marxistischen Jünger der Actor-Network-Theory, jede Menge (Deutsche forschungs)gesellschaftliche Förderung erhalten.

    c) Häufiger argumentiert Plom gegen Strohmänner. Beispiel: Die Manipulationstheorie der Werbung ist mindestens seit 1977 auf Deutsch ordentlich widerlegt worden. Plom führt sie trotzdem an (106f.) und „argumentiert“ dann dagegen.

    d) Inwiefern „Transparenz die Herausbildung ungezügelter Monopole der Macht“ (117) erschwert erschließt sich mir nicht. Hat im Absolutismus prima funktioniert. Dort war es sogar eher die Intransparenz, die antimonopolistisch wirkte. Man kann auch prima wissentlich und bekannt absolut herrschen.
    „Der Abstand zwischen Oben und Unten ist der Waffenstillstand zwischen Datenschutz- und Transparenz-Denken.“ (117)
    Dann führt Plom weiter aus, dass sich in einer Basisdemokratie die Transparenz auf alle erstrecken müsste. Klar, wenn man alle als gleich mächtig wahrnimmt, dann kann das eine Schlussfolgerung sein. Es sind aber nicht alle gleich mächtig, auch wenn alle gleich über das Anbringen eines Fahnenmastes am Rathausplatz abstimmen dürfen.

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