Verschwörung gehört zum Normalbetrieb

March 5th, 2015

Argentinien und der Tod von Alberto Nisman


(Von den Lateinamerika Nachrichten angefragter Artikel, nach drei Wochen hin und her nun aber wegen zuviel Theorie und Aufzählungen abgelehnt.)

Argentinien erlebt seit Monaten intensive Arbeitskämpfe mit flächendeckenden Streiks. Entlassungen werden rückgängig gemacht. Mehrere hundert instandbesetzte Betriebe führen politische, juristische und auch militante Auseinandersetzungen um ihr Fortbestehen und ihre Selbstverwaltung. Drei trotzkistische Parteien haben sich zu einer “Front der Linken und Arbeiter” zusammengetan und wurden, vor allem als Vertreter all dieser Kämpfe, ins nationale Parlament gewählt. Von der Regierung gestützte Repression und Blockade in den armen Provinzen des Nordens Chaco und Formosa zehrt indigene Gruppen aus, weshalb der siebenjährige Néstor Femenía an Unterernährung starb. Von der Polizei mitgestalteter “Handel” mit dem Billigst-Kokainrückstand Paco prägt die Armenviertel. Und der Staat steckt in einer Schuldenkrise, etwa zu gleichen Teilen hausgemacht und Produkt vergangener oder gegenwärtiger ausländischer Einflussnahme – und für verschiedene Teile der Gesellschaft sehr unterschiedlich relevant.

Inmitten all dessen befinden sich drei politische Hauptakteure auf dem Platz. Zunächst die Kirchner-Regierung, die sich in autoritär-peronistischer Tradition gern als Volksfrontregierung gibt, gegen die neoliberale Ausplünderung des Landes aber allenfalls kosmetische Maßnahmen setzt, sich gewohnheitsmäßig mit dem Verweis auf die noch schlimmeren andern (Faschismus, Diktatur, Menem) legitimiert und bislang vor allem damit beschäftigt war, die Protest- und Widerstandsbewegungen im Land zu überrumpeln und zu zerschlagen. Als zweites die konservativ-liberale Opposition, vor allem in Gestalt des omnipräsenten Clarín-Medienkonglomerats und der potentiellen Präsidentschaftskandidaten, dem Ex-Kirchneristen Sergio Massa einerseits und Mauricio Macri, dem Bürgermeister von Buenos Aires andererseits – diese Opposition, selbst größtenteils peronistisch, schießt permanent gegen die Regierung und trifft dabei oft, was aber angesichts der beständigen Griffe in schmutzige Wäsche und auch zu Geschichtsrevisionismus zugunsten von Diktatur und Militär kaum auseinanderzuhalten ist. Und als drittes gibt es den Sicherheits- und Geheimdienstapparat, der nicht mehr offen faschistisch wie in der Militärdiktatur bis 1983 agiert und auch nicht mehr direkt nach der Macht greift wie noch in weiten Teilen der 80er Jahre, sondern vor allem im Hintergrund wirkt, was nur hin und wieder mal sichtbar wird.

Und so kam die unübersichtliche Lage um den Tod von Alberto Nisman am 18. Januar, vier Tage nachdem er seinen Bericht als Chefermittler im Fall des Anschlags aufs Jüdische Kulturzentrum AMIA 1994 vorlegte, weder überraschend noch von ungefähr. Es ist ein weiterer – wenn auch besonders spektakulärer – unaufgeklärter Todesfall, den sich die drei politischen Hauptakteure nun gegenseitig in die Schuhe zu schieben versuchen. Das dabei entstehende laute Geklapper lenkt hervorragend von allem anderen ab, das ihnen allen gerade nicht auf die Agenda passt.

Dies zu wissen, hilft nicht unbedingt bei dem Versuch herauszufinden, wie es zu Nismans Tod genau kam, was an seinen Anschuldigungen dran war und an welcher Stelle welche Instanz welche Art von Einfluss auf Beweismaterial, Fakten und Personen genommen hat. Es hilft aber vielleicht, sich von der Aufklärung all dessen nicht mehr zu versprechen, als etwas über die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen dieser Lage zu lernen.

Was in dieser Situation auf jeden Fall nicht weiterhilft, ist das Schlagwort “Verschwörungstheorie”, das vielmehr, wie auch sonst so oft, Teil des Ausstoßes der nun daueraktiven politischen Nebelmaschinen ist. Das Etikett “Verschwörungstheorie” fasst einfach sämtliche Äußerungen zusammen, in denen die Annahme, Unterstellung oder der Nachweis einer Verschwörung vorkommt – ungeachtet, ob diese Äußerungen als stets notwendiger ideologischer Kitt oder Propaganda funktionieren, oder ob es sich um den Versuch handelt, das Wirken realer Verschwörungen zu ergründen. Und letztere gibt es zuhauf: Geheimdienste etwa, aber auch sonstige nicht-öffentliche Absprachen aller Art, die, wie die Politikwissenschaftlerin Magui López in ihrem Blog-Posting “Nisconspilaciones” schreibt, allgegenwärtig sind, “Geheimverhandlungen so umfassend, Kommunikation außerhalb der legalen Kanäle so üblich, Aktionen jenseits des Rechtsweges so verbreitet – dass die Wahrscheinlichkeit, eine wahrheitsgemäße Antwort zu erhalten, verschwindend gering ist.”

Die Fragen um Nismans Tod unter Ausschluss von Verschwörungen diskutieren zu wollen oder die “Verschwörungstheorien” dabei in einen Extratopf zu sortieren, ist im besten Fall naiv, im häufigeren Fall selbst ideologisch motiviert.

Denn wie die als ideologischer Kitt unverzichtbare Verschwörungsideologie gehören auch Verschwörungen, nicht nur in Argentinien, zum Normalbetrieb jeder herrschaftlich verfassten Gesellschaft. Solange es Herrschaft und Gesetze gibt, gibt es auch immer Menschen, die die Gesetze zu umgehen oder zu brechen versuchen und die sich der Herrschaft zu entziehen und sie zu stürzen versuchen. Es werden sich immer mindestens zwei Menschen finden, die sich, so die Definition von Verschwörung etwa im US-Strafrecht, zu einer Straftat verabreden, oder die sich, in der erweiterten soziologischen Bestimmung, dazu zusammentun, einen von mindestens Teilen der Gesellschaft als illegal oder illegitim angesehenen Zweck zu verfolgen – und die das selbstredend nicht an die große Glocke hängen. Die möglichen Taten reichen vom Banküberfall über die militante Antifa-Aktion oder den Terroranschlag bis zum Staatsstreich, der vielleicht häufigsten Art von Regierungswechsel in der Geschichte. Erscheinungsform und Ausmaß von Verschwörungen hängen vor allem von der sozialen Stellung der Beteiligten ab, was jeweils ein entsprechendes Gewirr aus Strafvereitelung, Mitwisserschaft, Rechtsbeugung und Amtsmissbrauch mit sich bringt.

Und es gibt immer Menschen, die durch das Verfolgen und Aufdecken vermeintlicher oder realer Verschwörungen selbst in gesellschaftliche Machtpositionen gelangen oder ihre schon bestehenden Machtpositionen ausbauen können. Sie organisieren Gegenverschwörungen, die sich der unterstellten Mittel der Verschwörung bedienen, um diese zu bekämpfen – und können so immer umfangreichere willkürliche Machtmittel für sich beanspruchen.

Mit der Einrichtung staatlicher und militärischer Geheimdienste im Laufe des vergangenen Jahrhunderts existieren nun in den meisten Ländern der Welt institutionalisierte Verschwörungen und Gegenverschwörungen, die den Auftrag und in (schlecht kontrollierbaren) Grenzen auch die Befugnis haben, nationales und internationales Recht zu brechen. Diese “above the law”-Position wird je nach gesellschaftlicher Situation herausposaunt und verherrlicht oder eben eher unter dem Teppich gehalten. Zumindest für V-Leute des Verfassungsschutzes wird die Straffreiheit bei bestimmten Gesetzesverstößen auch hierzulande gerade wieder offen diskutiert.

Das mehr oder weniger offene Verfolgen von Verschwörungen, besonders aber die mediale Ausschlachtung gelungener “Schläge” gegen sie gehören zu den wichtigsten ideologischen Mitteln von Regierungen, um von den Problemen in der eigenen Gesellschaft abzulenken oder diese auf äußere, verborgene Einflussnahme und Wühlarbeit zurückzuführen. (Zu unterscheiden vom Aufdecken realer grenzübergreifender Verschwörungspraxis wie im Falle Argentiniens etwa der CIA-Unterstützung für die multinationale antikommunistische Operation Condor mit ihren Tausenden von Toten.) Mit den Prozessen gegen mutmaßliche Verschwörer, ihren Verurteilungen und zuweilen Hinrichtungen demonstrieren Regierungen und staatliche Sicherheitsapparate immer wieder ihre Handlungsfähigkeit und verstehen diese Aktivitäten so, wie sie sie auch öffentlich präsentieren: als Maßnahmen gegen die Destabilisierung der Gesellschaft, das heißt, als Kampf gegen die größenteils unverstandenen systematischen Verwerfungen, die jede bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft notwendig hervorbringen muss.

Die argentinischen Geheimdienste haben zeit ihres etwa 70jährigen Bestehens in dieser Weise gewirkt. Entweder schürten oder fingierten sie Destabilisierung, um schärferes bis faschistisches Regierungshandeln zu rechtfertigen. Oder sie betrieben Infiltration und Zersetzung in den vielfältigen und umfangreichen sozialen Bewegungen Argentiniens – von der Arbeiterbewegung über den Widerstand der Indigenen und in den Slumvierteln bis zur Selbstorganisation seit der Neoliberalismus-Krise ab Ende der 90er – und führten vor allem ganze Bewegungen auf wenige “Drahtzieher” zurück, die sie dann, so hatten sie’s von deutschen und französischen Fachleuten gelernt, “verschwinden” ließen oder der Öffentlichkeit als Sündenböcke präsentierten. Diese „Drahtzieher“-Logik entspricht, wie sich Rosa Luxemburg 1906 mokierte, dem polizeilichen Blick, dem es scheint, “als sei die ganze moderne Arbeiterbewegung ein künstliches, willkürliches Produkt einer Handvoll gewissenloser ‘Wühler und Hetzer'”.

Seit dem Antritt der ersten Kirchner-Regierung unter dem verstorbenen Ehemann Néstor der jetzigen Präsidentin war unklar, inwiefern der argentinische Geheimdienst- und Sicherheitsapparat sie als Teil der Destabilisierung und inwiefern als Verbündete betrachtete; inwiefern die notdürftigen, durch Proteste abgetrotzten sozialen Maßnahmen bereits als Anzeichen eines Linksrutsches gewertet wurden oder inwiefern das geschickte Ausbremsen und Kooptieren der stärksten Protestbewegungen durch die Regierung, ihr unablässiges nationalistisches Getrommel und ihre offene Feindseligkeit gegen alles links von ihr sie als zuverlässigen Partner der Dienste erscheinen ließ.

Die Präsidentin hat auf jeden Fall die Gelegenheit genutzt und den wichtigsten Geheimdienst, in ihrer Darstellung vom 27. Januar, “aufgelöst”. Tatsächlich hat sie ihn unter Beibehaltung fast des gesamten Personals und Materials verlegt, umbenannt und stärker ihrer Kontrolle unterstellt.

cristina

Doch die Frage nach Nutznießern eines Ereignisses (“Cui bono?”) lässt noch nicht sicher auf die Urheber desselben schließen; sie erlaubt nur, einen Kreis von Verdächtigen zu ermitteln, denen damit aber noch nichts nachgewiesen ist. Eine Situation ausnutzen kann auch, wer sie nicht herbeigeführt hat.

Dazu ein paar Beispiele: Massa brachte sich als Kläger ins Spiel, was er juristisch gar nicht sein kann. Macri sieht sich selbst Vorwürfen der Vertuschung und illegalen Überwachung gegenüber, die er gern überdecken würde. Ex-Präsident Menem hatte die Verfolgung der AMIA-Spur nach Syrien unterbunden, weil Assad seinen Wahlkampf unterstützt hatte. Nisman hatte die Falschbeschuldigung gegen Polizisten im AMIA-Fall gedeckt, war selbst wiederholt der Vertuschung bezichtigt worden, und Clarín hatte seine ganze Ermittlung als Fiktion bezeichnet – was sie nun mit keinem Wort mehr erwähnen. Auch der CIA könnte die Regierung beschädigen wollen, um die nächste besser festzunageln – auf Schuldenrückzahlung ohne Gemaule plus Erfüllung von nicht nur 90 Prozent der wirtschaftlichen Auflagen – und auf diese Weise das weitere Abdriften Argentiniens in den Einflussbereich der globalen Konkurrenten zu verhindern: die Wirtschaftsbeziehungen zu China sind bereits eng, Verbindungen zu Russland befinden sich im raschen Aufbau.

So bleiben bis zu eventuellen, aber – angesichts der fleißigen Vertuschungen und Instrumentalisierungen von mehreren Seiten – doch unwahrscheinlichen weiteren Aufklärungen des Falles mehrere Möglichkeiten für das Geschehen um Nismans Tod offen:

  • Nismans rechtlich wohl substanzlose 289-Seiten-Anklageschrift produzierte dennoch kollaterales Belastungsmaterial hauptsächlich gegen die Regierung, die ihn umbringen ließ, oder gegen die Dienste, die ihn umbringen ließen. (Möglicherweise gab es auch ein Zusammenwirken von zumindest Teilen der Regierung und des Sicherheitsapparats.)
  • Nisman brachte sich um, als ihm klar wurde, dass seine Attacke scheitern und sein eigener Anteil an Vertuschung und Falschbeschuldigungen offenbar werden würde.
  • Oder Nisman wurde mit falschen Fährten versorgt, gegen die Regierung in Stellung gebracht und dann öffentlich geopfert.
  • Skandale wie der aktuelle können das Herrschaftspersonal etwas in Bewegung bringen, Herrschaft kann jedoch überall nur von den sozialen Widerständen erschüttert und infragegestellt werden. Als deren Anwältin und Vertreterin hat sich die Kirchner-Regierung zwar gern präsentiert und zum Teil auch verstanden, und diesem Schein erliegen im In- wie Ausland zu viele Menschen, die sie als “linksperonistisch” oder gar gleich als “Linksregierung” einsortieren.

    Klar ist, dass Argentinien weiter ein Staat mit einem monströsen Sicherheits- und Geheimdienstapparat bleiben wird, und mit einer peronistisch-nationalistischen Regierung, die sich mehr oder weniger als von ausländischen Mächten bedroht darstellt, ihren Hauptfeind aber im eigenen Land sieht, und zwar links und unten.

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