Nachbetrachtungen zum Geschichtssalon

April 16th, 2007

Im Anschluß an meinen gestrigen Vortrag über “Geschichte und Verschwörung” im Neuen Geschichtssalon zu Berlin entspann sich eine längere Diskussion über das außerhalb des recht stabilen Teilnehmerkreises mangelnde Interesse an dieser Veranstaltung.

Neben verschiedenen Mutmaßungen über Schule, Universität und allgemeine Geschichtsmüdigkeit wurden Probleme geschildert, die mir aus anderen Zusammenhängen wohlvertraut sind. Gabowitsch führte aus, daß Kritik ohne Gegenentwurf nicht akzeptiert werde, daß im Grunde eine Festlegung auf eine “eigentlich richtige Geschichte” verlangt werde, für deren Mängel man dann gescholten werden könnte oder an die wiederum geglaubt werden könnte. Ebenso würde zu oft das bloße Aufgreifen eines Themas mit einer positiven Parteinahme gleichgesetzt, wodurch die recht quellenpluralistische Geschichtskritik in der Schmuddelecke stecken bliebe.

Ich verwies darauf, daß mit abnehmender Bedeutung verbindlicher religiöser, ideologischer und historischer Erzählungen Geschichte vor allem als Vorbild für die eigene Lebensgeschichte, die Erfindung eigener Biographien, die sogenannte “Selbsterfindung” wichtiger werde. Insofern wäre ein Anknüpfungspunkt für Geschichtskritik die Verschränkung von Biographie und Geschichte, von Erfolgsgeschichten und persönlicher Erfolgsgeschichte, wie sie sich im Bewerbungsschreiben manifestiert.

Gabowitsch schilderte daraufhin, wie er sich 1980 in Deutschland zu bewerben pflegte, nämlich indem er die Stellenanzeigen unter Verwendung sämtlicher Wörter ausformulierte und höchstens einen Satz hinzufügte. Was prima funktionierte. Wir gelangten zu den Erkenntnissen der Hirnforschung über Erinnerung als beständig neu konstruiertem Entwurf, der auch vorsätzlich verändert werden kann. Beispiele lieferten die mittlerweile in die kollektive Erinnerung eingegangenen Tiefflieger von Dresden 1945 und die akademischen Arbeiten von Gabowitschs Sohn über die Kriegserinnerungen in Deutschland und der Sowjetunion.

Für mich am erfreulichsten war, daß das von mir zur Illustration im Vortrag verwendete Buch “Baudolino” von Umberto Eco als guter Ansatz diskutiert wurde, um Geschichtskritik quasi in die Öffentlichkeit zu hacken. Das trifft sich gut. Im Sommer werde ich mich nämlich endlich daran machen, das schon seit drei Jahren immer wieder neu konzipierte Buch zur Geschichtskritik zu schreiben, für das ich nun vor einigen Wochen einen literarischen Ansatz gewählt habe. Ein Zeitzeuge des 15. Jahrhunderts berichtet live von der Geschichtsproduktion seiner Zeit, während er die von der Chronologiekritik in diese Zeit datierte Massenauswanderung der antiken Griechen von der Westtürkei bis nach Italien in umgekehrter Richtung nachvollzieht und seine aufgefrischten Erinnerungen mit der mittlerweile in Florenz kolportierten Version der Geschichte abgleicht.

Zum Schluß kehrt der Händler in seinen Heimatort Ephesos zurück, das ich als eine Art antikes Berkeley zu zeichnen versuche, von dem aus sich eine wilde Mischung antiker Hippies auf sehr unterschiedliche Trips aufgemacht hatten.

Der Plan ist, diese Rückreise im Sommer auch selbst zu machen, natürlich nicht so authentisch, daß ich mich auf Karren und Galeeren begebe. Dennoch versuche, möglichst viele Museen und Ausgrabungsstätten auf der Route Florenz – Ravenna – Troia – Athen – Istanbul – Ephesos anzusehen.

(Der nächste Geschichtssalon in Berlin findet übrigens am 13. Mai statt, wie immer um 18 Uhr im Sahara City in der Ottostr. 19. Helmut Voigt wird über “Die kleine Aktion” sprechen: “Voneinander unabhängige Stränge der Geschichtsschreibung bilden die Ursache für die Überlänge der Römerzeit und der ‘christlichen’ Chronologie.”)

10 Responses to “Nachbetrachtungen zum Geschichtssalon”

  1. neuroemer Says:

    Klingt sehr pynchonesk, was du da vor hast. Gerade das, was Pynchon in “Against The Day” versucht oder zu versuchen scheint, ist da nah dran. Allerdings spielt er viel mehr mit den Erzählperspektiven rum. Würde dir auch das Gesamtwerk empfehlen, schaffst du aber bis zum Sommer nicht.

  2. classless Says:

    Wenn mir irgendjemand ein Gesamtwerk empfiehlt, entsichere ich meine Knarre. Mach ich aber selber dauernd. Nun ja.

    Das mit den Ebenen und Perspektiven stellt sich bei mir ja immer von ganz allein ein, das muß ich mir nicht von vornherein schon vornehmen. Es wird natürlich einen türkischen Religionshistoriker geben, der den Text entdeckt, übersetzt und mit einem Vorwort versieht. Vielleicht auch noch ein Nachwort von einem anderen Historiker, der die ganze Geschichte für völlig phantastisch hält.

    Tja, und dann tauchen in dem Erzählung wohl jede Menge aus der Geschichte bekannte Figuren auf, die grotesk verzerrt sind, meist viel bedeutungsloser und mit der eigenen Darstellung beschäftigt. Vielleicht schaffe ich es sogar, in der Händlerfigur eine Ahnung des Problems der Realabstraktion unterzubringen.

    Es mangelt mir auf jeden Fall nicht an Ideen, ich muß eher sehen, daß ich mich ein bißchen zusammenreiße.

  3. neuroemer Says:

    “Tja, und dann tauchen in dem Erzählung wohl jede Menge aus der Geschichte bekannte Figuren auf, die grotesk verzerrt sind, meist viel bedeutungsloser und mit der eigenen Darstellung beschäftigt.”

    Harhar, sach ich doch, pynchonesk, pynchonesk!

    Nein, der macht bei genauerem Nachdenken eigentlich was anderes: er schreibt seine historische Romane aus der Perspektive, im Tonfall und in den Genreformen von damals, allerdings mit dem Twist, dass er sie wild durcheinandermixt, tschuldigung, -michst. Wenn man theoretisiert, dass die Erzählformen durch die gesellschaftliche Realität bedingt sind, ist das sehr konsequent.
    Würde aber für dein Projekt bedeuten, dass du den Exodus der Griechen in Homerschen Versen schreiben müßtest. Difficult to pull off, to say the least.

    Aber vielleicht kann man von P. lernen, dass man sich nicht zusammenreißen muss. Einfach alles übereinander schichten, Erklärungen vermeiden und die Leser puzzlen lassen…

  4. classless Says:

    Red mir sowas noch ein!

    Ich dachte eigentlich daran, die inhaltliche Breitseite mit einer möglichst simplen, unprätentiösen Sprache eines Händlers zu konterkarieren. Er wirft den anderen ja gerade vor, aus dem kulturellen und religiösen Eklektizismus von Ephesos nur ihre aufgeblasene Sprache mitgenommen zu haben und ansonsten völlig fanatisiert und borniert geworden zu sein.

    Er weiß immer noch, daß sich hinter dem Aristarchen der Platonischen Akademie von Florenz sein alter Kumpel, sagen wir, Imi verbirgt, mit dem er damals in Ephesos zwischen drei Tempeln dreier Kulte Pilze gefressen hat.

    Stilistisch wird es also zumindest in der Erzählung selbst zwischen Karikaturen sokratischer Dialoge mit seinen alten Homies in Florenz und relativ straighten Reiseberichten und Retrospektiven pendeln.

  5. che2001 Says:

    Ephesos als antikes Berkeley ist klasse 🙂 Erinnert mich an einen Kollegen, der das Flottenbauprogramm des attischen Seebundes als antiken Keynesianismus bezeichnete.

  6. mo Says:

    “Wir gelangten zu den Erkenntnissen der Hirnforschung über Erinnerung als beständig neu konstruiertem Entwurf, der auch vorsätzlich verändert werden kann.”

    diese erkenntnisse sind meiner meinung nach in dieser form und ohne nötige ergänzung unzulässig und nicht zu verallgemeinern:

    http://autismuskritik.twoday.net/stories/2866425/

  7. classless Says:

    Verzeih mir, aber kannst du deinen Kritikpunkt noch mal kurz formulieren? Ich habe mich in deinem Beitrag gerade etwas verlaufen…

  8. mo Says:

    hm, eigentlich steht´s doch im letzten absatz zusammengefasst – ich beziehe mich dabei auch als beispiel auf “dresden”:

    “richtig: traumatische erinnerungen werden aller wahrscheinlichkeit im gehirn in seperaten neuronalen netzwerken gespeichert, die der bewussten erinnerung nicht oder nur sehr fragmentarisch zugänglich sind. dazu kommt die speicherung im körper bzw. den möglichen betroffenen körperregionen selbst. ich hatte oben schon geschrieben, dass es sehr gut sein kann, dass hier vom gehirn tatsächlich realitätskonstruktionen zur hilfe genommen werden, um derartige biographische “lücken” (die ja genauer betrachtet eigentlich keine sind, weil es hier eher um einen defektbedingt und gleichzeitig schützenden nicht möglichen zugriff auf die authentischen erinnerungen geht) sozusagen zu schliessen. nur: ein schwerer fehler scheint mir wie gesagt darin zu liegen, das als “menschliche normalität” zu postulieren. viel treffender ist es meiner meinung, das als menschliche “normalität” unter traumatischen sozialen bedingungen zu begreifen. und das ist ein ganz entscheidender unterschied.”

    will sagen: ich bestreite nicht diejenigen ergebnisse der neurowissenschaften, die da sehr wahrscheinlich realitätsgerecht einen “konstruktiven” mechanismus beschreiben – ich bestreite allerdings die berechtigung, das als pauschale aussage über die funktionsweise des umgangs mit erinnerungen seitens unserer hirne/nervensysteme hinzustellen.

    wie üblich in den allermeisten westlichen wissenschaften wird hier der eigene hintergrund der existenz in sowie die herkunft aus einer pathologischen realität “vergessen” (daran ist u.a. schon freud gescheitert).

    ich hoffe, es ist ein bißchen klarer?

  9. classless Kulla » Blog Archive » Die kleine Aktion Says:

    […] Wenn ich bei “bewiesenermaßen” und auch bei dem “glaubwürdigeren und logischeren Geschichtsbild” Bauchschmerzen habe, finde ich die Richtung des Vortrags sehr gut: hin zur Frage nach dem Vorgang der Geschichtsproduktion, zu der ich zuletzt am selben Ort vortrug und diskutierte. […]

  10. meta.copyriot.com | Nachruf auf Eugen Gabowitsch Says:

    […] der Gelegenheit zeigte sich Gabowitsch unzufrieden damit, wie wenig seine Kritik sich bisher verbreitet habe; er stellte Überlegungen an, ob sich das […]

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