Veröffentlicht: “Sin Patrón – Herrenlos. Arbeiten ohne Chefs”

April 4th, 2015

Lavaca (Hg.)
Sin Patrón, Herrenlos, Arbeiten ohne Chefs
Instandbesetzte Betriebe in Belegschaftskontrolle
Das argentinische Modell: besetzen, Widerstand leisten, weiterproduzieren

Übersetzung und Einführung von Daniel Kulla

ISBN 978-3-940865-64-9
254 Seiten, 19 €

Kontakt für Buchvorstellung.

Aus dem Vorwort

Dieses Buch dokumentiert etwas Unerhörtes. Es zeigt uns Menschen, die um ihre Arbeitsplätze kämpfen, und die, während sie das tun, immer besser verstehen, was das noch alles bedeutet. Es zeigt uns, wie Belegschaften für bankrott erklärte Betriebe besetzen und als Kooperative weiterführen; wie sie es nicht als alternativlos hinnehmen, wenn der Markt etwas aufgibt.

Und dieses Buch war selbst ein Teil dieser Entwicklung. Diego Ruarte, derzeitiger Pressesprecher der Hotel-Kooperative Bauen in der Innenstadt von Buenos Aires, erinnert sich im Interview für dieses Vorwort an die Zeit, als nach 2003 die Bewegung der Kooperativen abgeschrieben wurde und es allgemein hieß, sie würden bald wieder verschwinden. Damals propagierte die argentinische Originalfassung dieses Buchs, erstmals 2004 erschienen, die „recuperación“ – das spanische Wort, das „Genesung“ und „Wiederherstellung“ heißen kann, und das hier nun dafür steht, die Betriebe „wieder flott zu machen“, die dann entsprechend „fábricas recuperadas“ oder „empresas recuperadas“ heißen, am besten übersetzt als „instandbesetzte Betriebe“.

Als die erste große Welle der Instandbesetzungen gerade abgeklungen war, bot das Buch einen wertvollen Überblick über die Zahl und Vielfalt der entstandenen „recuperadas“. Diego: „Es war ein großartiges Erlebnis, das Buch aufzuschlagen und die Geschichten anderer Betriebe mit ähnlichen Problemen und ähnlichen Errungenschaften zu lesen, darin befreundete Aktivisten zu entdecken, die noch dazu gut wiedergegeben waren.“ Gabriela von der Tischlerei Maderera Córdoba nennt das Buch schlicht eine „Einführung in die Organisation einer Arbeiterkooperative“ und verweist auf seine Funktion als „Telefonbuch der Bewegung“ – im Original finden sich im Anhang Kontaktdaten und Kurzbeschreibungen Dutzender Kooperativen, nach Branchen sortiert, dazu auch Links zu Praxisanlaufstellen, den Dachverbänden, relevanten Behörden und Unterstützungsstrukturen. Diese Rolle als Beispiel, Anregung und Ermutigung wünsche ich mir auch für diese Übersetzung. Und da wird es nun sicher heißen:

Hier? Hierzulande?

In Argentinien sind die „fábricas recuperadas“ längst bekannt und beliebt genug, dass ihr praktisches Beispiel und ihre direkte Hilfe immer wieder neue Instandbesetzungen inspirieren und unterstützen, so wie jüngst im Falle des Druckhauses RR Donnelley, dessen amerikanischer Mutterkonzern nach Abschöpfung von staatlichen Subventionen die Insolvenz erklärt hatte. Auch in Europa gibt es bereits erste Belegschaften, die dem Beispiel folgen und sich aus Argentinien Rat holen, wie etwa die griechische Baustoff-Fabrik Vio.Me, die mittlerweile auch unter dem Motto der argentinischen Bewegung firmiert: „Besetzen. Widerstand leisten. Produzieren.“

Hierzulande scheint jedoch die Idee erst einmal vorgestellt werden zu müssen, auch wenn es mit der Fahrradkooperative StrikeBike in Nordhausen, den nach dem Kollaps von Schlecker in Eigenregie fortgeführten Filialen und den Flugzeugwerken in Speyer zumindest ähnliche Vorgänge schon gab. Es ist nötig, neben den unleugbaren Unterschieden der argentinischen Situation zur hiesigen die zahlreichen Ähnlichkeiten und Anknüpfungspunkte herauszustellen.

Auch in Argentinien hatte am Anfang kaum jemand vor, einen Betrieb als Genossenschaft zu übernehmen, wichtig war vielmehr der Erhalt oder die Wiedergewinnung des eigenen Arbeitsplatzes. In den Worten von Claudio Valori aus dem Textilbetrieb Brukman: „Es begann mit ‚Ich verliere meinen Job‘, nicht mit der Entscheidung, Eigentümer zu enteignen“. Der Mechaniker Salvador schildert die Anfänge in der Autoteilefabrik 19 de Diciembre in San Martín, einem Vorort von Buenos Aires: „Die Leute hier waren keine Sozialisten, keine Kämpfer, sie waren nicht organisiert – sie waren einfach draußen, saßen auf der Straße. Und das erste, was sie dachten, war einfach: Lasst uns reingehen, damit wir auf die Anlagen aufpassen können und, wenn sie’s verkaufen, unseren Lohnausfall bezahlt bekommen. Es war ein langer und langsamer Prozess bis zu der Entscheidung, hier gemeinsam weiter zu arbeiten.“ Gustavo Ojeda aus der Grafikkooperative Conforti wird später im Buch mit dem Ausspruch zu lesen sein: „Für mich war das eine Metamorphose… Ich war neun Jahre lang Gewerkschaftsdelegierter und nun plötzlich hieß es, dass wir alle zu Eigentümern des Betriebs werden sollten“. Auf solche Entwicklungen und Lernprozesse kommen fast alle der Beteiligten immer wieder zu sprechen. Claudio von Brukman beschreibt es so: „Ich wurde zu einem Aktivisten durch diesen Kampf, vorher war ich’s noch nicht. Es war wie eine Reise: Ich beteiligte mich am Kampf und fand dann heraus, dass ich wohl ein Sozialist bin. Wir lernen hier immer noch jeden Tag mehr, aber nicht vorwiegend aus Büchern.“ (…)

“Hier & jetzt!”

Ganz Ähnliches, wie es die Arbeiter in Argentinien herausgefunden haben, ließe sich auch in Deutschland entdecken. Auch hier klaffen Selbstbild und Realität,
oft verstärkt durch die Außenwahrnehmung, erheblich auseinander. Auch hier gibt es verklärte Vergangenheit und verkannte Gegenwart. Und auch hier werden immer wieder die falschen Antworten gegeben. (…)

Die Niederschlagung der Arbeiterrevolution gebar die faschistischen Monster und vernichtete zugleich einen großen Teil des Widerstands, der ihnen hätte entgegengesetzt werden können. Und da wir in der hässlichen Welt der kapitalistischen Staatenkonkurrenz leben, wurde Deutschland für all diese und die ihnen folgenden Verbrechen insgesamt weit mehr belohnt als bestraft – mit Schuldenerlass und Wohlstand. Wichtigstes wirtschaftliches Resultat war jedoch die folgsame und fleißige Arbeiterklasse, welche die konkurrierenden Volkswirtschaften in den Bankrott produziert und in Krisensituationen lieber Fremde und Linke jagt als Widerstand zu leisten. (…)

Claudio Valori von Brukman: „Die deutsche Arbeiterklasse muss sich genau anschauen, was hier passiert ist, wie jede Firma, die nicht mehr genug für die Schuldentilgung abwarf, ausgeschlachtet wurde und wie kein Geschäftsmann auch nur einen Gedanken daran verschwendete, was das für die Arbeiter bedeutet. Daher eigneten diese sich die Produktionsmittel an. Vielleicht kann die argentinische Arbeiterklasse, die einst aus Europa abgehauen ist, nun etwas zurückgeben.“

Exemplar bestellen: “Sin Patrón” auf der Seite des Verlags der AG SPAK.

Kontakt für Buchvorstellung.

9 Responses to “Veröffentlicht: “Sin Patrón – Herrenlos. Arbeiten ohne Chefs””

  1. Altfan Says:

    Chapeau!

    Finde das gut, dass du diese ganze Praxis ausbreitest – es recht nicht, denen mit den Ausreden ihre Ausreden vorzuwerfen, es ist wichtig zu zeigen, dass es immer schon eine Ausrede war, wegen ungünstiger Lage jede aneignende Praxis zu verwerfen.

    Wünsche diesem Buch viel Verbreitung und hoffentlich auch Wirkung!

  2. Der vergehende Abstand Says:

    Kulla halluziniert sich jetzt also Klassenkampf herbei, weil alles andere auch nichts gebracht hat – wie armselig!

  3. Klasse! Says:

    “Wichtigstes wirtschaftliches Resultat war jedoch die folgsame und fleißige Arbeiterklasse, welche die konkurrierenden Volkswirtschaften in den Bankrott produziert und in Krisensituationen lieber Fremde und Linke jagt als Widerstand zu leisten.”

    Gute Zusammenfassung! Und gut, das mal nicht als Rechtfertigung dafür zu lesen, es lieber gar nicht mehr zu versuchen mit dem Klassenkampf, sondern gerade als den eben besten Grund!

  4. classless Says:

    2 x Danke schön!

    1 x Ja, klar!

  5. xx Says:

    “An unsere Freunde” bringt ein paar interessante Abschnitte zu Argentinien:
    https://linksunten.indymedia.org/node/139846/unfold/all

  6. classless Says:

    Erscheint mir auf den ersten Blick etwas minderinformiert – von den Kooperativen, die sich von der Regierung haben bequatschen oder erpressen lassen, ist die Rede, von den anderen nicht. Ihnen wird sogar Vio.Me gegenübergestellt, als ginge es in Argentinien nicht auch um politische Projekte (und nicht nur um ein “alternatives Wirtschaften”). Seltsame Betrachtung, aber danke für den Hinweis.

  7. heinz steinle Says:

    Produktion in Eigenregie
    Während der argentinischen Wirtschaftskrise wurde in vielen Fabriken ohne Chefs gearbeitet. Der Reportageband »Sin Patrón« zieht ein Fazit
    Von Johannes Schulten

    Die Utopie fasziniert noch immer: Arbeiter übernehmen im Betrieb die Kontrolle, schmeißen den Chef raus, produzieren eigenständig, ohne Rücksicht auf Renditeerwartungen von Investoren und anonymen Märkten. In Argentinien wurde dies zur Wirklichkeit: Nach einer Dekade Neoliberalismus lag die Wirtschaft des Landes zur Jahrtausendwende am Boden, unzählige Unternehmen stellten die Produktion ein. Tausende Beschäftigte wollten das nicht hinnehmen, sie führten die Betriebe in Eigenregie weiter. Und heute? Auch fast 15 Jahre später existieren viele dieser Firmen noch immer: Etwa 13.000 Arbeiter sind in über 300 selbstverwalteten Firmen tätig. Und wie man im gerade erschienenen Reportageband »Sin Patrón. Herrenlos. Arbeiten ohne Chefs« erfährt, gibt es von Zeit zu Zeit sogar noch Zuwachs. Wie im Sommer 2014, als die Beschäftigten die insolvente US-Druckerei RR Donnelley in Buenos Aires übernahmen.

    Übersetzt hat das in Argentinien erschienene Buch Daniel Kulla, der für die deutsche Veröffentlichung noch ein ausführliches Vorwort beigesteuert hat. Für ihn sind die Geschehnisse aus Argentinien vor allem ein »Lernprozess«: »Es wurde die Erfahrung gemacht, dass sich Recht durch politische Aktion verändern lässt und die juristischen Verhältnisse keineswegs so in Stein gemeißelt sind, wie es einem der Alltagsverstand suggeriert«.

    Dass das Buch in Deutschland erscheint, ist verwunderlich. Denn bei »Sin Patrón« handelt es sich um eine ältere Sammlung von zehn Betriebsreportagen. Geschrieben wurden sie von der in Buenos Aires ansässigen und heute noch aktiven Politgruppe »Lavaca« (»Die Kuh«). Damals war das Buch fast schon ein Bestseller und in praktisch allen Buchhandlungen von Buenos Aires zu finden. Die Nachwirkungen von Krise und Volksaufstand waren noch zu spüren, das Interesse an alternativen Formen von Politik und Arbeitsbedingungen war entsprechend groß. »Sin Patrón« bot den ersten umfassenden Blick auf die Betriebsbesetzungen, machte interne Abläufe und die Beweggründe der Beteiligten dabei deutlich.

    Warum also nach zehn Jahren eine Übersetzung ins Deutsche? Als Zeitdokument taugt das Buch allemal. Der Leser kann die (im nachhinein vielleicht etwas naive) revolutionäre Aufbruchstimmung in den Betrieben miterleben. Er bekommt aber auch einen Eindruck vom Einsatz massiver Gewalt durch den argentinischen Staat. Der schickte nicht nur regelmäßig bewaffnete Polizeitrupps vorbei. Beteiligte berichten von angezapften Handys, sogar von Bedrohungen und Verfolgung einzelner Aktivisten durch von der damaligen Regierung unter Fernando de la Rúa (1999–2001) angeheuerte Fußballhooligans.
    sommerkrimiabo

    Zudem hat der Übersetzer die zehn Betriebsreportagen am Ende mit ein paar Sätzen zur aktuellen politischen Lage versehen. Die allerdings stehen im Widerspruch zum in der Einleitung vermittelten Bild einer kämpferischen und im Aufwind befindlichen Bewegung: Die Keramikfabrik Zanón aus der südlichen Provinz Neuquén steht kurz vor der Pleite. Medienberichten zufolge wurden bis Juni diesen Jahres bereits über 680 der insgesamt mehr als 2.000 Beschäftigten entlassen. Für notwendige Investitionen bemühen sich die Arbeiter aktuell um einen Kredit von der Regierung Cristina Fernández de Kirchner. Gleiches gilt für die wichtige Textilfabrik Brukman in Buenos Aires: Auch hier mangelt es an Krediten und an Auftraggebern: »Wir wollen Standardausstatter von Staatsunternehmen werden – aber das Wesen dieses Staates steht gegen Betriebe wie unsere«, wird eine Beschäftigte zitiert.

    Und das ist das Problem des Buches: Die spannende Frage, ob mit Eigentumsstrukturen gebrochen werden kann, während man im kapitalistischen Markt verbleibt, und ob darüber hinaus eine Verbesserung der materiellen Situation der Beschäftigten erreicht werden kann, bleibt weitgehend unbeantwortet. Angaben zu den Arbeitsbedingungen, Löhnen oder anderen ökonomischen Kennzahlen finden sich nur selten. Auch der interessanten Frage, ob es Versuche gab, alternative Märkte, z. B. über regionale Strukturen, zu finden, wird kaum nachgegangen.

    Gänzlich unverständlich sind die harten und undifferenzierten Attacken im Vorwort gegen die Regierung Kirchner, wenn die Rede ist von »Kirchner-Propaganda«, »Vereinnahmung«, »übelsten parteikommunistischen Methoden« mit »nationalem Inhalt« oder »Repression«. Natürlich ist viel an der Regierungspolitik kritikwürdig, die vielfach opportunistische Beziehung zu den sozialen Bewegungen genauso wie der wenig freundliche Umgang mit linken Kritikern. Aber es ist durchaus rational, dass ein großer Teil der Bevölkerung – und ein sehr großer Teil der argentinischen Linken – die Regierungspolitik unterstützt und hat wenig mit dem von Kulla unterstellten falschen Bewusstsein zu tun. Das Beharren gegen die US-Hedgefonds im Schuldenstreit, die Verstaatlichungen des Rentensystems sowie diverser Unternehmen, die Einführung eines Kindergeldes, prozyklische Lohnpolitik und überhaupt der Ausbau des Sozialstaates haben dazu beigetragen, dass es der breiten Masse in Argentinien heute erheblich besser geht als in den 90er Jahren.

    Lavaca (Hg.): Sin Patrón. Herrenlos. Arbeiten ohne Chefs, Verlag AG Spak Bücher, 2015, 254 Seiten, 19 Euro
    https://www.jungewelt.de/2015/08-24/014.php

  8. classless Says:

    Die Zuneigung der deutschen Linken zur Kirchner-Regierung ist ungebrochen…

  9. Winterstein Says:

    Das grosse Thier hat die vollständige Besprechung des Buches der Gǎi Dào Nr. 58 auf seiner Seite:
    https://dasgrossethier.wordpress.com/2015/10/01/buchbesprechung-sin-patron-herrenlos-arbeiten-ohne-chefs/

Leave a Reply

2MWW4N64EB9P