Rasthof Bergstraße -> Berlin

January 7th, 2009

Wenn es schon schneit und man von der Tanke nicht wegkann, muß es dann echt auch noch anderthalb Stunden dauern? Und müssen dann unbedingt diese ganzen Sprüche mit dem schlecht ausgesuchten Wetter sein? Und muß es gleich so kalt sein, daß man ständig zum Aufwärmen in die Tanke reinmuß?

Dann allerdings die Ausnahme-Ausnahme: Ein Fahrer auf dem Weg nach Köln, den Oona nicht, wie ich erst dachte, besonders dazu überreden mußte, den Umweg über den Rasthof Wetterau zu machen – er meinte, er würde Trampern gern helfen. Auch das gibt’s! Da er das aber erst ganz zum Schluß sagte, war ich die ganze Zeit jedesmal leicht nervös, wenn das Navi ihn mit Nachdruck auf die kürzere Route schicken wollte. Er blieb aber standhaft.

Von Wetterau (wo es heiter ist und nicht schneit) nach Kirchheim wollte uns ein älterer Mann nur scheinbar in ein Gespräch über Beruf und Ausbildung verwickeln; redete dann viel lieber von seinem Lebenslauf – Bauernkind aus der Nähe von Haldensleben, in den Westen gegangen, Schlosser geworen, Machinenbau studiert, dann in den Fünfzigern im Irak und Persien Anlagen gebaut, Flugschein gemacht, viel geflogen.

In Kirchheim wiederum kalt, wiederum fast anderthalb Stunden, wiederum gezwungenermaßen Tankstellenbesuche, bei denen wir Zeuge einer Mitarbeiterschulung wurden. Management-Typ hat gerade gelernt, wie man Befehle als Fragen formuliert und Aufträge als Wünsche – und das macht er. Vorher und hinterher spricht er allerdings uns ganz locker an, um fürs Personal den offenen und aufgeräumten Kerl zu geben. Seht her, ich rede sogar mit Trampern! Als wäre nichts!

Mitgenommen werden wir schließlich von einem Berliner Pärchen, das zunächst recht sympathisch erscheint und mit dem sich auch entspannt über verschiedene Großstädte plaudern läßt. Kurz vor Leipzig geht’s dann aber los: sie berichtet vom Vertrieb und vom Außendienst, sie hat das jahrelang selbst gemacht und ist nun diejenige, die andere herumschickt und die sich von denen natürlich nichts erzählen läßt, sie weiß ja schließlich, wie das ist. Wenn die Zahlen nicht stimmen, kommen die Ausreden, versuchen alle, ihre Unfähigkeit zu kaschieren, aber ihr können sie nichts vormachen.

Irgendwie fragen wir nur hier und da nach, dennoch wird das vor allem von ihm zunehmend als Opposition empfunden, so daß es etwa ab Potsdam zur ideologischen Grundsatzpredigt kommt. Es könne ja jeder machen, was er will, aber diese Leute, die Hartz IV kriegen und den ganzen Tag nichts machen, das ginge ja nicht. Er würde es an ihrer Stelle genauso machen, aber das sei ja das Problem: so funktioniert “unser” System eben, und das geht so nicht mehr lange gut. Und dann rauchen diese Leute noch und sagen, sie hätten kein Geld! Früher sei man ja selbst ganz sozial gewesen.

Statt der naturalistischen Wiedergabe dieser Beschallung vielleicht besser die kurze Zusammenfassung: Damit “unser” Sozialstaat erhalten bleiben kann und es nicht so furchtbar wird wie in Amerika, muß der Sozialstaat radikal abgebaut werden. Damit er – der sich erst spät im Gespräch als Unternehmer zu erkennen gibt – Leute rauswerfen kann, wie es ihm beliebt, muß es den Sozialstaat geben, der sie dann auffängt. Der darf aber am besten nichts kosten, sonst kommen “wir” ja nicht voran: “Das ist ja kein Sozialismus hier! Hier hat keiner Recht auf Arbeit.”

Und gefühlte hundertmal sagt jeder von ihnen beiden: “Man hat immer eine Chance.” Die bürgerliche Ideologie in einem Satz. Zum Kotzen.

9 Responses to “Rasthof Bergstraße -> Berlin”

  1. kapsler hauser Says:

    bei dem wetter trampen? ihr seid echt hart gesotten. 🙂

    frohes neues jahr!

  2. classless Says:

    Unterm Strich war das Wetter weit weniger schlimm als die Predigt in Stereo.

    Auch so’n Ding!

  3. Cannabis Kommando Says:

    Du kannst ja mal erzählen dass Dir das Hartz IV gestrichen wurde weil Du den ganzen Tag lang was machst, dann kriegst Du vielleicht auch mal gesagt dass das was Du machst sinnvoll ist.

  4. Shigekuni Says:

    hihi

    klingt stilistisch irgendwie nach Oona, teils jedenfalls.

    na, nu.

  5. posiputt Says:

    daraus koennt man doch glatt nen artsy kurzfilm machen 🙂
    ich kenn da leute von der hfbk…

  6. classless Says:

    @Cannabis Kommando

    Dann würde er mich womöglich einstellen wollen. OMG!

    @Shigekuni

    Sag ich ihr mal.

    @posiputt

    Ich will den Typen spielen, damit ich diese Predigt wieder loswerden kann. Was sowieso nicht klappt.

  7. posiputt Says:

    haett ich jetzt auch nicht vermutet. aber hast du sowas denn noch nie vorher gehoert? ist das jetzt eine traumatische erfahrung, oder einfach nur noch nicht lange genug her?

  8. classless Says:

    Nein, es ist gerade der Punkt, daß viele Sätze genauso ständig von anderen auch kommen und zwar im Ton tiefster Überzeugung. Und daß es gerade Leute sind, die meinen, sie wären mal “sozial” gewesen, die sich das dann so intensiv selbst eingeredet haben, daß es umso intensiver aus ihnen herausbricht. Sie wollen diesen Quatsch unbedingt glauben, obwohl es ihnen schwergefallen zu sein scheint. Sie wollen den Kapitalismus lieben und anders als Funny van Dannen schaffen sie es.

    Das geht nicht so einfach wieder weg.

  9. Cannabis Kommando Says:

    @classless – Das ist mir noch nicht passiert, aber was wäre so dramatisch daran wenn es einer versuchen sollte?

    Die Argumentation deines Fahrers ist übrigens arg kurzsichtig: Der nächste Satz in dieser Argumentationsline wäre ja die (mehr oder weniger personalisierte) Behauptung, dass die Erwerbslosen auf Kosten der Erwerbstätigen leben würden. Genau das ist aber eine Illusion (und bleibt vielleicht gerade deswegen unausgesprochen), denn heutzutage leben sowohl die Erwerbslosen als auch die Erwerbstätigen von den planetaren Ressourcen, d.h. auf Kosten der Vergangenheit und der Zukunft.

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