Rausch und die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen

April 8th, 2020

Heute hätte ich erstmals für Die PARTEI Leipzig in ihrem Lindenauer Büro gesprochen – über Rausch als Fähigkeit des Nervensystems, sich durch Verbindung von zeitlich auseinanderliegenden Signalen Situationen zu entziehen und potentiell anders mit ihnen umzugehen.

Ich hätte eingangs (oder ausgangs) meine Überlegungen zu Rausch und Ausnahmezustand von neulich (“Erst merkste, was alles nicht mehr geht, dann merkste, was jetzt geht.”) damit verbunden, den Rausch als “Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen” zu fassen.

Ernst Bloch hatte mit dieser Wendung 1935 beschrieben, wie der Nationalsozialismus die sich allmählich vom religiös-ideologischen Überbau (den Legenden vom guten Kaiser, vom “Dritten Reich”, dem “Himmelreich auf Erden”) ablösenden weltlichen, materiell-ökonomischen Klasseninteressen wieder zurückzuzwingen suchte, die Menschen mit heftigster Gewalt zu einem aggressiven Opportunismus reizte. Die Brücke zwischen der “Vergangenheit”, die erhalten oder wiederhergestellt werden soll, und der Gegenwart, in der all diese Menschen ja leben, ist nur noch durch eine starke Entsynchronisierung zu schlagen; der Rausch ist das Mittel, durch den diese krassen Widersprüche in den Nerven zusammengehalten, zusammengezwungen werden.

Zwei Jahre später gibt es für Bloch (in “Zur Originalgeschichte des Dritten Reiches”) den Rausch bereits “in doppelter Gestalt”: “einen übers Elend tröstenden, einen erst recht dagegen gereizten.” Er versucht in diesem Sinne, das Ungleichzeitige positiv aufzugreifen, wenn er auf die Märchen (Kindheit) und den Ursprung (Erwachsene/Geburt) hinauswill: “Die Berauschung geschieht nur um der Lüge willen; doch der Jahrmarkt in ihr, die Glücks-Kolportage, der Gang zu den ‘Anfängen des Lebens’, gar der Waldrausch, Meerrausch des Pan tragen, wider die Absicht, rebellische Zeichen. Das Märchen will heraus aus der völkischen Sage, wohin es gebannt wird…” Und diesen Versuch verallgemeinert Bloch später noch, wenn er von der Möglichkeit spricht, “zusätzliche revolutionäre Kraft aus dem unvollständigen Reichtum der Vergangenheit zu beziehen.”

Doch kann sich Bloch zu einem positiven bzw. vollständigen Rauschbegriff nicht durchringen. Er zeigt, dass der politisch organisierte Rausch auch durch Epochen geschiedenes Ungleichzeitiges gleichzeitig machen kann – insofern habe ich meine Begrifflichkeit von ihm wie auch vielleicht den Schlüssel zu meinem Rauschmodell; aber er wendet das nicht positiv auf die individuelle (und daraus potentiell andere kollektive) Ebene. Er sieht da nur Vorgaukelung, Täuschung, bestenfalls noch Selbsttäuschung derjenigen, die drauf einsteigen. Er sagt, dass der religiös-revolutionäre Rausch “abstrakt und mythologisch war; daß er keine Augen für die Wirklichkeit hatte und keine haben konnte”, auch wenn er dem selbst mit seinem Zitatmaterial zu Müntzer und dem Bauernkrieg widerspricht. Für Bloch weckt der Rausch “lediglich den subjektiven Willen zur Veränderung der Welt, nicht aber irgendeine konkrete Methode zu dieser Veränderung”.

Die Frage des überschießenden Elements, das sich durch Rausch und Religion zeigt, stellt Bloch allerdings als Aufgabe vor die kommunistische Bewegung. Diese Aufgabe lässt sich hier aus negativen Formulierungen ablesen: vom Mystizismus “lebten die Nazis, doch sie konnten eben nur deshalb so ungestört mit ihm betrügen, weil eine allzu abstrakte … Linke die Massenphantasie unterernährt hat.”

Ganz konkret könnte aus dem Rausch, so er mit diesem Inhalt gefüllt wird, ein besseres Verständnis des heutigen Geschehens gewonnen werden (weil er selbst so funktioniert), in dem gleichzeitig nebeneinander Staaten in unterschiedlicher zeitlicher Entfernung zum Erstkontakt mit dem neuen Virus und erster sichtbarer Ausbreitung agieren, die einen also das machen, sagen und beklagen, was die anderen vor ein paar Tagen oder Wochen oder in ein paar Tagen oder Wochen machen, sagen und beklagen – und in dem so ziemlich alle greifbaren Erzählungen und Deutungsmuster aus der unterschiedlich entfernten Vergangenheit aufgerufen werden um zu verstehen was passiert und was zu tun ist.

Der Vortrag soll nachgeholt werden, dann sicher schon mit anderer Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft…

Die Slides zum Vortrag (PDF). Das Buch (Ventil Verlag), darin auch Bloch etwas ausführlicher.

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