Die besonders deutsche Geschichte des “Roten Oktober”

November 11th, 2007

Zum 90. Jahrestag der bolschewistischen Machtübernahme in Rußland 1917 haben die ganz besonders Deutschen damalige und heutige Anwandlungen von Querfront und Nationalbolschewismus spontan vergessen. Im Sonderheft ihres von Gert Sudholt herausgegebenen Kiosk-U-Boots “Deutsche Geschichte” – in dem sonst vor allem alliierte Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg, Lügen über die guten Nazis und andere antideutsche Machenschaften in der Geschichte verhandelt werden – erklären sie noch einmal genau, wovor die Nazis den Rest der Welt zu retten versuchten.

Gleich im Editorial heißt es, die Deutschen hätten 1933 mehrheitlich “für die nationale Alternative” gestimmt und kurz darauf gibt es Politikberatung für Hitler, ganiert mit einer Huldigung an die Streitkräfte der Nazis:

>>Anstatt einen Befreiungskrieg gegen den Bolschewismus zu propagieren (…), gebrauchte die deutsche Seite den Begriff des “slawischen Untermenschen” (…) Daß der Kreml seine strategischen Ziele dennoch nicht erreichte, lag vor allem an den Soldaten der deutschen Wehrmacht, die sich nach stürmischen Offensiven in einem vierjährigen Ringen und mit letzter Kraftanstrengung gegen die Sowjetarmee wehrten, aber nicht verhindern konnten, daß schließlich die Rote Fahne über dem Berliner Reichstag wehte.<< Auch sonst knirscht die Geschichte ordentlich: "Als 1936 Stalins langer Arm in Spanien die Macht an sich reißen wollte, konnte Franco die 'Republikaner' rechtzeitig stoppen. Dies war umso zwingender, als sich in Frankreich eine Volksfrontregierung breitmachte, die ebenfalls mit dem Wohlwollen der Komintern rechnen konnte." In den Beiträgen des Heftes fällt, gerade im Kontrast zur Beilage der ‘jungen Welt’ auf, daß es kaum weiter ausgreifende Analysen gibt, sondern nahezu auschließlich aneinandergereihte Anekdoten, persönliche Erinnerungen, Einzelfälle, Einzelfiguren. Wir erfahren, wie Lenin, “der sich vorgenommen hat, den Zaren zu stürzen, (…) dann an einer Anschlagtafel lesen muß, daß andere daß besorgt haben.” Oder wie der “weiße” Admiral Koltschak von der französischen Interventionsarmee an Revolutionäre ausgeliefert wurde, die ihn sogleich erschossen.

Mehrere Seiten werden aus den Erinnerungen Kerenskis nachgedruckt, in denen er sich als der Unverstandene ins rechte Licht zu rücken versucht, allerdings auch überzeugend einigen gängigen Erzählungen über ihn und die nicht-bolschewistischen Revolutionäre entgegentritt. Wenn er etwa im Februar von der “Schwäche einer Duma, die weitgehend auf einem exklusiven Wahlrecht der Oberklassen basierte” schreibt, läßt sich das mit seiner angeblich bürgerlichen Position nicht zusammenbringen. Kerenski bringt auch die taktische Doktrin der Bolschewiki im Oktober auf den Punkt, wenn er sie damit wiedergibt, “daß sie durch die Zerstörung der Demokratie Rußlands das Land in Wirklichkeit vor einer drohenden Konterrevolution der ‘Kornilowiten'” retten wollten: “Eine solche Gefahr bestand überhaupt nicht, und Lenin war sich dieser Tatsache bereits am 30. August (12. September) wohl bewußt.” Kerenski berichtet weiter über seine Versuche, die angekündigte bolschewistische Machtübernahme zu verhindern, außerdem von einem anti-bolschewistischen Aufstand in der Hauptstadt und einem sich dortselbst bildenden “Komitee zur Rettung der Heimat und der Revolution”.

Unklar ist, warum es den Magazinmachern wichtig erscheint, die Bolschewiki als Erfüllungsgehilfen der deutschen Heeresleitung hinzustellen. Den diesbezüglichen Äußerungen Kerenskis zufolge wurde die “russische Demokratie” von den Deutschen geopfert, “die einen Staatsstreich in Petrograd [brauchten], um Österreich daran zu hindern, einen Separatfriedensvertrag zu schließen.”

Klarer ist dann, warum in weiteren Beiträgen des Heftes bolschewistische Revolutionäre regelmäßig mit ihren jüdischen “Klarnamen” ausgewiesen werden, warum USPD und Spartakusbund als weiträumig von den Bolschewiki ferngesteuert dargestellt werden, das “ernstliche Deserteurproblem” des deutschen Heeres wiederum als Werk der alliierten und sozialistischen Propaganda, daß selbst der deutsche 9. November 1918 und damit auch das Handeln der Mehrheits-SPD als gezielte Projekte zur Verschärfung der Kapitulationsbedingungen gelten.

Aussagen übers Gesamtbild sind zumeist schwammig, nicht selten apokalyptisch-religiös. Besonders im Text “Nacht über Rußland” von Gideon J. Harvey, Untertitel: “Der Beginn der Herrschaft des Pentagramms”, der sich mit der brutalen Verfolgung von Christen beschäftigt, ist vom “westlichen Gift des Marxismus” zu lesen, das “die tiefe anarchische Sehnsucht nach der Befreiung von GOTT erfüllt und die menschliche Persönlichkeit zum Maß aller Dinge” macht. Von hier schlägt Harvey großzügig eine Brücke in die Gegenwart:

>>[1917] steht als Doktrin und als modus vivendi vor unserer im praktischen Atheismus und einem großen sittlichen Verfall lebenden, vom materialistischen Genuß- und Selbstverwirklichungsdenken beherrschten westlichen Gesellschaft nicht nur als Mahnmal, sondern als potentielles Spiegelbild der Zukunft. Sie führt die westliche Gesellschaft in die Dekadenz und lockt insbesondere den Islam an zur Eroberung des kapitulationsbereiten Europa.<< Kontext wird nicht nur über solche großen Entwürfe und Überschriften wie "Herrschaft der Dämonen" erzeugt, sondern auch dadurch, daß die weitere Entwicklung - die Stalinschen Massenmorde, die DDR - als direkte Folgen des "Roten Oktober" behandelt werden. Zum Schluß des Heftes schreibt NPD-Funktionär Andreas Molau staatsmännisch über die “Wiedergeburt Rußlands” und die heutigen deutsch-russischen Optionen.

Zumindest bei den Machern von “Deutsche Geschichte” scheint die Wiederbelebung national-sozialistischer Querfrontideen nicht sonderlich angesagt zu sein: Es ist klar, wer historisch wo steht, woher die Legitimation für die Nazis stammte, und daß die erhoffte deutsch-russische Allianz nicht auf der Basis der beiderseitigen totalitären Vergangenheit zustandekommen soll – wie bei den Nationalbolschewisten – sondern gegen jegliche echte und vermeintliche marxistische Tradition hier wie da.

4 Responses to “Die besonders deutsche Geschichte des “Roten Oktober””

  1. godforgivesbigots Says:

    Harvey hat einen Punkt, die islamischen Technokraten haben die mißglückte Brillenmode der sozialistischen Politbürokraten übernommen.

    Der Begriff der Dekadenz ist allerdings total unscharf. Trägt dieser Autor auch so eine Benwischbrille?

  2. godforgivesbigots Says:

    Ich sollte vielleicht noch hinzufügen, wenn das kulturpessimistische Zivilisationsselbstbild der Paläokonservativen sich als der Weisheit letzter Schluß herausstellen sollte, dann befänden wir uns tatsächlich in einer Polizeigesellschaft reif für den Islam.

    Statt von Dekadenz sollte man besser davon sprechen, dass die meisten westlichen Gesellschaften nicht mehr über den Zukunftshorizont einer Generation hinausdenken. Unsere Gesellschaften ignorieren die langphasigen Tendenzen der Gegenwart, welche erst in Perspektiven jenseits der Generationenspanne erkennbar werden. Die islamischen Gesellschaften können sich jedoch nicht beliebig lange verjüngen. In der ansehbaren Zukunft muß ein Kollaps der Bevölkerungsexplosion eintreten, welcher hoffentlich weniger fatale Formen annehmen wird als im Europa am Vorabend der Oktoberrevolution. Als Antwort auf diese Herausforderungen die Askese und die Familie zu predigen ist erfahrungsgemäß nur bedingt hilfreich geeignete Lösungen zu finden. Aber Fakt ist, die Gesellschaften des Westens schlafwandeln durch die Weltgeschichte und mal sehen wie lange das so gut geht.

  3. Jörg Says:

    Haben die auch erwähnt, dass Kerenski in einem Wagen der US-Botschaft in Sicherheit und außer Landes gebracht wurde?

    Welches positive Interesse hatte denn die US-Botschaft an ihm?

    Und wie “läßt sich das mit seiner angeblich bürgerlichen Position nicht zusammenbringen”

    Schon erstaunlich, was Herr Kulla alles zu wissen meint. Jetzt sogar schon zum Experten für die Oktoberrevolution mutiert, lol.

  4. classless Says:

    Me no expert, auch wenn ich dafür gehalten werde. Häufigster Satz von mir in den Kommentaren: Das hier ist ein Blog. Mich zu äußern, setzt nicht voraus, daß ich Experte bin, was auch immer das überhaupt bedeuten soll.

    Nach dem, was ich weiß, ist Kerenski in einem Wagen der US-Botschaft aus Petrograd abgereist, um Truppen für einen Gegenangriff zusammenzustellen. Und ab dem Punkt ist es eine Frage der Deutung, ob das einen konterrevolutionären Akt unter Zuhilfenahme des US-Imperialismus darstellt oder einen letzten verzweifelten Versuch zur Verteidigung der Revolution gegen die bolschewistische Machtübernahme.

Leave a Reply

2MWW4N64EB9P