Leipzig

June 8th, 2008

Am Mittwochabend wohnte ich einer kleinen Diskussionsrunde der Gruppe in Gründung bei. Martin Dornis stellte Thesen zu seinem Text “Der Wert und der Tod” vor und stellte sich Michael Reichs polemischer Erwiderung “Der Wert und der Wert“. Diskutiert wurde unter anderem, inwiefern der Tod seinen Schrecken aus dem ungelebten, unerfüllten Leben bezieht und inwiefern eine allgemeine Emanzipation auch eine Emanzipation vom Tod bzw. von seinem Schrecken sein muß.

Tags darauf sprach Roswitha Scholz im Conne Island, und die Veranstaltung läßt sich kaum anders denn als Selbstdemontage beschreiben. Warum sie nicht wußte, daß ihr Vortrag nicht als bloße Buchvorstellung zu “Differenzen der Krise – Krise der Differenzen” angekündigt worden war, sondern Näheres “zum Verhältnis von Antirassismus, Antisemitismus und Antiziganismus” erwartet wurde, bleibt unklar. Dennoch war schon während ihrer Redezeit das Problem nicht nur, daß sie nun zwangsläufig an der Erwartungshaltung des Publikums vorbeisprach. Vielmehr las sie einen nur lose zusammenhängenden Text voller Allgemeinplätze vor, der mir wie eine lange Rechtfertigung für ihre Wertabspaltungstheorie erschien. Wenn sie vorlas, klang es monoton und lieblos, weitgehend humorfrei und voller Formulierungen wie “postmoderner Casino-Kapitalismus”, “unverkürzte Globalisierungskritik”, “Barbarisierungstendenzen in der Globalisierung” und “jeder Mensch hat eine einzigartige Identität” oder Wortgirlanden à la “im globalisierten Krisenkapitalismus der Postmoderne”. Sobald sie zur Auflockerung vom Text wegging und improvisierte, wurde es entweder wirr (eine Weile lang wunderte sie darüber herum, daß auch bei n-tv und im Managermagazin Spekulantenschelte betrieben wird) oder seltsam entschuldigend (“das klingt jetzt so adornitisch-abgehoben”).

In den meisten Sätzen waren die Phänomene und die an ihnen festgemachten Schlußfolgerungen lose bis gar nicht miteinander verknüpft, es wurde nicht klar, wie ihr Ansatz sie jeweils zusammenbringen soll, der Gang ihrer Überlegung blieb ausgeblendet. Oft wirkte es, als würden die Phänomene nur entsprechend des theoretischen Entwurfs zur Kenntnis genommen werden, wenn sie etwa behauptete: “In den Neunzigern wurden Hybrid-Identitäten total hypostasiert, heute werden sie nicht mehr thematisiert.”

Absurd wurde es im Diskussionsteil nach der Pause, in der ich herausfand, daß sie den Vortrag aus ihrer Sicht “extra konkret” gehalten hatte, was die ungelenken Beispiel-Improvisationen erklärte.

Aus dem Publikum wurde nun gefragt, warum es fast nichts zum Verhältnis von Antisemitismus und Antiziganismus zu hören gegeben hatte; des weiteren gab es massive – und im Ton teilweise auch scharfe – Kritik am beschriebenen Springen zwischen Gegenstand und Theorie, am Hineinzwängen des Materials in die Begriffe; es wurde eine konkrete historische Diskussion gefordert.

Als wären diese Nachfragen und Einwände nicht unüberhörbar schlau und begründet gewesen, wiederholte Roswitha Scholz nun lediglich, was sie mit dem Vortrag vorgehabt hatte und ging dazu über, dem offensichtlich gut vorgebildeten Publikum pampig Adorno-Einführungskurse zu empfehlen. Überhaupt sei es nicht verwunderlich, daß “Männer immer auf dem Konkreten bestehen” würden.

Auch nachdem von Seiten der veranstaltenden Gruppe klargestellt wurde, daß es ein Kommunikationsproblem bezüglich der Ankündigung gegeben hatte, blieb Roswitha Scholz unsouverän und merkwürdig launisch. Als sie auch einen ihr inhaltlich nahestehenden Frager kurz und unfreundlich abfertigte, der lediglich wissen wollte, wo denn im Falle des Antisemitismus die Wertabspaltung sei, verließ ich den Saal in Richtung eines Parks, wo es Acid und “Fizheuer Zieheuer” aus dem Handy gab. Später in der Nacht kehrten wir in einem Imbiß ein, dessen schrullig-autoritäre Betreiberin ihr überwiegend aus verschiedenen Formen von Wurst bestehendes Angebot u.a. mit diesem schönen Schild bewarb, über das wir eine ziemliche Weile nicht mehr fertig wurden:

Jetzt 20% mehr Wurst

Während die neuroaktiven Nachwirkungen sich noch bis in den folgenden Nachmittag hinzogen, besuchte ich Bekannte in der Stadt und lief ständig an Graffitis von Chemie-Leipzig-Fans vorbei, die ihren Teil dazu beitrugen, daß der ausklingende Film nicht endete:

Chemie

Am Abend bespielten Egotronic die prall und zu 90% mit Teenagern gefüllte Nato. Schon nach kurzem war die halbe Bühne voller Publikum, und insgesamt ist es als Wunder anzusehen, daß die Technik überlebte. Einige Zuschauer klappten der Hitze und des Sauerstoffmangels wegen zusammen und kamen erst an der frischen Luft wieder zu sich. Andere machten extra noch ein Feuerchen:

Brennende Fahne @ Egotronic, Nato

7 Responses to “Leipzig”

  1. Christian Says:

    Da hab ich nur mal sehr oberflächlich rüberscanned über das Zeugs zum Tod und eher irgendwas mit Heideggerkritik gefunden als irgendwelche Ansatzpunkte, wo man als transhumanistischer Immortalist reingrabschen könnte, was ich natürlich viel spannender fände 😉 Liege ich in der Wahrnehmung richtig? Über letzteres könnte man sich nämlich bestimmt auch ganz erbaulich ideologiekritisch prügeln, Angemessenheit des Anspruchs auf eine Verstetung des (ideologischen?) Ichs vs. naturalistischer Fehlschluss einer moralischen Natürlichkeit des Todes, auf die die Gesellschafts- und Besitzstrukturen angewiesen sind, usw. usf.

    Irgendwo, vielleicht sogar bei dir, hatte ich mal irgendwas von irgendeiner obskuren kommunistischen utopischen Strömung im frühen 20. Jahrhundert gelesen, die u.a. als Früchte der Revolution auch die Emanzipation vom biologischen Zwang der Sterblichkeit via moderner Wissenschaft eingefordert hatte, dieser Schnippsel ist mir seitdem leider nie mehr über den Weg gelaufen, kommt dir davon irgendwas bekannt vor? (Proto-Transhumanistisches scheint mir da durchaus in manche Strömungen des Zeitgeistes zu passen …)

  2. el_phiko Says:

    ich sag nur “manowar ist das magdeburg der musik”

  3. Lysis Says:

    Marxismus-Mystizismus III…

    Ich fand “Wertkritik” ja mal interessant. Aber der Versuch, alles in eine hegelianische Wesens-Erscheinungs-Logik zu pressen, führt mittlerweile zu einem Obskurantismus, bei dem es einem nur noch die Sprache verschlägt. Michael Reich beo…

  4. kt&f Says:

    acid aus dem handy, das wärs.

  5. classless Says:

    So bleiben einem nur die Repräsentationen – ich höre jetzt Dusty Kid und denke dabei hin und wieder an Wurst…

  6. egal Says:

    Gute Kritik an dem Vortrag.
    Klingt mach einer Bestätigung der Kritik, dass Roswita Scholz keine gute Referentin ist, was ich schon von diversen Leuten gehört habe.
    Aber an wen sind Formulierungen wie „unüberhörbar schlaue Einwände“ und „gut vorgebildetes Publikum“ gerichtet? Soll das eine Vorabverteidigung oder eine Versicherung des eigenen Niveaus sein. Auf der Ebene dieses Berichts (ohne genauere Ausführungen) wirkt das mehr wie eine Selbstbeweihräucherung, denn eine Darstellung von Kritik („Sehr mal her wie toll vorgebildet und schlau wir/das Publikum sind/ist.“). Aber wie gesagt, die Kritik liest sich überzeugend und deckt sich ungefähr mit dem, was ich schon vorher über ihre Vortragsfähigkeit gehört habe.

  7. classless Says:

    @egal
    Das Publikum und seine Fragen lobe ich in Leipzig gern, weil ich meist vom Niveau der Diskussionen erfreut bin. Wenn Vortragende dann so reagieren, als hätten sie es mit Blödis zu tun, finde ich das schwer nachvollziehbar.

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