1923 beginnt: Was bisher geschah

January 7th, 2023

Nach dem letzten offenen Aufstand im Mitteldeutschen Industriegebiet, in Hamburg, im Ruhrgebiet und im Südwesten im März 1921 befinden sich Hunderte auf der Flucht im Untergrund, von denen einige sich bis zu Karl Plättners Verhaftung Anfang 1922 (wenige noch weiter bis 1924) mit Raubüberfällen durchzuschlagen versuchen. Weitaus mehr Beteiligte der revolutionären Kämpfe, soweit sie nicht wie Tausende unmittelbar erschossen wurden, sind nach harten Urteilen dem bereits stark faschistisch geprägten Strafvollzug ausgeliefert, in dem sie Folter und Misshandlungen erleiden müssen, was viele nicht überleben. Die erst 1921 gegründete Rote Hilfe liefert Rechtsbeistand und Unterstützung für Gefangene, Opfer und Angehörige aller Parteien.

Die Konterrevolutionäre haben sich in der “OrdnungszelleBayern konsolidieren können, wo paramilitärische Verbände sowie anderswo verbotene völkisch-antisemitische Gruppen fortbestehen und revolutionären Regungen im Keim erstickt werden. Die NSDAP findet vor allem im Norden Bayerns erstmals eine breitere Basis, vor allem nachdem sie beim “Deutschen Tag” am 14./15. Oktober in Coburg martialisch aufmarschiert und sich Straßenschlachten mit Gegenprotesten liefert.

Im Rest des Reiches verüben nationalistisch-konterrevolutionäre Organisationen Terroranschläge, die im Mai 1922 auch Hamburg erreichen, wo sie trotz ihrer Ausmaße von der SPD-Stadtregierung wenig Aufmerksamkeit bekommen. Erst nach der Ermordung des Außenministers Walther Rathenau am 24. Juni findet sich die SPD-Führung reichsweit zu gemeinsamen öffentlichen Erklärungen mit der KPD bereit, nutzt die Situation jedoch sofort aus um mit dem “Republikschutzgesetz” vom Juli gegen “rechts und links” vorgehen zu können. Schon zwei Tage nach Rathenaus Ermordung hatte die SPD-geführte Sicherheitspolizei von Hamburg das Feuer auf eine Streikkundgebung am Heiligengeistfeld eröffnet.

In der KPD vertieft sich in dieser Situation der Widerspruch zwischen Einheitsfront-Taktik und sozialistisch-revolutionärer Orientierung, während die Partei sich stärker am sowjetischen Vorbild ausrichtet, nachdem die Bolschewiki 1921 den Bürgerkrieg für sich entscheiden konnten. Gleichzeitig strömen die Reste der USPD in die SPD zurück, was zur Neukonstituierung als Vereinigte SPD (VSPD) auf dem Parteitag von Nürnberg am 24. September führt (siehe Bild) und die neue Partei deutlich nach links von der bisherigen SPD treibt. Das begünstigt das Zusammengehen mit der KPD in Sachsen und Thüringen im Laufe des Jahres 1923.

Die anarchistisch-syndikalistische FAUD erreicht 1922 ihren organisatorischen Höhepunkt mit über 100.000 Mitgliedern und ruft zu Weihnachten bei einem Kongress in Berlin als Gegenstück zur kommunistischen Roten Gewerkschafts-Internationale (RGI) die Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA) ins Leben, die ihrem Selbstverständnis nach an die Erste Internationale von 1864-76 anknüpfen will.

Am 14. November bittet die Reichsregierung Wirth um Zahlungsaufschub für die Reparationen aus dem Versailler Vertrag, am 24. November wiederholt nach Wirths Rücktritt der von Ebert neu ernannte Cuno, ein “Mann der Wirtschaft” (Ullrich), diese Bitte. Am 27. November antwortet die französische Regierung mit der Drohung, Teile des Ruhrgebiets zur direkten Entnahme der Reparationen zu besetzen, und beschließt am selben Tag die unmittelbare Vorbereitung des Einmarschs.

Während die deutsche Seite ihre eigene Einschätzung ihrer ökonomischen Situation zum Maßstab für die Reparationen nimmt, die Realität der von vierjähriger deutscher Besatzung verheerten Gebiete nicht zur Kenntnis nehmen will und in der nationalistischen Deutung abwegige Vergleiche zu anderen Friedensverträgen zieht, gehen besonders Frankreich und Belgien als Hauptbetroffene der Besatzung vom angerichteten Schaden und seinen aktuellen ökonomischen Folgen aus. Dieser Konflikt wird sich schon im Januar 1923 drastisch zuspitzen.

Zu den häufigsten Erzählungen über den Aufstieg des Nationalsozialismus gehört, ihn Versailles und der Weltwirtschaftskrise zuzuschreiben – das ist im Kern eine der Lieblingserzählungen der Nazis über sich selbst. (Empfehlenswertes kurzes Video dazu von TimeGhost History: “Versailles Treaty ≠ Hitler’s Rise to Power”)

Es wird hingegen noch mal genau hinzuschauen sein, wer im letzten Revolutionsjahr 1923 in welcher Reihenfolge genau was tut.

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Übersicht zu den Postings über die Revolution in Deutschland 1918-23.

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