1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden

May 23rd, 2023

Am 24. Mai 1923 beginnen Erwerbslose gegen Preiserhöhungen in der Markthalle am Dresdner Antonsplatz (heute vor der Altmarkt-Galerie) zu protestieren. Sie fordern Ausschilderung und Begrenzung der Preise, sorgen bis Mittag für die Schließung aller Geschäfte. Als sie am Nachmittag wieder eröffnet werden, kontrollieren die Erwerbslosen die Preistafeln. Am nächsten Tag tun sie das in allen Markthallen der Stadt, drohen damit die Marktstände zu zerschlagen und halten im Tanzlokal ‘Kristallpalast’ in der Friedrichstadt eine Versammlung ab. Als sie im Anschluss zum Wiener Platz (Hauptbahnhof) ziehen wollen, verhindert die Polizei das Eindringen in die dortigen Markthallen.

Am Sonnabend dem 26. Mai versammeln sich erneut solche Massen in der Antons-Markthalle, dass sie geschlossen wird. Am Nachmittag greift die Polizei eine Demonstration in der Schloßstraße mit Gummiknüppeln an. Der Erwerbslosenrat Groß-Dresden fordert weitere Demonstrationen bis zur tatsächlichen Senkung der Preise. Am Sonntag ziehen 1000 Demonstrierende durch die Prager Straße zum Opernhaus, fordern Schließung der Luxusrestaurants. In der Neustadt schaffen sie es, fast alle Lokale in der Hauptstraße und Bautzner Straße zu schließen. Am Montag dem 28. Mai besetzen Protestierende schließlich ab 4 Uhr morgens die Hauptmarkthalle in Friedrichstadt und den daneben liegenden Wettiner Bahnhof (heute Bahnhof Mitte). Per Zug ankommende Lieferanten werden zurückgeschickt. Berittene Polizei greift einen Demonstrationszug auf dem Wiener Platz an, wird mit Steinen beworfen und muss sich zurückziehen. Vereinzelt werden Reichswehrsoldaten aus Straßenbahnen geholt und gewaltsam entwaffnet. Um 8 Uhr werden bei einem Angriff auf das Polizeipräsidium (heute Polizeidirektion am Pirnaischen Platz) zwei Demonstrierende durch Schüsse sowie ein Polizist durch Messerstiche und eine Bierflasche verletzt.

Die Inflationskrise erwischt Sachsen besonders schwer, Erwerbslosigkeit und Hunger greifen hier mit am stärksten um sich, den gerade noch im Vorjahr boomenden Gewerkschaften leert die Inflation die Streikkassen. Ermutigt und begünstigt von der linken Landesregierung kommt es zu immer mehr Protesten, die sich im weiteren Verlauf des Sommers besonders in Westsachsen noch erheblich intensivieren werden. Während im Mai und Juni die Bildung einer “Arbeiterregierung” aus SPD und KPD in Thüringen zunächst scheitert und die Proletarischen Hundertschaften, die Ordnungs- und Selbstschutzorgane der Arbeitskräfte, in Preußen im Mai verboten werden, folgt die von der KPD tolerierte SPD-Regierung in Sachsen weiter der Regierungserklärung ihres Ministerpräsidenten Erich Zeigner aus dem April, in der er nicht nur auf eine Überwindung der Privatwirtschaft ohne Bürokratisierung drängte, sondern auch “Abwehrmaßnahmen der Arbeiterschaft gegen putschistische Elemente” billigte.

Die Reichswehr habe sich, so Zeigner, “nicht frei gehalten … von engen Beziehungen zu diesen reaktionären faschistischen Organisationen.” Statt die Republik zu schützen, habe sich die Reichswehr “mehr und mehr zu einer Bedrohung der Republik entwickelt.” Der Reichswehr-Befehlshaber in Sachsen, General Alfred Müller, meldet daraufhin ans Gruppenkommando, die Regierung Zeigner sei “nahezu restlos an die Wünsche der Kommunistischen Partei gebunden”, sein “Werturteil” verlange eine Erwiderung des Reichswehrministers.

Reichswehr und Nazis bekommen wegen des Besatzungsgeschehens im Ruhrgebiet unterdessen Oberwasser. Die sich im Frühjahr häufenden Fälle von Gewalt und Vergewaltigung (etwa 50 Fälle sind dokumentiert) durch die Besatzungstruppen werden von der nationalistischen deutschen Propaganda vor allem marokkanischen und anderen Kolonialtruppen zugeschrieben. Frauen, die im Verdacht standen, sich freiwillig mit den Besatzern einzulassen, wurden schon seit dem Vorjahr von ‘Scherenklubs’ öffentlich gedemütigt und misshandelt.

Am 26. Mai richtet die französische Armee den vorab verurteilten Nazi-Terroristen und Veteranen der Ruhrgebietsmassaker von 1920 Albert Leo Schlageter hin. Er hatte mit Unterstützung von Reichswehr und Polizei Anschläge verübt um den passiven Widerstand in eine aktive nationalistische Erhebung zu eskalieren. (Siehe Posting zum April.) Bereits vor der Hinrichtung geht eine Welle der öffentlichen Empörung durch die deutsche Öffentlichkeit – das Vorgehen wird als Eingriff in die deutsche rechtliche Souveränität angesehen, es kommt zu Gnadengesuchen an den französischen Präsidenten, das Auswärtige Amt versucht den Vatikan einzuschalten. Doch erst nach der Hinrichtung wird Schlageter endgültig zum Märtyrer des deutschen Nationalismus.

Für die NSDAP, deren Zentralorgan bereits im Frühjahr Pläne veröffentlichte, Juden in Lager zu deportieren, und die am 1. Mai in München auf dem Theresienfeld nur dank Schutz und geborgter Waffen der Reichswehr neben einer mehr als zehnmal größeren Massenkundgebung der Gewerkschaften und der SPD posieren konnte, ohne ihr angekündigtes “Massaker” anzurichten, war der schnell einsetzende und von ihr mit Inbrunst angefachte Märtyrerkult um Schlageter vielleicht der stärkste Popularitätsschub bis dahin. Dieser Kult sollte in den folgenden Wochen vor allem in der KPD und der Komintern zu katastrophalen Fehlentscheidungen beitragen.

Durchgang zu den Markthallen am Dresdner Antonsplatz und die Front der Hauptmarkthalle am Wettiner Bahnhof.

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1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
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