1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr

April 17th, 2023

Am 18. April 1923 beginnen in Mülheim an der Ruhr Erwerbslose, die für die Stadt Notstandsarbeiten verrichten, für bessere Bezahlung zu protestieren. Als ihre Demonstration das Rathaus erreicht, verbarrikadieren sich dort Beamte, weil die Stadtverwaltung Verhandlungen ablehnt und die Demonstrierenden versuchen das Gebäude zu stürmen. Zwei Tage kämpfen die Erwerbslosen, teilweise mit Waffen aus einem geplünderten Waffenladen, gegen Polizei und Bürgerwehr, es gibt Tote und Verletzte.

Unterstützt werden die Protestierenden von der syndikalistischen FAUD, die hier relativ stark ist und versucht, einen Generalstreik loszutreten und eine dauerhafte Bewaffnung der Arbeitskräfte sowie die Entwaffnung des bürgerlichen Selbstschutzes durchzusetzen. Das schlägt jedoch fehl und die FAUD wird in der Folge Hauptziel der Repression, ihr Büro wird verwüstet, viele müssen fliehen. Da sie entgegen der nationalistischen Stimmungsmache die Arbeitskräfte offen dazu aufruft, sich nicht für die Interessen der Thyssen, Klöckner, Hugenberg und Stinnes missbrauchen zu lassen, trifft die FAUD hier auch der nationale Furor, der auch in den Großgewerkschaften zunimmt – Vorwürfe werden laut, die Proteste wären von der Besatzungsmacht begünstigt worden.

Ebenfalls am 18. April steigt die Inflation nach einer vorübergehenden Stabilisierung wieder kräftig an. Schon Ende 1922 kostete ein Dollar 10 000 Mark, nach der Ruhrbesetzung stieg der Preis Anfang Februar sprungartig auf über 40 000, konnte dann bei etwa 20 000 stabilisiert werden und klettert nun wieder auf 25 000. Ende Mai werden es schon 54 000 sein. Ursprünglich von der gigantischen Kriegsverschuldung aus dem Weltkrieg angestoßen, hatte die Inflation seither stetig zugenommen und dem Großkapital erlaubt, im großen Stil Betriebe und Immobilien zusammenzukaufen, im Falle von Hugo Stinnes auch z.B. Schiffe, Landgüter, Hotels und Zeitungen. Während die Rekordinflation ab 1923 nun auch inländische Staatsschulden abgeträgt und den Großgrundbesitz entschuldet, die Regierung sich ihren “passiven Widerstand” gegen die Reparationen einiges kosten lässt (vor allem Zahlungen für von Maßnahmen der Besatzungsmächte Betroffene sowie für Kohle), sind Rentner, Kleinsparer, Erwerbslose und viele andere Unterstützungempfänger existentiell getroffen und auch immer größere Teile des Klein- und Bildungsbürgertums. Am 16. April bietet die Reichsregierung Wiederaufnahme der eingestellten Reparationsleistungen mit einer Zahlung von insgesamt 30 Milliarden Goldmark an, was als indiskutabel abgelehnt wird.

Die Ruhrkrise ist unterdessen weiter eskaliert. Am 31. März schießen französische Soldaten, die in den Krupp-Werken in Essen Fahrzeuge beschlagnahmen sollten, in eine Menge von Arbeitskräften, die sie daran hindern wollen, und töten 13 von ihnen. Bürgerliche Politik und Öffentlichkeit verurteilen das scharf, anders als vor drei Jahren bei den erheblich blutigeren österlichen Massakern der Reichswehr im Ruhrgebiet, und entdecken alles, was sie damals und während der ganzen militärischen Konterrevolution geflissentlich übersahen, nun beim alten ‘Erzfeind’. Der liberale Publizist Theodor Wolff schreibt etwa: “Den Tempel des Osterfestes hat der militaristische Gewaltgeist mit dem Blute von Menschenopfern befleckt.” Und ebenfalls anders als damals hält am 10. April der Reichstag in Anwesenheit von Reichspräsident Ebert eine Trauerfeier für die Erschossenen ab.

Die französische Militärpolizei verhaftet in Essen am 7. April Albert Leo Schlageter, der vor drei Jahren während der Reichswehr-Massaker Arbeiterwohnungen in Bottrop mit Artillerie beschießen ließ und zuvor schon im Baltikum und Oberschlesien in Freikorps kämpfte, wegen mutmaßlicher Beteiligung an einem Sprengstoffanschlag auf die Eisenbahnstrecke Dortmund-Duisburg. Schlageter ist nicht nur Teil der Organisation Heinz, die mit Unterstützung durch Polizei und Reichswehr Anschläge gegen die Besatzungsmächte im Ruhrgebiet verübt und “Verräter” ermordet, er gehört auch seit Ende 1922 zur nationalsozialistischen Bewegung. Die kann sich in Bayern vor allem im militärischen und akademischen Milieu konsolidieren, erreicht aber auch immer größere Teile des übrigen Kleinbürgertums, greift im Zuge der Ruhrkrise erstmals auch stärker in andere Teile Deutschlands über. Die NSDAP verdoppelt im Laufe des ersten Halbjahres 1923 ihre Mitgliederzahl von 20 000 auf 40 000.

Am 20. April wird Hitlers Geburtstag im Münchner Zirkus Krone erstmals öffentlich vor 8000 bis 9000 Menschen begangen, Tausende drängen sich noch vor dem Eingang. Hitler spricht zum Thema “Politik und Rasse. Warum sind wir Antisemiten?” Die “deutsche Rasse” werde erst frei sein, wenn der Versailler Vertrag außer Kraft gesetzt und der “innere Feind kaltgestellt” sei. Er hetzt gegen “internationales Finanzjudentum”, “Marxisten” und “Novemberverbrecher”. Alle Juden seien Deutschlands “Todfeinde”. Am lautesten wird er immer, wenn über Juden und Sozialdemokraten spricht. Ebenfalls am 20. April veröffentlicht Julius Streicher, Gründer der NSDAP-Ortsgruppe Nürnberg, die erste Ausgabe der Wochenzeitung “Der Stürmer”, die mit ihrer Mischung aus Gewalt und Pornographie eine der übelsten antisemitischen Propagandaschleudern aller Zeiten wird.

Am 25. April wird in Berlin das 1922 veröffentlichte satirische Mappenwerk “Ecce Homo” des Grafikers und KPD-Mitglieds George Grosz wegen “unzüchtiger Darstellungen” beschlagnahmt.

Fenster des Mülheimer Rathauses und die Tür zum Rathausturm während der Belagerung.

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