Juni 1923: Komintern debattiert Faschismus, Streiks in Sachsen, Prozess gegen Plättner in Halle

June 22nd, 2023

Am 20. Juni 1923 sprechen Clara Zetkin und Karl Radek vorm Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationalen über den Faschismus. Zetkin, deren Rede als eine der frühesten theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Faschismus überhaupt und insbesondere als “erste Analyse des italienischen Faschismus” (Schütrumpf) gilt, bezeichnet ihn als Strafe dafür, die Revolution nicht weitergeführt zu haben, nennt ihn einen “bunt zusammengewürfelten Gewalthaufen”, der als außerlegale, außerstaatliche Machtorganisation für den bürgerlichen Staat fungiert, aber anders als andere Formationen der Konterrevolution weit in alle Teile der Gesellschaft und auch bis ins Proletariat hineinreicht. Die fatale Einmischungspolitik der Komintern in Italien übergehend, verweist Zetkin darauf, dass der italienische Staat den Faschismus 1921 hätte niederschlagen können, ihn aber dem Sozialismus vorzog. Diesen Erfolg in Italien hält sie für wichtiger für den Aufstieg des deutschen Faschismus als Versailles und Ruhrbesetzung.

Selbstschutz gegen den Faschismus, wie er sich in den Betriebshundertschaften bildet, sieht sie als ständig gebotene Notwehr und ebenso als Weg in die Einheitsfront. Jedem einzelnen Arbeiter müsse klargemacht werden: “Auf mich kommt es auch an. Ohne mich geht es nicht. …. Jeder einzelne Proletarier muß fühlen, daß er mehr ist als ein Lohnsklave, mit dem die Wolken und Winde des Kapitalismus der herrschenden Gewalten spielen. Er muß fühlen, klar darüber sein, daß er ein Glied der revolutionären Klasse ist, die den alten Staat der Besitzenden umhämmert in den Staat der Räteordnung.” Die KPD müsse jedoch „den Kampf aufnehmen nicht nur um die Seelen der Proletarier, die dem Faschismus verfallen sind, sondern auch um die Seelen der Klein- und Mittelbürger“. Sie fordert nun eine Ansprache, die auch andere soziale Gruppen als die Industriearbeiterschaft in ihrer Lebenswirklichkeit erreicht: „Wir brauchen eine besondere Literatur für die Agitation unter den Bauern, wir brauchen eine besondere Literatur für die Beamten, Angestellten, Klein- und Mittelbürger jeder Art und wieder eine eigene Literatur für die Arbeit unter den Intellektuellen“.

Während hier besonders am Ende der wertvollen Einschätzungen zum Faschismus schon die immer engere Anlehnung ans sowjetische Vorbild erkennbar ist (Zetkin hatte 1922 in der Sowjetunion in einem Schauprozess gegen Sozialrevolutionäre die Anklage vertreten und für die Todesstrafe plädiert), die sich von der politischen Realität der deutschen ‘Arbeiterregierungen’, der lokalen und regionalen Bündnisse mit der linken Sozialdemokratie und der Orientierung auf eine Zweikammerrepublik, in der Parlament und Räte nebeneinanderstehen, weiter und weiter entfernt, ist die sich anschließende Rede von Karl Radek gleich eine offene und dreiste Intervention – mit vorübergehend katastrophalen Folgen.

Radek meint, dass während der “Rede unserer greisen Führerin” (Zetkin trägt schwerkrank ihre Rede im Sitzen vor) der Name des von der französischen Besatzungsmacht hingerichteten Nazi-Terroristen und vormaligen Freikorps-Offiziers Schlageter ständig ins Bild getreten sei. Er entwickelt nun eine neue Parteilinie (‘Schlageter-Linie’), mit der über Zetkin hinausgehend “die große Mehrheit der national empfindenden Massen” direkt angesprochen werden soll, die seiner Einschätzung nach “nicht in das Lager des Kapitals, sondern in das Lager der Arbeit gehört”. In Anpassung an die sowjetische Strategie, Bündnisse und vor allem Handelsbeziehungen zu kapitalistischen Staaten zu suchen, sollen in den fraglichen Staaten Mehrheiten über die Arbeiterorganisationen hinaus gesucht werden, was vor allem das aktive Werben ums Kleinbürgertum mit Elementen seiner nationalistischen Auffassungen beinhaltet, teilweise Brückenschläge in den faschistischen und antisemitischen Diskurs.

Das ist auch gerade angesichts der Arbeiter-Mehrheiten in Sachsen und Thüringen sowie des allgemeinen Massen-Zulaufs zur KPD abenteuerlich und fußt auf falschen Einschätzungen der Veränderung der Mehrheitsverhältnisse durch die “Proletarisierung” des Kleinbürgertums, geht der deutschen nationalistischen Propaganda und ihrem Schlageter-Kult gewissermaßen auf den Leim. Ohne die konterrevolutionären Gewalttaten Schlageters und seinesgleichen zu übergehen, will Radek sie dennoch für die Revolution gewinnen: “Wir wollen und wir werden zu diesen Massen den Weg suchen und den Weg finden. Wir werden alles tun, daß Männer wie Schlageter, die bereit waren, für eine allgemeine Sache in den Tod zu gehen, nicht Wanderer ins Nichts, sondern Wanderer in eine bessere Zukunft der gesamten Menschheit werden, daß sie ihr heißes, uneigennütziges Blut nicht verspritzen um die Profite der Kohlen- und Eisenbarone, sondern um die Sache des großen arbeitenden deutschen Volkes, das ein Glied ist in der Familie der um ihre Befreiung kämpfenden Völker.”

Die Schlageter-Linie wird zwar bereits im September wieder aufgegeben und führt nirgendwo zu tatsächlicher Zusammenarbeit mit nationalistischen und faschistischen Organisationen, richtet aber in der Zwischenzeit mit ihren öffentlichen Vorstößen erheblichen politischen Schaden an. Besonders in der SPD finden Gegner eines Zusammengehens mit der KPD darin Bestätigung und schlachten sie entsprechend (bis heute) aus.

Radek hatte, ab Februar 1919 für ein Jahr wegen “Beihilfe zum Spartakusputsch, Aufreizung und Geheimbündelei” in Berlin-Moabit inhaftiert, durch sein Gefängnis-Treffen mit dem nationalliberalen AEG-Präsidenten Walter Rathenau den Vertrag von Rapallo vorbereitet (16. April 1922, ratifiziert am 31.1.1923), mit dem Deutschland und die Sowjetunion alle territorialen und finanziellen Ansprüche gegeneinander widerriefen, eine diplomatische Deckung für militärische Zusammenarbeit schufen und so ihre internationale Isolation aufbrechen wollten. Deutschland versuchte damit zudem seine Stellung gegenüber den Raparationsforderungen zu verbessern, trug aber eher zum Einmarsch ins Ruhrgebiet bei.

Am 24. Juni 1922 war Rathenau in Berlin-Grunewald von Angehörigen der Organisation Consul mit Schüssen aus einer Maschinenpistole auf sein Auto ermordet worden. Rathenau, als einer der Hauptorganisatoren der deutschen Kriegswirtschaft im Weltkrieg auch einer der lautesten Kriegstreiber, für Zwangsarbeit und Zeppelinbomben, gegen Waffenstillstand bis zum Schluss, galt den völkisch-antisemitischen Attentätern wegen seiner Rolle in der “Novemberrepublik” (seit Januar 1922 Außenminister, vorher Wiederaufbauminister) und wegen seines jüdischen Hintergrunds als Teil der Verschwörung gegen das Reich, gegen die sie sich verschwören zu müssen meinen.

Der sächsische Ministerpräsident Erich Zeigner spricht sich erneut für eine bedingungslose Aufgabe des ‘passiven Widerstands’ im Ruhrgebiet aus. Er fordert wie schon seit April, für den Ausgleich mit Frankreich auch die Besitzenden entsprechend zur Kasse zu bitten. Für die bürgerliche Opposition im sächsischen Landtag ist das “Provokation” und macht Zeigner für sie endgültig zum “Landesverräter” – ein Misstrauensantrag gegen Zeigner scheitert am 28. Juni, weil die Parteien der ‘Arbeiterregierung’ geschlossen dagegen stimmen.

In Westsachsen, im Zwickauer Revier und im Erzgebirge, zeigen sich die veränderten sächsischen Verhältnisse, in denen die Proletarischen Hundertschaften als Ordnungskräfte teilweise die reguläre Polizei verdrängen können, durch immer selbstbewussteres Auftreten der Arbeitskräfte, die entgegen der Haltung der Großgewerkschaften, angesichts der durch Inflation geleerten Streikkassen auf Stillhalten und “Partnerschaft” mit dem Kapital zu setzen, zu Tausenden in Streik treten. Der Widerspruch zwischen einerseits der Gewerkschaftsführung und der fomalen Parteilichkeit von SPD und KPD für sie und andererseits der sich radikalisierenden Basis beider Parteien gerade in Gegenden, die seit Generationen zu den entschlossenen Kernen der Arbeiterbewegung gehören, wird sich im weiteren Verlauf des Sommers noch zuspitzen.

Vor dem Schwurgericht in Halle beginnt unterdessen am 25. Juni die Hauptverhandlung gegen Karl Plättner und einige Mitwirkende des “revolutionären Bandenkampfs” nach der Niederschlagung des Mitteldeutschen Aufstands. Die Polizei hatte wegen zuvor eingehender Drohungen strenge Sicherheitsvorkehrungen getroffen, Tausende Einsatzkräfte waren aus allen Teilen des Reiches zusammengezogen worden und besetzten für mehrere Tage mit gepanzerten Fahrzeugen und einem Dutzend Wasserwerfern einen großen Teil der Stadt… Oh, sorry, verwechselt, das war in Leipzig, in der Gegenwart, gerade erst… In Halle 1923 wird lediglich eine bewaffnete Postenkette vors Gerichtsgebäude gestellt. Nicht nur die bürgerliche Presse skandalisiert genüsslich den “größten Banditenführer” Mitteldeutschlands, “den berüchtigten kommunistischen Wanderredner und Bandenführer”, auch kommunistische Zeitungen grenzen sich scharf von den “Verzweiflungsakten geistig verwirrter Proletarier” ab, zeigen lediglich wie Wilhelm Pieck in der ‘Roten Fahne’ Verständnis für die “Enttäuschungen über den schleichenden Gang der Revolution”. Plättners Anwalt Hegewisch, der hauptsächlich für die Rote Hilfe arbeitet, fragt sich gegenüber Pieck, “ob ich es noch mit meinem Schamgefühl vereinbaren kann, weiter einer Partei anzugehören, deren Centralorgan in so überhörter Weise revolutionären Kämpfern in den Rücken fällt.”

Plättner hält an drei Verhandlungstagen eine insgesamt 18 Stunden lange Verteidigungsrede ohne Manuskript, kritisiert die Haftbedingungen, erklärt ausführlich und mit lauter Marx-Zitaten seine Stellung zur Revolution, gibt reuelos seine Taten zu und besteht auf einem politischen Verfahren, für das dieses Gericht nicht zuständig ist. Auch die anderen Angeklagten bekennen sich entschieden zu ihren Taten, distanzieren sich nicht von Plättner, sagen nicht gegeneinander aus. Die Hallenser KPD-Zeitung “Klassenkampf” erkennt an, dass es sich hier um Menschen handelt, “die ihrer Anschauung gemäß den Versuch unternahmen, aus der bestehenden Unordnung der kapitalistischen Verhältnisse geordnete Verhältnisse zu schaffen”.

Am 28. Juni verliest das Gericht selbst Plättners Schrift “Der organisierte rote Schrecken!” und bereitet so die Sensation vor: am 3. Juli stimmt der Staatsanwalt der Verteidigung zu und fordert nun ebenfalls die Überweisung des Verfahrens an den Staatsgerichtshof, was nach einigem Hin und Her schließlich im Herbst passiert und bis dahin den Angeklagten wertvolle Zeit verschafft, in der, so hoffen nicht nur sie, die Revolution vielleicht doch noch siegen könnte. Plättner war im November 1918 nur wenige Tage vor seinem Prozesstermin durch die losbrechende Revolution befreit worden.

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1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden
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