Licht und Klarheit, Rausch und Vernunft

November 13th, 2015

Zu Ideengeschichte und Weiterführen der Aufklärung

(Aus der Reihe bestellte, geschriebene und dann nicht veröffentlichte Artikel diesmal mein Beitrag für Phase 2 zur Frage “Was ist Aufklärung?”)

Den Begriff der Aufklärung gibt es mindestens in doppelter Ausführung, zurückgehend auf die ersten großen Bedeutungsfamilien: einerseits die Lumières, die Illuminées, die Beleuchtenden, Lichtmenschen, Erleuchteten, deren Gegner die Dunkelheit war, in der sie, kraft ihres inneren Lichts, des in ihnen entzündeten Feuers, dennoch sehen konnten (wie die Eule der Minerva, einst Wappentier der Athene, später Symboltier der Illuminaten); und auf der anderen Seite eben die Aufklärung, die Ausnüchterung, die den Nebel, den Dunst, den Mief vertreiben, mal ordentlich durchlüften wollte, dem trüben Licht mit Kerzen und Lampen begegnen.

Gleichzeitig gibt es also für sehr ähnliche und eng miteinander verwobene Entwicklungen diese verschiedenen Leitideen: die einer mindestens vorübergehend, möglicherweise aber dauerhaft sehr stark berauschten, lustvollen, ekstatischen Vernunft und die einer möglichst vollkommen nüchternen, leidenschaftslosen Vernunft. Das Unklare, Rauschhafte, Mysteriöse dient der einen Vorstellung als Quelle, der anderen als Feind.


Angela Merkel in Wittenberg, geblendet vom Licht

Es liegt nahe, hier mit dem ganz groben Stift eine Gegenüberstellung zwischen katholischem und protestantischem Konzept zu ziehen: auf der einen Seite steht in Frankreich die Be- und Erleuchtung im Zentrum, in Bayern sind die (be)leuchtenden Illuminaten federführend, während in Österreich Musik entsteht, die den “göttlichen Funken” feiert – es wird versucht, die göttliche Eingebung, die Transzendenz zu säkularisieren bzw. zu immanentisieren; und auf der anderen Seite gibt es das Bestreben, Immanenz zu erzwingen, alles, was vorher noch der Sphäre des herrschaftlich Religiösen angehörte, auf den “harten Boden der Tatsachen” zu holen.

Die katholische Strategie scheint also in der Institutionalisierung des “göttlichen Funkens” zu bestehen, der nach Auffassung der “leuchtenden” Aufklärer dem Menschen innewohnt und aber entzündet werden muss. Auf der anderen Seite steht der protestantische Versuch, diesen “Funken” aus allem außer der rein religiösen Abstraktion auszutreiben und die Menschen auf ihre Untertanen-Verrichtungen herunterzubrechen, deren Bejahung als Freiheit zu verherrlichen. Das eine weist über den Menschen hinaus – es wird erahnt, dass da etwas über den Menschen hinausweist, aber in ihm steckt. Das andere ist eher der Versuch, den Menschen in sich einzusperren.

Das Licht bzw. das Feuer sollte von den Göttern geholt und sich nutzbar gemacht werden – wobei vielleicht zu ahnen bis festzustellen war, dass man das Göttliche selber machen kann und letztlich selber ist. Aus der protestantischen Version entsteht ein Materialismus unter Ausschluss der höheren Gehirnfunktionen, der Rauschfunktionen; aus der katholischen eher unter zumindest versuchtem Einschluss.

Doch lassen sich diese beiden Ansätze, wie eingangs schon angedeutet, nicht so klar trennen, stellen eher die gedanklichen Pole dar, zwischen denen sich die Aufklärung als Ganzes aufspannte.

Keineswegs kam der Gedanke, dass das Göttliche in uns oder unter uns weilt und wirkt, hier zum ersten Mal auf. Es war nur der Moment, in dem das bestimmten Leuten im Zentrum der kapitalistischen Machtentfaltung dämmerte. Alles spricht dafür, dass das auch andere Leuten vorher und hinterher an vielen Orten zu ahnen begannen, die dann andere Schlüsse daraus gezogen haben – immer ging es jedoch darum, das Verhältnis zu sich selbst, zu den anderen Menschen und zum Göttlichen zu ändern. (Sehr schön wird dieser Moment in Terry Pratchetts “Small Gods” eingefangen, wo es u.a. um die Einrichtung einer konstitutionellen Religion geht, die menschlichen Regeln unterworfen wird und die vom Glauben der Menschen lebt.)

Seit dem 18. Jahrhundert ist sehr viel über diese Verhältnisse nachgedacht worden, und zunächst konnten sehr viele Vorstellungen des Göttlichen als Projektion von Familien- und Herrschaftsverhältnissen entziffert werden; anderes wurde durch das Fortschreiten der wissenschaftlich überprüfbaren Weltbetrachtung über den Haufen geworfen. Doch blieb immer ein Rest von Metaphysik, Transzendenz, Spiritualität und Ideologie stehen, weil zwei Zusammenhänge bislang nicht dauerhaft erfolgreich angetastet bzw. verstanden werden konnten: die Herrschaft und der Rausch.

Die Herrschaft, die beständig falsche Auffassungen stiftet, Ideologie erfordert, um gerechtfertigt zu werden, weil sie von vornherein auf solchen falschen Setzungen beruht, die wiederum den (unverstandenen) Rauschfunktionen des Gehirns entnommen wurden.

Und der Rausch selbst, den Menschen u.a. für das Göttliche halten, mit dem wir viele der geglaubten Vorstellungen erzeugen und den wir bis heute nicht als Fähigkeit des Entziehens verstanden haben, die wir üben und selbst zu kontrollieren lernen müssen, damit sie nicht zur Kontrolle über uns verwendet werden kann und damit wir uns nicht selbst mit ihrer Hilfe einsperren.


schlechtezitate.de und schlechtezitate.com sind beide noch frei

Historisch hat sich ab dem 19. Jahrhundert mit den Niederlagen Frankreichs und Österreichs, dann mit den Siegen Preußens und der USA zunächst die “nüchterne” Strategie bis hin zu Prohibition und “Rauschgiftbekämpfung” stärker durchzusetzen vermocht. Diese Ausnüchterung hat, wie die Aufklärung selbst, ihre Dialektik: die unmögliche Austreibung des Rausches, da es Nüchternheit nunmal nicht gibt, suchte die Menschen im Arbeitsrausch („flow“) zu befestigen, diesen als Nüchernheit zu setzen, und gebar immer heftigere und furchtbare Ersatzräusche, immer schlimmeren kollektiven Taumel, immer größere Aufmärsche und Massengewalten – vorläufig, wie so vieles, gipfelnd im Nationalsozialismus.

Die Versprechen der Aufklärung wären nun zusammenzuführen und einzulösen: die Vernunft berauschen und den Rausch erlernen; den mündigen, ansprechbaren, zuverlässigen Mitmenschen unter Einbeziehung seiner Rauschfähigkeiten ermutigen – ein Materialismus unter Einbeziehung des Nervensystems.

Die Aufklärung, die ansteht, ist die Aufklärung der Menschheit über sich selbst – und das macht jede Einzelne und das machen alle zusammen, sonst wird das nichts! Nach wie vor geht es um das, was Marx vor 170 Jahren als Aufgabe aufgeworfen hat: den Aufschwung zu einem Gattungsbewusstsein, die Bewusstseinserweiterung zur Erkenntnis, dass die gesellschaftliche Realität auf dieser Welt von allen Menschen gemeinsam erzeugt wird und verändert werden kann, und dass jeder Mensch seinen Anteil an der Erzeugung dieser Realität hat. (Diese Bewusstwerdung geht letztlich mit den Konzepten und der Praxis von Kommunismus und Tiqqun als Bewegung und Ziel Hand in Hand.)

Für den Moment heißt das: Fokus auf den Kommunismus als wirkliche, praktische Bewegung, als etwas, das gemacht werden muss, das nicht von allein passieren wird. Die Konsequenz aus den bisherigen Fehlschlägen kann nur lauten, es besser zu machen.

In diesem Sinn: aufhören, Unmöglichkeiten zu behaupten, weil’s schwierig ist; Urteile den Erklärungen nachbilden, nicht umgekehrt; Essentialisierungen sein lassen, die vermeintliche Unveränderlichkeiten in den Raum stellen – sogar Deutsche sind nicht so oder so, sondern sind so geworden, und sie waren und sind auch nicht alle so – im März 1919 lagen sie mehrheitlich für diese Zeit genau richtig.

Wenn der Klassenbegriff bei Marx noch zu eng oder zu abgeleitet war, dann müssen wir ihn eben mithilfe von Thompson, Federici, dem “Werktätigen”-Begriff (oder anderen Ansätzen) erweitern. Wenn zu wenige sich an der wirklichen Bewegung beteiligen, dann muss eben dafür gesorgt werden, dass es wieder mehr werden. Wenn die Gegengewalt unterschätzt wurde, muss ihr eben wirkungsvoller begegnet, sie besser überrumpelt, ausgetrickst, in Schach gehalten oder im Aufkommen behindert werden. Wenn zu wenig gestreikt wird, müssen Streiks gefördert und unterstützt werden. Wenn zu wenig Produktionsmittel angeeignet werden, muss es mehr Anstiftung dazu und Unterstützung dafür geben. Wenn der Staat und die Avantgarde-Partei Fallen sind, muss auf Selbstorganisation und größtmögliche Ebenbürtigkeit hingewirkt werden. Wenn zu wenig aufgeklärt wird und wichtigste Sachen viel zu unbekannt und unklar sind, dann muss mehr aufgeklärt werden, das heißt: möglichst viele Menschen machen sich so ebenbürtig wie möglich und erklären sich gegenseitig so viel, wie sie über Herrschaft, Ideologie und deren Überwindung wissen. (Was auch hieße, soviel wie möglich über Rausch und Lust herauszufinden, unsere Fähigkeiten des Entkommens und Verbindens, die wir bislang so gut wie nicht als Fähigkeiten verstehen und entsprechend kaum gezielt entwickeln.)

Und das ist alles nie genug, bis es endlich alle kriegen, was sie brauchen.

2 Responses to “Licht und Klarheit, Rausch und Vernunft”

  1. El_Mocho Says:

    “dass die gesellschaftliche Realität auf dieser Welt von allen Menschen gemeinsam erzeugt wird und verändert werden kann”

    Ist so allgemein gesagt wohl richtig. Aber alle Menschen treten nun mal nicht als handelndes Subjekt auf. Menschen handeln in erster Linie für sich selber, für ihre eigenen individuellen Interessen. Frage wäre, wie man die Menschen dazu bringt, gemeinsam zu handeln, im Interesse aller oder der meisten?

    Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts deuten darauf hin, dass dies eben nicht spontan geschieht, sondern das die individuellen Interessen eine hartnäckige Tendenz haben, sich am Ende durchzusetzen.

  2. classless Says:

    Bezüglich der Realität, sich ständig mit anderen um Lebensnotwendiges streiten und hauen zu müssen, finde ich die Frage der Interessen nicht sehr schwierig und auch nicht besonders individuell.

    Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts deuten m.E. darauf hin, daß immer dann, wenn genügend Menschen versucht haben, diese Basics gemeinsam zu regeln, Massaker und Kriege gegen sie veranstaltet wurden, bis es wieder vorüber war.

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