Trampen in Theorie und Praxis

July 25th, 2006

Die kürzeren Touren der letzten Woche habe ich nicht im einzelnen gebloggt, aber hier noch mal der Schnelldurchlauf. Nach der GiG-Veranstaltung in Leipzig fuhr ich am nächsten Tag mit der Straßenbahn nach Grünau und trampte dann durch die Sonne nach Auerstedt, dem Austragungsort des Auerworld-Festivals. Bemerkenswert war ein älterer Mann mit Hund, der mich an der A9-Ausfahrt Naumburg auflas und, als ich mein Reiseziel angegeben hatte, sofort und übergangslos die geschichtliche Bedeutung der Schlacht von Auerstedt umriß. In schneller Folge sprach er dann von seiner frühzeitigen Ausreise aus der DDR, seinem Engagement an Unis im Westen und in den USA, seine Zeit auf einem israelischen Luftwaffenstützpunkt und seine flüchtige Bekanntschaft mit Protagonisten der Frankfurter Schule. Der Haken war, daß er zuviel auf einmal erzählen wollte und sich dabei verhedderte. Ich fragte hier und da nach, was ihn jedoch nur noch auf mehr Nebenschauplätze trieb.

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Auerworld: The New Telepathics, “Ihre Hypochondrie ist nur eingebildet, sie sind wirklich krank”, “Was willstn am Feuer, ist doch nur heiße Luft”

Auf der Rücktour am Sonntag nach Berlin machte ich mir Gedanken zur Tramptheorie und fand Gefallen an meiner Wortschöpfung “ruptomobil”. Das Problem am Trampen lokalisierte ich in der Überwindung der Ruptophobie der Autofahrer, die zwischen Start und Ziel der Reise (bei Paul Virillo zwischen Subjekt und Objekt) den Trajekt verdrängen würden, den es aber eben noch gibt, bis wir beamen können. Tramper stören also eine mühsam erlernte Routine.

Besonders Ruptophile können jedoch zur Falle für Tramper werden, da sie ständig rausfahren und Pause machen (wie zuletzt unser Lift von der Kanalfähre nach Bayern).

Nach Berlin fuhr dann ein Feuerkünstler aus Kreuzberg, der bei internationalen Festivals auftritt und eine lustige Mischung aus Hausbesetzer-Punk und kosmopolitischer Technophilie präsentierte. Er stellte sich zum Beispiel die Frage, wie er wohl damit umgehen wird, wenn sein Sohn demnächst anfangen sollte, Ketamin zu nehmen. Er empfahl uns das “Pyroporno” von Kain Karawan und dessen “Spiele mit Feuer” als alternativem Ansatz zum Brandschutz.

Dieses Wochenende nun fuhr ich abermals in dieselbe Richtung, machte auf dem Hinweg den Anfängerfehler, bei jemandem weiter mitzufahren, der abseits der Autobahn “nur noch schnell was abholen” wollte, was dann zwei Stunden dauerte, kam aber dennoch zur Prime Time zum Sommerfest in der Alten Feuerwache in Kromsdorf bei Weimar.

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Selbstgemachter Holunderschnaps mit Himbeerlimo, again and again, dazu das eine oder andere andere, Beschallung von Schleck & Stecker, später Gras im Gras und – ach nee, da wuchsen ja gar keine Pilze.

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Noch mal am Sonntag zurück nach Berlin: eine Sprachlehrerin, die Sprachreisen in den USA betreut und mir als Kontrast zu den unvermeidlichen Antiamerikanismen der Nacht eine große Freude war, brachte mich zum Hermsdorfer Kreuz, das bisher nicht zu meinen Lieblings-Trampstellen gehörte. Der Rasthof ist jedoch von einer schwedischen Kette übernommen worden, so daß sich die Preise fürs Essen fast halbiert haben und es allerlei Exotisches im Angebot gibt. Das scheint durchaus für mehr Betrieb zu sorgen, und die eigentliche Stelle zum Anhalten sah ja schon immer recht einladend aus:

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Manko bleibt, daß zuviele Fahrzeuge auf die A4 fahren und dennoch ein Schild nicht unbedingt helfen würde, da ja der bloße Sprung zum nächsten Rasthof in Osterfeld ausreichen würde. Schlußendlich wurde ich von einer Bulimikerin eingeladen, die von ihrem Vater gerade mit einem VW-Bus in die Schweiz gefahren worden war, und sich nun auf der Rückreise nach Berlin befand. Sie schwankte während der Fahrt zwischen klaren und bewegenden Aussagen über ihre Krankheit oder “Macke”, wie sie das nannte, und Phasen, in denen sie sich entglitt und ihren Vater beschimpfte. Sie schien sich danach zu sehnen, aus Deutschland rauszukommen, weil sie der Meinung war, daß sie hier keine Chance bekommen würde, daß es zum Beispiel kaum Frauenfußball gäbe und erst recht keinen für Frauen wie sie. Sie beneidet die Christen, die “richtig denken” und statt der beständigen Zufuhr eines Suchtmittels sich mit ihrem Glauben genügen. In ihrer Darstellung wurde die Bulimie erst richtig schlimm, als sie ihren Glauben verloren hatte, als sie den Eindruck gewonnen hatte, daß ihre Gebete nicht erhört werden und sie schon als leichter Fall irreversibel aus der Gesellschaft ausgeschlossen blieb. “Mit Christen haben die Deutschen leichtes Spiel”, sagte sie, “weil die Christen blöderweise vergeben.”

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