Die ‘junge Welt’ erzählt uns was vom Oktober

November 9th, 2007

Werner Pirker kriegt sich gleich am Anfang der Sonderbeilage nicht mehr ein: ein “Triumph der Demokratie” sei die “Große Sozialistische Oktoberrevolution” gewesen. Und alles liest sich wie im DDR-Geschichtsunterricht: Es gibt eine handlungsfähige Bourgeoisie als Gegner, die Räte scheinen mit der Bolschewistischen Partei praktisch eine Einheit gebildet zu haben, Kornilow wird immer wieder als Schreckgespenst und Platzhalter eines potentiellen russischen Faschismus hervorgeholt.

Der russische Akademiker und Globalisierungskritiker Busgalin schlägt in seinem Beitrag wie Pirker alle Emanzipationsleistungen der russischen Revolution dem Oktober und den Bolschewiki zu. Noch die “partielle Sozialisierung und Humanisierung des Kapitals” im 20. Jahrhundert wird ihr zugeschlagen, als hätte es außerdem keine Arbeiterbewegung gegeben und als hätten die Bolschewiki nicht auch viel weniger partielle Enthumanisierungen hervorgerufen. Busgalin essentialisiert die Errungenschaften der bolschewistischen Machtübernahme, indem er aus der kurzen Konsolidierungsperiode nach Ende des Bürgerkriegs bis in die zweite Hälfte der Zwanziger eine fortschrittliche, friedliche und kulturell vorbildliche Ideal-Sowjetunion zeichnet.

Für Friedrich Kumpf ist im darauffolgenden Beitrag die Oktoberrevolution “in ihrer Tiefe nur mit der sogenannten ‘neolithischen Revolution’ zu vergleichen”. Überhaupt rattert hier die Ableitungsmaschine, die neue Ordnung ist “berufen”, Entwicklungen müssen stattfinden, sind “unausbleiblich”. Kaum noch zu fassen ist das unbeschädigt konservierte Feindbild, wenn es über den von den Bolschewiki zunächst vor allem gegen die bisherigen sozialistischen Träger der Revolution gerichteten Bürgerkrieg heißt:

>>Dieser Bürgerkrieg, mit dem die alten gesellschaftlichen Kräfte en Versuch machten, die im Oktober 1917 eingeleitete Umwälzung mit aller Macht und Brutalität zurückzudrehen.<< Als nächster ist abermals Werner Pirker an der Reihe und topft die beiden Hauptfeinde seines Geschichtsbildes ein: die Februarrevolution ("Legende von der guten Februarrevolution und der bösen Oktoberrevolution") und den Verschwörungsvorwurf ("...als Minderheitenputsch, als das Werk ruchloser Verschwörer..."). Die Erhebung im Februar sei "keinem revolutionären Plan gefolgt" - wie schlimm. Und wie angeblich reputierlich: >>Als spontanes, von keiner revolutionären Partei initiiertes Revolutionsereignis ist ihr im bürgerlichen Geschichtsbewußtsein bis heute ein wohlwollend anerkannter Platz zugewiesen.<< Ah. Nichts hat das Bürgertum demnach lieber, als Menschen, die plötzlich nicht mehr mitmachen. Aber nicht die Abwesenheit einer politischen Repräsentation des Februars ist das Problem, sondern daß die Falschen dazu wurden, nämlich die "einem Marxismus ohne revolutionäre Dialektik anhängenden Menschewiki", die - jetzt kommt's - "die Aufgabe der russischen Revolution mit dem Sturz der zaristischen Selbstherrschaft als erledigt" ansahen. Warum haben sie dann, wie auch die Sozialrevolutionäre, erst noch eine Verfassung beschließen wollen, mit der u.a. die Vergesellschaftung der Großbetriebe und die dauerhafte Institutionalisierung der Räte betrieben werden sollte? Aber auch all die anderen Märchen werden wieder aufgewärmt: daß der erste bolschewistische Aufstand im Juli niedergeschlagen wurde, um die Rätemacht anzugreifen; daß die "gemäßigten" Sozialisten unpopulär waren, daß daher Kerenski einen faschistischen Putsch plante, dem die Bolschewiki zuvorkommen mußten. Neben dem verdammten Februar gibt es aber auch noch das "Verdammungsurteil", im Oktober hätte "ein von einer Verschwörerclique ausgeheckter und auf militärischer Gewalt beruhender Staatsstreich" stattgefunden - dafür gibt es ja in der Tat keinerlei Hinweise! Pirker wirft jenen, die diesen Punkt vorbringen, das aus den Kommentaren dieses Blogs wohlbekannte "Selber Verschwörungstheoretiker!" entgegen: >>In Zeiten, in denen es zur Mode geworden ist, der offiziellen Sicht widersprechende Positionen als Verschwörungstheorien zurückzuweisen, wird ausgerechnet die Oktoberrevolution ausschließlich verschwörungstheoretisch abgehandelt.<< Ebenso wohlbekannt wie widersinnig geht Pirker dann daran, Rechtfertigungen für die eben noch nur unterstellte Verschwörung bei Trotzki zu entleihen, der die Marx-Engelssche "Kunst des Aufstands" in der "Verbindung von Massenaufstand und Verschwörung, der Unterordnung der Verschwörung unter den Aufstand, der Organisierung des Aufstandes durch die Verschwörung" ausmachte. Trotzki gibt hier mit der "Unterordnung" ein hervorragendes Kriterium für die Unterscheidung von Putsch und Revolution an, das im Falle des Oktober allerdings eher für Putsch spricht - für Pirker ging es aber nur darum festzuhalten: Es gab keine Verschwörung, die Verschwörung war jedoch legitim. Der Rest im Schnelldurchlauf: KPÖ-Mann Franz Stephan Parteder zählt es zu den Leistungen der Bolschewiki, daß "im entwickelten Kapitalismus das eingeführt und ausgebaut wurde, was wir Sozialstaat nennen." Das wirft sofort die Frage auf: Was hat Bismarck gewußt? Freidenker Klaus Hartmann bezieht sich auf 1989f. nur als "die Niederlage", hält die Friedenserhaltung für ein Bestimmungsmerkmal des sowjetischen Machtbereichs und sieht im "Widerstand des irakischen Volkes" und in der "Niederlage Israels bei seiner Aggression gegen den Libanon" Zeichen, die das "'Ende der Geschichte' dementieren". Dem Historiker Stefan Doernberg scheint bei der Formulierung, der Oktober hätte "dem ganzen 20. Jahrhundert den Stempel" aufgeprägt, nicht der Gedanke gekommen zu sein, daß das kaum eine positive Aussage ist. Und sowieso: "Fehlentscheidungen" waren "unabwendbar". Er erklärt auch bezüglich des Zweiten Weltkrieges, daß "kein anderer Staat damals dazu fähig" war, den Faschismus zu besiegen: nur die offenbar allein kämpfende Sowjetunion, die auch vorher nicht mit Faschisten paktiert hatte. In der abschließenden "kurzen Chronik" wird der Massenaufstand vom Februar noch einmal zu "zahlreichen Demonstrationen und Arbeitsniederlegungen" verniedlicht, die auch von Lenin als "freiheitlichste der Welt" anerkannte Verfassung mit der Formel "Presse- und Versammlungsfreiheit sowie weitere demokratische Grundrechte" abgehandelt. Kerenski taucht als Bundesgenosse Kornilows auf, mit dem er auf einen "Tag X" hingearbeitet hätte. Unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki haben wir es bei ihren Gegnern plötzlich mit "bewaffneten Kräften der Konterrevolution" zu tun. Selbstverständlich flüchtet zum Ende der Chronik Kerenski aus der Hauptstadt, wenngleich nicht in Frauenkleidern.

11 Responses to “Die ‘junge Welt’ erzählt uns was vom Oktober”

  1. goncourt Says:

    Wenn ich z.B. das Buch von Isaac Deutscher noch richtig in Erinnerung habe (die Trotzki-Biografie), war die Oktoberrevolution auch in den Augen der Akteure (Akteure?) durchaus nicht so planvoll verlaufen.

    Das hat weniger was mit Konspirationen usw. zu tun, als mit der Aufgabe, eine riesige Gesellschaft mit der Revolution überhaupt vertraut zu machen. Bei Deutscher liest sich das schwankend zwischen “ergriff folgende Maßnahmen” und “versuchte irgendwie”. Siehe z.B. das Schwanken zwischen militärischer Diktatur und Neuer ökonomischer Politik, was ja auch nicht immer zielstrebig war. Deutscher geht (jetzt immer nach meinem ungenauen Gedächtnis) so weit, Lenin als “Anarchist” zu bezeichnen, was sich ein bisschen liest, als hätte er weiter mit seiner Strategie des Spaltens von Gruppen und Koalitionen experimentiert, ohne noch recht zu wissen, was dabei rauskommen sollte. Aber es liest sich andererseits auch nicht so, als sei da Lenin, der Drahtzieher, und die Sowjetunion, der Draht. Eher wie eine teils völlig chaotische Improvisation, was angesichts der Dimension des Ereignisses auch nicht wundert. Konspirationen nehmen sich vor solch einem Hintergrund auch sehr nebensächlich aus (man denke nur an den berühmt-berüchtigten Revolutions-Rausch: die Stürmung der Weinkeller des Winterpalais’ durch die Massen, ein Massenphänomen, wie es sie auch in der französischen Revolution gab, das war eine völlig unkontrollierte und unkontrollierbare Situation wie vieles, was sonst geschah).

    Vielleicht tappt man zu schnell in die Falle, wenn man den Texten von damals (auch Deutschers) ihre formale Entschlossenheit und Rigorosität zu sehr abnimmt. Ich hatte neulich nach einem Zitat z.B. aus John Reed suchen wollen, das diesen Charakter irgendwie wiedergibt, aber die Texte lassen sich heute wirklich nicht mehr ohne weiteres, ohne Verweis auf die damaligen Umstände, so in den Raum stellen.

  2. classless Says:

    Ganz wichtiger Punkt: ob wir es mit einer Verschwörung zu tun haben oder nicht, hängt nicht von ihrem Erfolg ab.

  3. ho ho holy shit Says:

    Ich war sehr gespannt auf den angekündigten “kommunistischen Antibolschewismus” und finde die Kritik soweit sehr ausgewogen und nachvollziehbar. Was aber ist mit den Räten und der Abschaffung der Gewaltenteilung? Pirker ist ja ein Verfechter der Rätedemokratie.

  4. knecht Says:

    das ist doch nicht euer ernst, menschen verhungern etc. und hier hat jemand lust und laune fremwörter aneinanderzureihen, ich bin dann mal weg ihr schwachköpfe!?

    und willst du nicht mein bruder sein, dann schlag ich dir den schädel ein*

  5. goncourt Says:

    Classless, sicher.

    Der Text Deutschers ist vor dem Hintergrund auch interessant: er sieht Trotzki nicht unkritisch, aber er beschreibt die verschiedenen Koalitionen Stalin/Sinovjew, Stalin/Kamenew, Sinovjew/Bucharin, als verschiedene Gruppierungen gegen den isolierten Trotzki, nimmt da also die Perspektive Trotzkis ein, der Verschwörungen gegen sich zugange sieht. Interessant finde ich aber, wie selbst hier durchschimmert, dass verschiedene Entwicklungen der historischen Ereignisse den Leuten aus der Hand gleiten, und die das merken. Und dass hier, ich weiß nicht, wie weit man mit dieser These überhaupt gehen kann, Verschwörungen einerseits, Verschwörungstheorien andererseits, auch einen Versuch darstellen, sich als Subjekte der Geschichte wieder ins Boot zu holen.

  6. goncourt Says:

    @knecht: “Anderswo verhungern Menschen und Ihr verwendet Fremdwörter”

    So habe ich das noch nie betrachtet.

  7. classless Says:

    @goncourt
    Das ist genau der Selbstermächtigungs-Aspekt, den ich für die Vermittlung von Verschwörungsdenken (und Verschwörungspraxis) für so zentral halte. Verschwörungstheorien zeigen sehr oft den Versuch an, in unübersichtlichen Situationen überhaupt zu verstehen, was los ist. In dieser Funktion stellen sie ebenso häufig Ausgangspunkte oder Durchgangsstationen für weitere Erkenntnisse dar, die keineswegs verschwörungsideologisch sein müssen ( wenngleich das selbstredend gerade hierzulande meist doch so ausgeht.)

    Gerade in Anbetracht der ohnmächtigen Subjekte in vielen politischen Denkschulen (Wertkritik, Poststrukturalismus) bieten verschwörungstheoretische Ansätze eine Möglichkeit, sich Gedanken – oder eben absurde Vorstellungen – über Handlungsoptionen zu machen.

  8. sakuska Says:

    eine ausführliche kritische betrachtung der oktoberrevolution aus situationistischer sicht findet sich in der aktuellen sowie der letzten ausgabe des ceeieh unter dem titel “aufstieg und fall des konzentrierten spektakels”, geschrieben von negator. -> conne-island.de

  9. godforgivesbigots Says:

    Verschwörung oder nicht, die sowjetische Oktoberrevolution war ein erkenntnistheoretischer Centaurus, d.i. hier eine politische Revolution im Sattel einer industriellen, die jedoch dem unkundigen Beobachter als ein Gesamtgebilde erscheinen.

  10. Hagbard Jesus Celine Says:

    Ein erkenntnistheoretischer Pferdemensch? Kannst du das nochmal unkryptisch? Ist die Revolution bis zum Oktober das noch nicht gewesen?

  11. godforgivesbigots Says:

    Zum Umgang mit dieser Figur der griechischer Mythologie empfehle ich Timothy Learys Differenzierung zwischen Set und Setting.

    Der wirtschaftliche Übergang Rußlands vom Agrar- zum Industrieland entspricht dem Setting, die politische Entwicklung die zur amtlichen Verabreichung der Heilslehre führt dem Set.

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