Lektüre in Thale

September 10th, 2006

Während ich schreibe, verstaue ich meist auch Unmengen von anderen Texten in meinem Kopf. Also, nicht ganz gleichzeitig, aber beinahe. Der Blog-Konsum und die Netzrecherche drehen völlig durch, aber auch das gute alte Papier findet seinen Weg.

In den letzten zwei Wochen las ich die beiden relevanten Bände der Propyläen-Weltgeschichte (Reformation zu Revolution und 19. Jahrhundert) fast komplett; Bieberstein, den Standard zur Verschwörungstheorie, mehrmals; Knigges “Joseph von Wurmbrand” diagonal, aber vollständig; dazu in Häppchen Wilsons “Lexikon der Verschwörungstheorien”.

Etwas weiter abseits der Recherche versuchte ich Michael Moore zu lesen und hielt es nicht durch, las stattdessen die im Haus befindliche leninistische Literatur zum Thema, zum Beispiel ein nl konkret von 1986 (Peter Jacobs: Spuren ins Dunkle. Attentate und Attentäter zwischen Dallas und Rom), in dem auf der selben Seite erst der Glauben an die Macht von Einzeltaten als bürgerliche Ideologie denunziert wird und es dann aber sofort heißt:

Längst haben die reaktionärsten Kreise der Bourgeoisie gelernt, Attentate zweischneidig zu handhaben: erstens, um damit ihre eigenen Gruppeninteressen auszufechten, zweitens, um fortschrittliche Bewegungen und insbesondere die Arbeiterklasse niederzuschlagen.

Meine Verschwörungstheorie ist keine Verschwörungstheorie.

Lenin selbst liest sich immer noch ermüdend, auch mit neuen Fragen an den Text und neuem Erkenntnisinteresse hat sich für mich nichts an der bleischweren Qualität solcher Passagen geändert:

Bogdanows Verneinung der objektiven Wahrheit ist Agnositizismus und Subjektivismus. Die Absurdität dieser Vernei­nung erhellt schon aus dem oben erwähnten Beispiel einer naturgeschichtlichen Wahrheit. Die Naturwissenschaft läßt keinen Zweifel darüber zu, daß ihre Feststellung, die Erde habe vor der Menschheit existiert, eine Wahrheit ist. (Über die Religion)

Es ist, wie es ist, weil es so ist. (Und ich recht habe.)

Das Zerstreuungsprogramm hatte eine nette Überraschung, einen Klassiker und eine Enttäuschung am Start. In den repetitiven Baukastensatiren von Kishon fand ich eine schöne Geschichte übers Trampen

Daher habe ich vorige Woche auf meiner Wind­schutzscheibe eine Gegentafel angebracht: »Tut mir leid, biege nach zwei Häuserblocks ab.«

und eine schöne Geschichtenhälfte übers Kopieren

…man kauft sich im Ausland einige Filmkassetten, liest sorgfältig den Vermerk, der das Kopieren der Videokassetten für illegal und strafbar erklärt, kopiert die Kassette und vermietet sie gegen Kaution, nicht ohne vorher auf der Hülle sorgfältig zu vermerken, daß es illegal ist, diese Kassette zu kopieren … Und so gingen sie hin und vermehrten sich, bis sie über die ganze Erde verteilt waren…

Von den vielen Pratchett-Büchern hatte ich ausgerechnet “Pyramiden” noch nie gelesen und kann es als Antidot gegen Geschichtsglauben nur wärmstens empfehlen, besonders die Passage, in der der Epheber Copolymer die Geschichte des Tsortanischen Krieges vorträgt. Und natürlich auch wegen Passagen wie dieser:

Teppic sah auf seinen eigenen Teller hinab. Im Alten Königreich servierte man nur selten Meeresfrüchte, und was sich nun den Blicken des jungen Pharaos dar­bot, wies eindeutig zu viele Saugnäpfe und Tentakel auf, um Appetit zu wecken. Vorsichtig hob er ein ge­kochtes Weinblatt und glaubte zu beobachten, wie sich etwas hinter einer Olive versteckte.
Das Symposium verhalf Teppic zu einer weiteren Er­kenntnis. Die Epheber stellten Wein aus allem her, das in einem Eimer Platz fand – und sie aßen alles, was nicht herauskriechen konnte.
Er stocherte auf seinem Teller herum. Einige Dinge leisteten entschlossenen Widerstand.

Tiefpunkt der gesamten Textinhalation war aber der etwa einen Meter dicke Schinken “Der Schwarm” von Frank Schätzing. Daß ich ihn nach dem bereits furchtbar selbstgefälligen “Lautlos” überhaupt las, hat zweifellos mit persönlichen Empfehlungen zu tun, die mich dazu brachten, bis zum Schluß darauf zu hoffen, daß noch irgendwas kommt. Seitenweise gießt Schätzing mühsam angelerntes Wissen über die Meeresbiologie aus, es ist reine Angeberei, die man sich nur geben kann, wenn man davon ausgeht, daß überraschende Details davon für den Ausgang der Geschichte relevant werden könnten.

Das Ende ist dann aber so abrupt und platt, daß die sorgfältig ausgebreiteten Informationen vollkommen nutzlos bleiben. Die CIA-Leute werden zu den reinen Bösewichtern, da sie mit dem ozeanischen Kollektiv Yrr, das gerade versucht, die Menschheit auszurotten, keinen kritischen Dialog suchen. Unlogischerweise wird der Bestand des globalen Ökosystems von der Unversehrtheit dieser genetisch manipulierenden Meereszivilisation abhängig gemacht. Der Biologismus, der sich die meiste Zeit im Buch in Grenzen hielt und nicht zuletzt durch Äußerungen der CIA-Figuren ausbalanciert wurde, steigert sich auf den letzten Seiten zu einer üblen Bewunderung reinen Überlebens, Funktioneirens und Selektierens.

Ganz schlimm. Tut’s euch nicht an.

Jetzt bin ich gerade wieder in Berlin aufgeschlagen und es warten schon auf mich: “Going Postal” von Pratchett (dank Netzbestellung) und “Die Communisten-Verschwörungen des neunzehnten Jahrhunderts” von Königl. Hannöverschem Polizei-Director Dr. jur Wermuth und Königl. Preußischem Polizei-Director Dr. jur. Stieber (dank Stabi und Oona). Der neue Broder ist hingegen immer noch nicht eingetroffen.

5 Responses to “Lektüre in Thale”

  1. al Says:

    Zum Thema Lenin fällt mir da eine Kindheitserinnerung ein: Am Kulturhaus hing da seinerzeit (frühe 80er) eine Losung: “Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.”. Da erfasste mich zum ersten Mal dieses spezielle Lachen, wo einem eigentlich zum Weinen ist. Ich fand diese Tautologie (freilich hätte ich es damals im zarten alter von 12-13 Jahren nicht so benennen können) so lächerlich und dachte, das sei die Kreation eines minderbemittelten Provinz-Kaders. Meine Belustigtheit daran konnte ich aber damals irgendwie keinem so richtig vermitteln, je nach Grad der Rotlichtverstrahlung erntete ich Schulterzucken bis Stirnrunzeln. Später habe ich dann erfahren, das es sich dabei um ein berühmtes Lenin-Zitat handelte. Die ersten Risse im Weltbild…

  2. classless Says:

    Ach ja, die “Drei Quellen des Marxismus” – Selbstallmächtigung von Eisenach bis Shanghai.

  3. bigmouth Says:

    findest du Pratchett immer noch lesbar? ich habe 95 angefangen, ihn zu lesen, und ihn sofort (mit 13) heiss & innig geliebt, aber eigentlich finde ich, da ist seit jahren die luft raus, weil die struktur bekannt ist

  4. classless Says:

    Naja, die Struktur ist es sicherlich nicht – die spricht allerdings aus meiner Sicht gegen nahezu sämtliche Belletristik. Seit ich Wilson und Burroughs gelesen habe, langweilt mich der Aufbau von Erzählungen allgemein. Pratchett mag ich wohl eher wegen bestimmter Passagen und Ideen, wegen des quasi diskordischen Umgangs mit Mythen, wegen der Anti-Helden und nicht zuletzt, weil er oft wirklich komisch ist.

  5. classless Kulla » Blog Archive » Stellen bei Pratchett Says:

    […] Zur weiterer Illustration, was ich letzthin über Passagen und Stellen bei Pratchett schrieb, hier noch zwei neue Beispiele aus ‘Going Postal’: He stopped. Miss Cripslock was scribbling like mad, and it’s always worrying to see a journalist take a sudden interest in what you’re saying, especially when you half suspect it was a load of pigeon guano. And it gets worse when they’re smiling. […]

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