Karlsruhe -> Thale

June 4th, 2007

Genau wie ich ist der Physikstudent unterwegs wegen einer Veranstaltung ohne Gage und Fahrtkostenerstattung – er macht den Sonntagsgottesdienst in der Frankfurter Christuskirche. Wir führen ein intensives Gespräch über die lutherische Tradition, über Münster und Müntzer, Luthers Ideen und die Fremdzuschreibungen der anderen. Der Fahrer meint, die meisten Priester würden heute nicht mehr an Gott glauben und die meisten Menschen wohl in die Hölle kommen, wo es jedoch kein Fegefeuer gäbe, sondern nur eine endgültige Trennung von Gott.

Ich frage ihn ein bißchen aus über die Position gegenüber den Juden, wobei er u.a. behauptet, Luthers diesbezügliche Äußerungen seien gar nicht unbedingt von ihm selbst. Der Fahrer sagt, er könnte Juden Fragen über das Alte Testament stellen, die sie nicht beantworten könnten. Als Beispiel führt er Jesaja 53 an, in dem seiner Meinung nach explizit über Jesus gesprochen wird und das konservative Juden daher aus Prinzip nicht lesen würden. Als ich darauf hinweise, daß viele religiöse Juden ungeachtet dieser oder jener Textstelle vor allem wegen dem, was ihnen von ihren christlichen Mitmenschen angetan wurde, nicht glauben, daß der Messias schon dagewesen sei, findet der Fahrer das verständlich und ist für einen Moment still.

Später fragt er mich, ob Atheisten missionieren würden und ich antworte einerseits, daß ich mich eher als Agnostiker bezeichnen würde und verweise ihn auf die letzte Spiegel-Titelgeschichte über Dawkins und den “Gotteswahn”. Wir diskutieren darüber, inwiefern diese Form von atheistischem Fundamentalismus die Trennung zwischen Religion und Wissenschaft aufhebt, nach der vereinfacht gesagt die Wissenschaft für die Verbesserung der Erklärung des Erklärbaren und die Religion für die Verwaltung des Unerklärlichen zuständig war. Nun besteht Dawkins, soweit es dem Spiegel zu entnehmen ist, darauf, daß alles wissenschaftlich erklärbar ist und setzt die wissenschaftlichen Erkenntnisse in Form eines Kanons. Damit trifft er Totalaussagen, die für eine Kirche nicht überraschend sind, für die wissenschaftliche Methode jedoch verheerend.

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Von einem Reggae-Festival in Polen erzählt der am Arm verletzte Bauarbeiter, der früher auch viel zwischen Polen und Deutschland herumgefahren ist und sich dann aber von seinen Brüdern zu einem seßhafteren Lebensstil überreden ließ. Seine Verletzung fällt in die Rubrik “Rauchen gefährdet die Gesundheit”: er hatte eine Zigarette erst ausmachen wollen, als seine Bohrmaschine schon in Betrieb war. Mit einer Hand hatte er aber nicht mehr genug Gewalt über das Gerät, als es wegen einer Wandunebenheit ausschlug und sich ein Stück in seinen Unterarm bohrte. Als wir wieder beim Reggae angekommen sind und ich sage, daß ich wegen der immer wieder auftauchenden schwulenfeindlichen Texte nicht mehr so gern danach tanzen mag, fragt er mich, ob ich schwul bin.

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Von Kirchheim bis Kassel spielt mir ein ruhiger Junghippie bemerkenswerte Musik aus den späten Sechzigern vor, ich hab mir “Pentacle” und “Streetmark” aufgeschrieben und werd mal danach fahnden. Von Kassel bis zur Abfahrt Rhüden/Harz bekomme ich von dem Gespräch der vorn sitzenden Stuttgarter nichts mit und träume vor mich hin. Von der Abfahrt geht es wie immer direkt bis in die Thalenser Umgebung, diesmal mit einer Quedlinburgerin, die gerade eine Verwandte in Michigan besucht hat und die über Unterschiede zwischen dort und hier spricht. Ein Bekannter aus früheren Ilsenburger Diskotagen fährt mich bis ein Dorf vor Thale, dann fährt mich ein Thalenser Ehepaar bis vor die Haustür.

6 Responses to “Karlsruhe -> Thale”

  1. Christian Says:

    Dawkins, ja. Der Mann sieht sich gewiss als Träger einer Mission.

    Ich kannte ihn zuerst ja eher über “The Selfish Gene”, das ich nach wie vor für ein wundervolles, sorgfältig, intelligent und erhellend argumentiertes Buch halte; danach in “The Root of all Evil” wirkte sein Stil des sorgfältigen Arguments ins Format der Fernsehpolemik getragen schon etwas verbogen und zugunsten der Polemik verwässert, und seit er mit einer gewissen Medienpräsenz seinen ‘atheistischen Kreuzzug’ tätigt, komme ich nicht umhin, ihm das öffentliche Erscheinungsbild eines auf die “Truth with a capital T” versteiften, von Alternativmeinungen beleidigten Giftzwergs zu attestieren.

    Nichtsdestotrotz möchte ich mir ein endgültiges Urteil zurückhalten, bis ich vielleicht mal in “The God Delusion” reingeschaut habe, vielleicht argumentiert er da ja in breiterer Entwicklung seiner Gedanken über die Form der markigen TV-Polemik-Phrase hinaus doch noch so sorgfältig und intelligent wie damals in den 70ern, und holt damit nach, was in “The Root of all Evil” ein wenig an den Rand gedrückt war. Vor allem die Funktionsweise von Religion als Mem / “Virus” ist etwas, wo ich ihm vielleicht noch den einen oder anderen interessanten Gedanken zutraue, wobei die Grundpunkte dazu von ihm ja eigentlich auch schon in “The Selfish Gene” abgehandelt wurden.

    Ich bin mir nicht sicher, ob Dawkins tatsächlich auf eine Wissenschaft der Wahren Totalaussagen hinaus will (auch er selbst argumentiert gerne, z.B. in “The Root of all Evil”, mit den argumentativen Unterschieden zwischen Religion und Wissenschaft, lobpreist das Prinzip der ewigen wissenschaftlichen Selbsthinterfragung gegenüber religiösem Wahrheitsdogmatismus) oder ob er nicht nur in diese Richtung tendiert, wenn er öffentlichkeitswirksame Polemik üben will. Ich traue ihm durchaus letzteres zu, fände es aber schade, dass er das als nötig betrachte, denn dann liefe es ja auch nur wieder darauf hinaus, die Intelligenz derer, die er überzeugen möchte, gering zu schätzen.

    Vielleicht liegt das Problem auch einfach in seiner Verquickung einer erkenntnistheoretisch-ontologisch-philosophischen Fragestellung mit Kategorien der Moral — in direkter Spiegelung eines religiösen Vorgehens.

    Die Spiegel-Titelgeschichte dazu fand ich gar nicht mal so daneben liegend in ihren Darstellungen.

  2. Dirk Says:

    Die Kirche als Verwalterin des Unerklärbaren ist eine lustige Vorstellung. Das Akausale, Unsystematische und Irrationale verwalten zu wollen, spricht vom großen Unverständnis der Grenzen der Verwaltbarkeit und dem traurigen Bedürfnis das Unerklärbare endgültig zu beseitigen, indem man es durch Glaubensaxiome ersetzt. Wie wäre es damit, den akausalen Aspekt in unserer Welt endlich als befreiendes Element anzuerkennen, dass uns noch aus jeder Endlosschleife der Begründbarkeiten retten kann? Das Rauschen, welches sich bei mir persönlich auch als derzeitiger Dauergast namens Tinitus kund tut, ist vielleicht viel mehr mit Gott zu identifizieren, als irgend ein Dogma über die Dreispaltigkeit des Wahnsinns.

    Mindestens genauso lustig ist der Anspruch, dass Wissenschaft alles erklären kann. Dieser Wahnsinn kennt verschiedene Abstufungen. Ein milde Variante ist die, dass grundsätzlich alles erklärbar ist, aber die Eklärung aufgrund von Aufwandsabschätzungen wohl nicht erreicht werden kann. Ist schlimm genug, weil immer noch und trotz Unendlichkeiten ein Gefängnis. Doch es kann schlimmer kommen: Es sei nicht nur grundsätzlich erklärbar, sondern nun soll das auch noch erreichbar sein. Indes sind beide Varianten nur dem glaubwürdig, der der Erkenntnis der unausweichlichen Paradoxien, konsequent und voller Weltfremdheit blind gegenübersteht. Wer Feynmanns Spruch “Wer behauptet die Quantenmechanik zu verstehen, versteht sie nicht” dergestalt interpretiert, dass es halt verdammt schwer ist, sie zu verstehen, hat die Paradoxie und den Kern der Sache nicht erkannt. Man kann die statistischen Phänomene beschreiben, aber ihre Ursache erklären oder verstehen kann man eben nicht. Das meint Feynmann. Er schreibt auch seinem Buch “Quantenelektrodynamik” die Natur sei verrückt und meint das nicht als Scherz.

    Abschließend möchte ich meine Ansicht über die Gemeinsamkeit und den Untschied von Wissenschaft und Kirche loswerden. Gleich sind sie sich darin, dass sie zum Glauben gezwungen sind. Die Kirche macht daraus ein vermeintliches Alleinstellungsmerkmal und die Wissenschaft versucht es gerne mal zu verheimlichen. Krass unterscheiden sie sich darin, wie sie ihr Glaubensmodell dem neuesten Erkenntnisstand anpassen können. Kirche und Wissenschaft tun sich darin beide schwer, doch besitzt die Wissenschaft mit ihrem Anspruch der wissenschaftlichen Methode eine Absage an das Dogma. Sagen wir es so: die Kirche ist nicht bereit zu mutieren und damit eine Superposition zwischen Leben und Tod einzunehmen. Die Wissenschaft tut das letztlich und erreicht die genannte Superposition. Deshalb wird Wissenschaft die Welt nie erklären können ihr aber immer wieder in bestimmten Grenzen gerecht werden können.

    Danke für’s Ertragen des Ergusses 😉

  3. n99 Says:

    Dawkins meint nicht, dass Wissenschaft alles erklären kann, ausserdem behaupter auch nicht dass Gott nicht existiert – nur, dass die Wahrscheinlichkeit extrem gering ist und es deshalb vernünftig ist, nicht an Gott zu glauben. Ich habe “The Selfish Gene” nicht gelesen, fand “The God Delusion” aber ganz in Ordnung. Gut argumentiert, aber auch nicht allzuviel neues.

  4. michael Says:

    @Dirk: Mit dem Feynman-Spruch, dass man die Quantentheorie nicht verstehen könne, kann er doch nur meinen, dass sie niemandem anschaulich ist. Anschaulichkeit ist aber etwas anderes als Erklärungskraft und für eine gute – und vielleicht sogar für die bestmögliche, objektiv wahre, wie auch immer – Theorie überhaupt nicht nötig.

    Ob uns ein Vorgang anschaulich werden kann oder nicht hängt davon ab, ob wir gute Analogien zwischen den Gegenständen der Theorie und vertrauten Vorgängen in Alltagsgrößenordnungen finden können. In dem Sinn sind die Planetenbewegungen anschaulich, weil man eine belastbare Anlogie zwischen Planeten und Bällen, Gravitation und Fäden usw. herstellen kann, die Quantentheorie aber nicht, weil Eigenschaften wie “Spin” beim besten Willen keine Entsprechung im Mesokosmos haben. Trotzdem ist die Quantentheorie unheimlich erklärungsstark und eine der am besten empirisch bestätigten Theorien, die es gibt.

    Was uns anschaulich werden kann und was nicht, das hängt einfach von den Größenordnungen unserer Umwelt ab (unser Leben spielt sich nicht auf Elementarteilchenebene ab) und ist damit zufällig und eher eine psychologische Frage.

    Ich finde, es gibt keinen Grund für die steile Behauptung, man könne prinzipiell nicht alles erklären können (ob wissenschaftlich oder nicht). Dazu fehlt nämlich schon eine Definition von “Erklärtheit”, die soetwas hergibt. Daß Erklärung etwas mit “Superposition zwischen Leben und Tod” zu tun haben soll, kann ich mir nun wiederum nicht vorstellen.

  5. Dirk Says:

    @michael

    “Mit dem Feynman-Spruch, dass man die Quantentheorie nicht verstehen könne, kann er doch nur meinen, dass sie niemandem anschaulich ist.”

    Eben genau das nicht. Das versuchte ich ja herauszuarbeiten. Es ist ein grundsätzliches Problem der Erklärbarkeit/Verstehbarkeit die Feynmann meint.

    “Trotzdem ist die Quantentheorie unheimlich erklärungsstark und eine der am besten empirisch bestätigten Theorien, die es gibt.”

    Das habe ich ja gar nicht bestritten und ich habe auch nicht bestritten, dass die Wissenschaft erklären kann. Was ich bestritten habe ist, dass sie alles erklären kann.

    “Daß Erklärung etwas mit “Superposition zwischen Leben und Tod” zu tun haben soll, kann ich mir nun wiederum nicht vorstellen.”

    Nun, auch das habe ich nicht behauptet. Mit der Superposition zwischen Leben und Tod ist gemeint, was die Evolution die ganze Zeit macht. Sie passt sich der sich ändernen Umwelt an und bedient sich dabei auch des Sterbens. Ohne Sterben keine Evolution. Ohne Evolution kein Leben. Das ist die Superposition. Meine Aussage meint also, dass die Kirche sich im Gegensatz zur Wissenschaft nicht evolutionär verhält.

    Ist doch ganz einfach 😉

  6. classless Kulla » Blog Archive » Richard Dawkins - Der Gotteswahn (1) Says:

    […] keineswegs pauschale Weise, in der Dawkins’ Plädoyers für den Atheismus daherkommen, waren meine Äußerungen vorschnell, Dawkins würde “die wissenschaftlichen Erkenntnisse in Form eines Kanons” […]

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