Offline Empirie

June 17th, 2007

Neben dem sorglosen Transport, dem Belüften des Gedankengehäuses und der sozialen Vermittlung war ein wesentlicher Aspekt am Trampen für mich stets die Konfrontation mit anderen Auffassungen, Anschauungen, Erfahrungen. All diese Leute waren und sind davon überzeugt, Recht zu haben mit dem, was sie sagten und sagen. Während ich, der ich häufig nachfrage und zweifle, demnach stets im Unrecht bin.

Es lag auf der Hand, daß sie alle unmöglich mit all den sich widersprechenden Ansichten richtig liegen konnten, dennoch gestaltete sich bei den meisten Ansichten der Versuch schwieriger als gedacht, ihnen ihre Plausibilität abzusprechen, gerade unter Einbeziehung der jeweiligen Erfahrungen und Erlebnisse, aus denen sie sich speisten. Ich beschloß, aufmerksam zuzuhören, aus allen Perspektiven mitzuschauen und am besten erst mit einigem Abstand zu entscheiden, welche Gedanken ich übernehmen, parken oder verwerfen sollte.

In Autos aus dem Westen verteidigte den Osten, gegen Ostler den Westen, Hanfaktivisten fragte ich über den Stand der Dinge in Sachen THC-Konzentration und Sucht aus, Psychologen über ihre Vorstellung von Normalität, jammernden deutschen LKW-Fahrern hielt ich die gewerkschaftliche Organisation ihrer französischen Kollegen entgegen, Moslems fragte ich, ob sie dereinst im Paradies Schweinefleisch essen dürften, Christen, die sich kein friedliches Zusammenleben ohne Religion vorstellen konnten, erzählte ich von meiner atheistischen Familie usw. usw. usw.

Durch diese nicht selten therapeutisch erscheinenden, stundenlangen Unterhaltungen hatte ich das Gefühl, wirklich etwas über die Fahrenden zu erfahren. Erst nach fast zehn Jahren Tramperei bekam ich am Institut für Europäische Ethnologie mit, daß die empirische Sozialforschung diese Methode als “Teilnehmende Beobachtung” bezeichnet und meine Versuchsanordnung – so anonym wie wechselseitig gewünscht und zwanglos – für optimal hält.

Da Trampen seit Mitte der Neunziger aber immer mehr zu einer Mini-Minderheitenveranstaltung geworden ist und meine diesbezüglichen Erfahrungen meist eher als exotisch zu gelten scheinen, erhoffte ich mir vom Internet, eine ähnliche anonymisierbare Vermittlung anzubieten, die es den lieben Mitmenschen ermöglichen würde, in der Art meiner Trampgespräche ihre Auffassungen kollidieren zu lassen, sie zu kontaminieren, sie korrigieren und modifizieren zu können.

Auch wenn ich nicht behaupten möchte, daß das alles im Internet überhaupt nicht passiert und ich letztlich auch nur einen kleinen und vermutlich unrepräsentativen Ausschnitt dauerhaft mitverfolgt habe, in dem sich vor allem Linksradikale, Strategiespieler und der Lunatic Fringe tummeln, bin ich bisher von der Entwicklung der Debatte ausgesprochen enttäuscht. Diskussionsforen wie das KF entwickelten Abschottungsmechanismen, die sie immer mehr zum Onlineersatz für Real-Life-Gruppenmief werden ließen. Der Auszug aus den Foren in die Weblogs, von dem ich mir wiederum erhoffte, daß hier Diskussion in erster Person stattfinden könnte, erzeugte in den Kommentaren Ersatzforen mit den gleichen Strukturen wie zuvor. Viele Blogger scheinen zudem von den Reaktionen eher entmutigt zu sein, offene Auseinandersetzungen zu führen und verkriechen sich stattdessen im Identitären und Beliebigen.

In den Foren und Kommentarsektionen werden Intruder und Newbies assimiliert, in Schubladen gesteckt, verhöhnt oder niedergeschrien. Der ohnehin schon immer richtige Standpunkt wird weiter zementiert, man zelebriert Selbstvergewisserung und Rechthaberei, Abgrenzung und Dünkel, zeigt keine Schwäche und tritt immer noch mal nach. Das alles funktioniert wie organisierte Lernvermeidung.

Insofern sehe ich derzeit nichts, was der Empirie des Trampens vergleichbar wäre, höre aber dennoch nicht auf, den Liberalen kommunistischen Content entgegenzuhalten und den Kommunisten diskordischen. Ich mache das nach wie vor hauptsächlich, weil ich hoffe, das eine oder andere besser zu schnallen.

16 Responses to “Offline Empirie”

  1. sammelsurium Says:

    Auch wenn ich mich von oben genannten Mechanismen und Verhaltensweisen nicht freisprechen würde, nimmst Du mir die Worte aus dem Mund.

    Und jetzt?

  2. nonono Says:

    Naja, Battle!

  3. classless Says:

    Wenn ich auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht haben würde, daß andere Menschen, ohne dumm, verblendet, neurotisch, schlecht informiert oder bösartig zu sein, eine auch grundsätzlich andere Auffassung zu ähnlichen Erlebnissen entwickeln können, wäre das schon was wert.

  4. sammelsurium Says:

    Oh, Missverständnis. Ich wollte keinen Battle, sondern finde das, was classless als Problem geschildert hat, ähnlich. Ich frage mich nur, wie das anders gehen kann.

    Ehm, auf eine Empirie des Trampens kann ich dabei nicht zurückgreifen. Und werde ich auch nicht können, weil mich daran gewisse Umstände und innere Barrieren hindern.

  5. Sabotage Says:

    Die Versuche Foren mit deinem Anspruch zu führen scheitern allerdings daran, dass man sich dann als Linksradikaler oft wochenlang mit sturen Leuten auseinandersetzen kann in dem Glauben, bald eine neue Ebene der Diskussion, einen Durchbruch, zu schaffen und am Ende feststellen muss, dass man selbst nichts daraus gelernt hat abgesehen von der Tatsache, dass der Gegenüber nicht einmal versucht hat dich zu verstehen und eine ernsthafte Diskussion zu führen.
    In Foren wie dem KF hat die Abschottung ja glücklicherweise dazu geführt, dass man wenigstens mit Leuten diskutieren konnte, denen man nicht vergeblich zu erklären versuchte, dass “Deutschland” nicht ewig war und nicht ewig sein wird.

  6. unkultur Says:

    Ich fand den Artikel zunächst relativ konfus, erst nach mehrmaligem Lesen komme ich ungefähr dahinter was gemeint ist bzw. glaube eine plausible Interpretation zu haben. Insbesondere den Sprung vom Trampen zum KF empfand ich als etwas verwirrend. Ich glaube auch nicht wirklich, dass beide lebensweltliche Sphären etwas gemeinsam haben. Wolltest du im Internet ähnliche Erfahrungen wie beim Trampen machen, müsstest du dich auf allgemeinpolitische Foren begeben oder entsprechende Blogs lesen. So kommt die nahezu tautologische Beobachtung dabei raus, dass das Offline-Szenegetto mit all seinen Skurrilitäten auch im Netz reproduziert wird. Nur dass Egopathen und ihre Blogs im Netz eher Aufmerksamkeit bekommen als die Missonarstaten des irren ML-Zeitungsverkäufers am Alex.
    Insofern schmeisst du die Ebene trampen (relativ heterogener, großer Pool von Leuten) mit den paar Hanseln und Hanselinnen zusammen, die sich einst auf dem KF tummelten.

  7. classless Says:

    Ähm, lies es noch mal. Das KF war nur _ein_ Beispiel.

  8. unkultur Says:

    Großartige Antwort, auch nach mehrmaligem Lesen komme ich nicht dahinter, was Intention Ihres Postings war bzw. ist und verweise auch meinen ersten Kommentar. Und dem Begriff “Teilnehmende Beobachtung” wäre ich doch prinzipiell mal kritisch gegenüber. Ansonsten könnte ich auch jeden Nachmittagsspaziergang als empirische Sozialforschung umdeklarieren.

  9. classless Says:

    Oh, das wäre ja ganz schrecklich, wenn sich Wissenschaft und Erfahrung nicht mehr säuberlich trennen ließen, wenn der Herrschaftscharakter der Wissenschaft nicht mehr eindeutig zutage träte und Aneignungslogik nicht mehr glasklar von der Produktionslogik zu sondern wäre!

    Ich bin diesbezüglich altmodisch, daß ich mir von neuen Vermittlungsformen solange Veränderungen erhoffe, bis sie mich restlos enttäuscht haben.

  10. unkultur Says:

    Ganz altmodisch beharre ich dann doch darauf, dass ich etwa der Aussage einer teilnehmenden Beobachtung “weil ich einen Menschen mit schwarzer Haut beim klauen gesehen habe sind folglich alle Ausländer kriminell” jeglichen empirischen Gehalt abspreche. Bei aller Kritik an der Wissenschaft birgt diese doch im Kern noch die Möglichkeit zur Aufklärung über sich selbst, was ich beim Alltagsverstand doch eher für zweifelhaft halte. Egal, Battle über wissenschaftstheoretische Positionen wollte ich eigentlich nicht, mich würde viel eher interessieren warum du glaubst, dass Blogs ausgerechnet das Gegenteil von “organisierte(r) Lernvermeidung” sein müssten? Zur re-publica gab es Diskussionen in eine ansatzweise ähnliche Richtung, ich erinnere mich da an den Spruch von odradek: Medienkompetenz ist kein Garant für Aufklärung. Also meine Frage: warum sollte es deiner Ansicht nach online weniger neurotisch zugehen als offline?

  11. classless Says:

    Ich weiß nicht, ob neurotisch das Kriterium ist, aber um dabei zu bleiben, hatte ich lediglich gehofft, es könnte online an einigen Stellen so wenig neurotisch sein wie aufgrund ähnlicher Kommunikationsbedingungen beim Trampen.

    Du hast das Konzept von Teilnehmender Beobachtung irgendwie nicht verstanden, es basiert auf jeden Fall nicht darauf, Einzelbeobachtungen zu totalen Aussagen zu verallgemeinern.

  12. unkultur Says:

    Naja, über den Inhalt des Arguments “du hast etwas nicht verstanden” ließe sich noch diskutieren. Ich war während des Studiums intensiv mit qualitativen Methoden der Sozialforschung in Theorie und Praxis beschäftigt und meine, dass ich dadurch in der Lage bin mich zu ihrem wissenschaftlichen Gehalt qualifiziert äußern zu können. Und aus “was mir so am Tag durch den Kopf schwirrt” wird einfach keine Wissenschaft, da kann man machen, was man will.

  13. classless Says:

    Wenn du dich damit so intensiv auseinandergesetzt hast, finde ich dein Beispiel der verallgemeinerten Aussage besonders merkwürdig. Vielleicht ist aber Teilnehmende Beobachtung bei Soziologen auch anders als bei Cultural Studies, wo die analytische Beschränkung des Ganzen m.E. immer mitgedacht wurde.

    Naja, jetzt trampe ich erst mal los.

  14. Michael Kostic Says:

    Den Unterschied zwischen denen die lediglich denken etwas entdeckt zu haben, und denen die etwas verstanden haben erkennt man an der ersichtlichen wie verborgenen Handlungskonsequenz. Beispiel: Ein Blogger schreibt er sei Kommunist, sozial veranlagter „Gemeinwohlmensch“ wirbt aber derweil für Google und/oder Amazon. Sprich denkt er nur etwas verstanden zu haben, also glaubt es im religiösen Sinn der Sache. Denn hätte er verstanden wären diesem Verstehen Taten gefolgt, gäbe es ab dem Moment seiner Feststellung zur politisch geistigen Ausrichtung, zumindest auf seinem Blog, keine Werbung mehr für jene Kräfte die seine geistige Haltung so nachhaltig zersetzen…

    Was die geistig digitale Rudelbildung angeht, sei doch einmal klar festgestellt, dass jene die elektronische „I“ oder „IT“ schaffen, vornehmlich männlichen Geschlechts und daher, zumindest was die niveauvolle geistige Konversation angeht, nur allzu häufig geistig minderbemittelt sind. Da es ihnen oft schon schwer fällt einer einzelnen analogen Person länger als 5 Min. ihre Aufmerksamkeit zu schenken, entwickeln sie selbstredend lediglich Werkzeuge die eben diese Einstellung in ihrer Funktionalität widerspiegeln. Merke: Staubsauger werden von Männern für Männer entwickelt, und so sehen sie dann zum einen auch aus und lärmen zum anderen auch so vor sich hin wie Männer dies nun einmal erwarten.

    Von alle dem einmal abgesehen. Egal ob beim Trampen oder beim Besuch div. Cafe‘s, immer muss „Mann“ oder „Frau“, je nachdem welche Art der Konversation gesucht wird, sich erst einmal vergewissern, ob die oder der Gesprächspartner ober- oder unterhalb der Gürtellinie denkt. Wieso sollte sich genau dies nicht auch in den digitalen Penisverlängerungen bzw. Mitteln zum geistigen Exhibitionismus widerspiegeln?

  15. Benni Says:

    @Michael: Und warum machst Du dann auf Deinen Seiten Werbung für Adobe? Ist das jetzt neuerdings ne Kommune?

  16. Michael Kostic Says:

    @Benni:

    Es sind nicht meine Seiten. Ich bin Teil all dessen.

    Auf Adobe wir dort nur obhin des Dokumentformat „PDF“ verwiesen siehe hier:
    http://de.wikipedia.org/wiki/PDF

    Wer der Vernetzung folgt wird feststellen, dass selbiger direkt auf die Seite bei Adobe verweist auf der Besucher den sog. Reader kostenfrei laden können.

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