Richard Dawkins – Der Gotteswahn (Teil 3 und Schluß)

April 20th, 2009

Vielleicht liege ich falsch und die schroffe Teilung der Welt in Gute (Atheisten), Böse (Religiöse) und Kollaborateure (Agnostiker) (siehe Teil 1 des Postings) ist in Situationen heftigen religiösen Backlashs angemessen, meine Krümelkackerei bezüglich der Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Wissenschaft und Religion (siehe Teil 2) hingegen unangemessen.

Kirche im Dorf

Doch die Verengung des Blicks auf die Religion erklärt nicht nur diese zum bestimmenden Übel, sie sorgt auch dafür, daß praktisch alle anderen möglichen Gründe für soziale Konflikte und Probleme unterschätzt werden oder auch völlig aus dem Blick geraten. Dawkins schreibt:

Es gibt Missstände und Ungerechtigkeiten, und die haben offensichtlich kaum etwas mit Religion zu tun; nur – und das ist wichtig und wird allgemein übersehen – gäbe es ohne die Religion keine [!] Etiketten, anhand derer man entscheiden könnte, wen man unterdrückt und an wem man sich rächt.

Die Religion markiert ganz allein die Opfer und Gegner. Es gibt dafür keine Klassen, keine Geschlechter, keinen Nationalismus, keinen Rassismus. (Luther und Müntzer trugen vermutlich auch einen pur religiösen Konflikt aus…)

Wenn Dawkins weiter ins Detail geht und die spezifische Art und Weise dieser Etikettierung zu bestimmen versucht, fällt auf, daß er nichts aufführt, was nur für Religionen gelten und sie somit auszeichnen würde. Für Dawkins “verstärkt und verschärft” Religion die “natürliche Neigung des Menschen, innerhalb der Gruppe loyal und nach außen feindselig zu sein, auf drei Weisen”.

Die erste ist die “Etikettierung von Kindern” – das machen Rassimus, Klassenzuordnung und jeder Nationalismus auch, von der Geschlechterzuweisung ganz zu schweigen. Die zweite sind “konfessionelle Schulen”, also die Trennung der Schüler nach ihrer sozialen Herkunft – das macht jede Klassengesellschaft. Das dritte ist die “Tabuisierung von Mischehen”, die ebenfalls zur Klassengesellschaft wie auch zum Rassismus dazugehört.

Diese jeweils anderen Etikettierungen werden von Dawkins im ganzen Buch nicht erwähnt, er scheint sie einfach nicht auf dem Schirm zu haben. (Vielleicht kennt jemand mehr von ihm und kann mir sagen, wo er sich doch dazu äußert…) Wenn dem aber so ist, trägt Dawkins eine recht typische bürgerliche Einstellung zur Schau: Er lastet Probleme und Konflikte, die größtenteils zur modernen Welt des Kapitalismus gehören, einer vorbürgerlichen Instanz an, von der einige der verwendeten “Etiketten” stammen.

Nichts anderes glauben

So tritt die Religion stellvertretend fürs Ancien Régime neben Korruption und Verbrechen als den Lieblingsausreden der bürgerlichen Gesellschaft dafür, daß sie (noch) nicht so toll ist, wie sie ohne diese bedauerlichen Phänomene sein würde; wie es also wäre, wenn die liberale Utopie endlich Realität werden würde. Damit das passieren kann, muß der gesunde Menschenverstand des Warensubjektes sich nicht nur nominal in der bürgerlich-demokratischen Herrschaft durchsetzen, sondern er muß möglichst zum alleinigen Maßstab werden. Es darf an nichts anders mehr bedingungslos geglaubt werden als an den Wert, es darf keinen anderen allgemeingültigen Maßstab mehr geben als den antizipierten Marktpreis, Glauben darf sozusagen nur noch im Sinne des Abkaufens stattfinden. Das Nähere regelt die staatsbürgerliche Moral:

Dass das Privateigentum und sein Schutz ein Segen sind, dass sich Leistung lohnt, Misserfolge an mangelnder Leistungsbereitschaft oder Fähigkeiten liegen, ohne Geld niemand an die Dinge seines Bedarfs herankommt etc., das sind Inhalte des falschen Bewusstseins, mit dem der Nachwuchs dann gesellschaftstauglich die Schule zu verlassen hat.” (Freerk Huisken, via Prüfi)

John Gray wirft Dawkins vor, er würde darüber hinweggehen, daß einige der schlimmsten Gräueltaten der Moderne von Regimes begangen wurden, die sich wissenschaftlich legitimierten. Nachdem Dawkins sich jedoch erfolgreich um dieses Thema herumgedrückt hat (siehe Teil 1), wird klar, daß der Kapitalismus diese Art von Legitimation kaum noch braucht. Die letzte Wahrheit über die Dinge und die Menschen, ihre Verwertbarkeit fürs Kapital und ihre Nützlichkeit als Staatsbürger, braucht kaum noch jemandem bewiesen zu werden.

Jeder, dem das nicht unmittelbar einleuchten sollte oder der nicht so funktioniert, wird – das ist “akzeptierter Mainstream in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung” – verhöhnt, verspottet und pathologisiert. Genau auf dieser Klaviatur spielt Dawkins richtig gern, und hier wird es dann auch entsprechend unschön.

Sie sagen, Sie hätten Gott direkt erlebt? Nun ja, manche Menschen haben auch einen rosa Elefanten erlebt… (Jung glaubte auch, bestimmte Bücher in seinem Regal würden von selbst mit einem lauten Knall explodieren.) (…)

Menschen in psychiatrischen Kliniken halten sich für Napoleon oder Charlie Chaplin, und andere glauben, die ganze Welt habe sich gegen sie verschworen oder sie könnten anderen ihre Gedanken in den Kopf senden. Darüber machen wir uns lustig [!], aber wir nehmen ihre innerlich offenbarten Überzeugungen nicht ernst, vor allem weil nicht viele Menschen sie teilen.[!]”

Da spricht die Norm, die Verrückten sind lustig, ihre Verrücktheit ist ja in der Minderheit. (Bad Religion: “Truth is determined by consensus…”) Und in diesem Sound geht es weiter: die Neuen Hebriden “waren schon lange von Missionaren verseucht”, zölibatäre Priester sind völlig unsensibel gegenüber “normalen menschlichen Gefühlen” und eine Gläubige ist nicht “gut genug” für einen Atheisten.

Wenig überraschend gelingt Dawkins der argumentative Sprung vom individuellen zur kollektiven Wahn mühelos:

Schwieriger sind Massenvisionen abzuhandeln[!], beispielsweise der Bericht, wonach siebzigtausend Pilger 1917 im portugiesischen Fatima sahen, “wie die Sonne sich vom Himmel losriss und auf die Menge herunterstürzte”. Wie siebzigtausend Menschen die gleiche Halluzination haben können, ist nicht ohne weiteres zu erklären. (…) Aber man sollte nicht erwarten, dass wir anderen es für bare Münze nehmen, insbesondere wenn wir auch nur die geringsten Kenntnisse über das Gehirn und seine große Leistungsfähigkeit besitzen.

Das heißt einfach, 70000 Menschen haben kollektiv halluziniert, und nach den vorangegangenen Ausführungen über geistige Gesundheit heißt das: ihr bildet euch das alles nur ein, weil ihr verrückt seid und in die Klapse gehört.

Kapitalismus minus Religion gleich Befreiung

“Atheismus”, schreibt John Gray, “müßte kein derart missionarischer Glaube sein. Es ist völlig vernünftig, keinen religiösen Glauben zu haben und dennoch freundlich gegenüber der Religion zu sein. Es ist eine seltsame Art von Humanismus, die eine originär menschliche Regung verdammt. Und genau das tun evangelikale Atheisten, wenn sie die Religion verteufeln.”

Wo ist der Seufzer der bedrängten Kreatur? Wo sind die Behinderten und die Alkoholiker? Wo ist die Bereitschaft anzuerkennen, daß alle Aufklärung nur bis zum Mechanismus der Religion und zu den üblen Effekten ihres gesellschaftlichen Einflusses vordringt, jedoch nicht wirklich darauf abzielen kann und sollte, die Religion aus der Welt zu schaffen und den Gläubigen vorzuschreiben, was sie zu glauben haben oder nicht. (South Park: “No one answer is ever the answer.”)

Keine Frage, kaum ein Land auf der Welt – und schon gar nicht dieses – ist säkular genug, um davon sprechen zu können, Religion würde nicht ins Leben der Nicht-Gläubigen massiv hineinregieren; keine Frage, Kampagnen wie Pro Reli sind besorgniserregend und verdienen entschiedene Ablehnung.

Dennoch ist Dawkins’ Gleichsetzung von Befreiung mit Befreiung von Religion, wie er sie am Schluß seines Buches in Aussicht stellt, ein gefährlicher Gedanke. Er klingt nach mehr als Säkularisierung, nämlich nach Tilgung eines unverstandenen Anderen, das einer Befreiung im Wege stehen soll, die es im Kapitalismus nichts geben kann. Dawkins ist zuzustimmen, wenn er schreibt:

Würde man den Kindern beibringen, ihre eigenen Überzeugungen zu hinterfragen, statt sie die überlegene Tugend des Glaubens ohne Fragen zu lehren, kann man mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sie nicht zu Selbstmordattentätern würden.

Doch würde das auch das (praktische) Hinterfragen von Wissenschaft und Kapitalismus einschließen müssen, um den gewünschten Effekt zu haben.

  • Teil 1 des Postings
  • Teil 2 des Postings
  • Alle drei Teile als PDF: classless Kulla: Rezension Richard Dawkins “Der Gotteswahn”

    (Heute abend Info-Veranstaltung: “Pro Reli” – Ausweitung der Kreuzzone?, 19 Uhr – JUP (Florastr. 84, nahe U- und S-Bhf Pankow), Extra Antifa-Café)

    10 Responses to “Richard Dawkins – Der Gotteswahn (Teil 3 und Schluß)”

    1. Ahmet Says:

      “Wenn Dawkins weiter ins Detail geht und” …Du hast Recht, allerdings führt Dawkins nur auf, dass die organisierte Religion sich dieser Argumentation zu Nutze macht und den Glauben als Vorwand dabei nutzt. Dawkins war übrigens früher selbst gläubiger Christ und fiel nach und nach vom Glauben ab – vieles kommt da also auch aus persönlicher Erfahrung (zB das Erlebte am Glauben), von einem “unverstandenen Anderen” kann also nicht die Rede sein. Im übrigen beschreibt er Atheismus in einem anderen Werk ebenfalls als eine Glaubensrichtung.
      Was das praktische Hinterfragen von Wissenschaft angeht: völlig richtig, diese ist aber in der Wissenschaft auch tief verankert. Wer mit Leib und Seele Wissenschaftler ist (einfach nur in der Uni arbeiten und forschen zählt nicht dazu), wird auch die eigenen Ansätze hinterfragen und sie zu belegen – oder widerlegen – versuchen.

    2. knecht Says:

      ich sehe das so, das man, gewisse sachen einfach übertreiben und polemisieren “muß”(sollte). habe nach der lektüre dieses buches den entschluß gafasst zu glauben das dieser weg der richtige ist, um die masse zu erreichen, ich bin selbst nicht sonderlich intelligent und verstehe das meiste fremdwort aneinandergereihe nicht bzw. tue mich verdammt schwer damit, deshalb begrüße ich ein bisschen einfache und verständliche polemik und übertreibung. (seht ihr wahrscheinlich bedeutet polemik und übertreibung das selbe, ich weiß es aber einfach nicht und bin auch zu faul zum nachschlagen). also ich finde das es sachen gibt, tue ich wirklich, über welche es sich nicht lohnt zu reden, und eine davon ist religion, in welcher form auch immer. wenn das einer braucht bitte, aber bitte nicht vollabern!?

    3. Cannabis Kommando Says:

      Bigott sein geht auch ohne Gott, und manche probieren alle Möglichkeiten oder wechseln zwischen unterschiedlichen Varianten von Bigotterie hin und her. Das Problem ist ja auch von bekehrten Atheisten bekannt, dass sie die in ihrem Vorleben verfochtenen Ansichten nun mit derselben Inbrunst niedermachen, spontan fällt mir da bspw. Joe Wittrock ein.

    4. Arschkrebs (2.0/compatible) Says:

      Was das praktische Hinterfragen von Wissenschaft angeht: völlig richtig, diese ist aber in der Wissenschaft auch tief verankert. Wer mit Leib und Seele Wissenschaftler ist (einfach nur in der Uni arbeiten und forschen zählt nicht dazu), wird auch die eigenen Ansätze hinterfragen und sie zu belegen – oder widerlegen – versuchen.

      +1

    5. soapbubbleuniverse Says:

      Sind nicht alle Fragen hierzu bereits in der Dialektik der Auklärung beantwortet? Just a thought… Oder spätestens in Claussens Aspekte der Alltagsreligion?
      Jenseits davon, ‘seriöse’ Wissenschaft beruht notwendig und grundlegend, wie bereits erwähnt, auf Verifikation/Falsifikation (im Gegensatz zu Religion), bzw. permanenter Weiterentwicklung, z.B.: “Was eigentlich ist Gravitation?” vgl. Newton/ Einstein.
      ‘Sozialdarwinismus’ und entsprechend rassistisches Gedankengut müssten sich also permanent einer Überprüfung (!) unterziehen, was die Protagonisten natürlich nicht zulassen – womit sie in ihrer Struktur bereits wieder einem ‘Glauben’ anhängen – sich hier auf Wissenschaft zu berufen, ist absurd, aber gewollt. Da sich Dawkins an den ‘klassischen Religionsvorstellungen’ abarbeitet, gehen natürlich solche relevanten Details verloren. Wie immer, wenn ausschließlich polemisiert wird.
      Anyway, Dank dafür, dass das Unbehagen an Dawkins (das ich teile) mal detailliert dargelegt wurde.
      + Meme – pöh – ich verweigere mich!

    6. classless Says:

      Bei Wilson heißt es über Crowley, er “lehnte Glaube und Vernunft ab (…) Blieb also nur die Methode des Experiments…”

      Something like that?

    7. soapbubbleuniverse Says:

      Allerdings benötigen Experimente auch einen ‘moralischen’ Rahmen, der sich meist bereits aus der These ergibt. Woraus man eventuell schließen könnte, dass es so etwas wie ‘unmoralische’ Thesen gibt, deren Natur sich spätestens im Experiment zeigt. Was daraus resultiert, Venunft im selben Maße wie Crowley abzulehnen, ist ja ersichtlich.
      Ich sehe übrigens kein Problem darin, ‘den Menschen’ statt Gott auf einen Sockel zu stellen; mir fällt im Moment nichts Sinnvolleres ein, als das Individuum für sakrosankt zu erklären – however, alles brain work in progress…. Ziehen wir doch einfach den Sockel weg und sehen dann, ob sie auch schweben können :).

    8. sub aqua maledicere temptant Says:

      http://letzterhieb.blogsport.de/2009/04/21/gott-ist-untot/

    9. neuronal Says:

      “Was daraus resultiert, Vernunft im selben Maße wie Crowley abzulehnen, ist ja ersichtlich.”

      Is it?

      Geht’s bei Crowley (ich nehm jetzt mal den AC der Wilson-Auslegung, nicht den von irgendwelchen Magie-Wackos) nicht darum, dass “Vernunft” nur ein Gehirnmodus/Geisteszustand unter vielen ist? Wär doch ein Ausgangspunkt, eine Metaebene zu finden, die Wissenschaft und Religion als auf verschiedenen Augen blinde “belief systems” integriert?

    10. shigekuni Says:

      http://shigekuni.wordpress.com/2009/04/25/triumphgeheul-der-kreuzritter/

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