Diskussion zum 1917-Vortrag

October 10th, 2010

Jörg Finkenberger hat bei “der letzte hype” – wie versprochen – eine ausführliche Kritik an meinem 1917-Vortrag formuliert:

>>Daniel Kulla betrachtet den Oktoberumsturz nur nach der Seite hin, dass er die autonome Macht der Räte-Organisation der bolschewikischen Partei unterworfen und damit zerstört hat. Er stellt aber nicht dar, dass dieser Umsturz dennoch zustande gekommen ist genau als eine Betätigung dieser autonomen Macht.<< Gerade die Auslassung der Luxemburgschen Position muß ich mir wohl wirklich vorwerfen lassen, wenngleich ihre Einbeziehung und die ausführlichere Erläuterung der offenbar teilweise höchst mißverständlichen Stellen meines Vortrages das Ganze endgültig zu einem Redemarathon Fidel-Castro'schen Ausmaßes machen würde. >>Mit der bolschewistischen These, dass diese Situation ohne die Oktoberrevolution in eine konterrevolutionäre Militärdiktatur gemündet hätte, hat sich Daniel Kulla auch nicht auseinandergesetzt.<< Gut, dazu habe ich im Vortrag nur ein paar kurze Bemerkungen gemacht, über das "Schreckgespenst Kornilow" etwa. Es spricht für mich viel dafür, daß die Gefahr des "ersten Faschismus", wie Trotzki das später nannte, eine verselbständigte Rechtfertigungsgeschichte ist: wir haben euch vor Schlimmerem bewahrt usw. >>Und was, wenn die russische Revolution das nicht von alleine getan hätte?<< Das werden wir ja unter anderem nie erfahren, weil sie usurpiert wurde, bevor sie sich das Programm geben konnte. >>Gegen Lenin an die Selbsttätigkeit des Proletariats appellieren aber geht vielleicht doch nicht so einfach, wie es Daniel Kulla gerne hätte.<< Leider eine sehr häufige Gegenüberstellung: daß es nur die Alternativen "bolschewistische Wehrfähigkeit" und autonomes Proletariat gab - ich würde dagegenhalten, daß sämtliche Organisationen, in denen Arbeiter und Bauern stark vertreten waren, sich der Aufgaben von Regierung, Verteidigung, Planung und Bekämpfung von Konterrevolutionären angenommen haben. Das leninbolschewistische Programm erscheint mir in vielen dieser Dinge nicht so besonders - besonders scheint mir hingegen die Praxis, das Subproletariat und die demobilisierten Soldaten zur Not gegen den gesamten Rest der Bevölkerung in Stellung zu bringen. >>Und es hat in allen „revolutionären“ Parteien, von den nationalen Separatisten über die Bolschewiki bis zu den Anarchisten, Pogromisten gegeben. Es gab sie seltsamerweise dort nicht, wo die kaiserliche Armee stand.<< An der Stelle habe ich ein Problem mit der Quellenlage: von sich behaupten alle Fraktionen, Pogrome unterbunden zu haben; von Machno etwa wird berichtet, daß er Pogromisten selbst erschoß. Daß die deutsche Armee, die sich bereits in rassistisch-antislawischen Massakern erging, gegen die Antisemiten mehr unternommen haben soll, erscheint mir einfach unplausibel - was sind denn die Quellen für diese These? >>In der von linken SR-Kreisen damals ventilierten Option eines revolutionären Krieges gegen das deutsche Kaiserreich eine Urszene des antifaschistischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus zu sehen, bzw. in Lenins Frieden von Brest-Litowsk eine Vorform des Hitler-Stalin-Paktes, scheint mir auch nicht weit zu führen.<< Die What-if-Frage, die neben die stattgefundene Geschichte eine hält, in der Lenin im entscheidenden Moment nicht hätte nach Rußland reisen können, verlängert ja nur die übrigen Entwicklungslinien: SR und Menschewiki hätten wahrscheinlich die Deutschen länger hinzuhalten versucht, der deutsche Zusammenbruch wäre vielleicht eher eingetreten, die deutsche Besetzung der Ukraine wäre dann ausgeblieben und zwischen der gemäßigt-sozialistischen russischen Revolution und der europäischen Sozialdemokratie wären dauerhaft breite Bündnisse möglich gewesen. Unklar ist, wie bei allen diesen Fragen, was für andere Faktoren durch Lenins Fehlen hinzugetreten wären, was er durch späteres Eingreifen ausgelöst hätte, in welche Richtung sich SR und Menschewiki an der Macht entwickelt hätten usw.

7 Responses to “Diskussion zum 1917-Vortrag”

  1. Benni Says:

    Geschichte als die Geschichte großer Männer? Oder wie soll ich den letzten Absatz verstehen?

  2. classless Says:

    Nein, nicht prinzipiell – nur in diesem konkreten Fall ändert die Person Lenin eine ganze Menge.

  3. sten Says:

    zwei anmerkungen

    1) zur besetzung der ukraine: es gab noch andere akteure als die deutschen und die russen, franzosen, briten polen hätten versucht teile der ukraine, polen und litauer teile weißrusslands zu besetzen

    den sich anschließenden interventionskrieg hätte frankreich, england, die usa, csr, polen auch gegen eine “gemäßigt-sozialistischen russischen Revolution ” geführt, wenn diese in der land- und friedensfrage die gleiche entscheidung getroffen hätte wie die bolschewiki (und wenn nicht, hätte sie keinen bestand gehabt)

    2) zu deutsche besatzung und juden im 1. weltkrieg: eine plausibilität des deutschen einschreitens gegen pogromisten lässt sich daraus ableiten, dass die deutsche politik gegenüber den juden zu dieser zeit keine eliminatorisch antisemitische war und die besetzten gebiete der versorgung für die versorgung des reiches unabdingbar waren. ruhe und ordnung vertragen sich schlecht mit pogromen. ich hab irgendwo auch mal berichte gelesen, dass viele ostjuden die deutsche besatzung der russischen vorgezogen haben, weil erstere nicht so rabiat antisemitisch war und sie sich außerdem in rußland eh schon mit dem vorwurf der deutschfreundlichkeit (z.t. wohl wegen der möglichkeit jiddischer muttersprachler mit den deutschen zu kommunizieren) konfrontiert sahen.

  4. letzter hype Says:

    letzter hype! letzter hype! nicht nype! klassless culla, das hast du mit absicht getan!111

    nicht

  5. Donauwelle Says:

    Die kaiserliche Bürokratie hat Lenin durchreisen lassen um Militärkapazitäten für die Westfront freizumachen. Die sollten dorthin weil es da wegen der amerikanischen Intervention sehr viel schlechter lief als vorgesehen. Hätten die Amerikaner nicht das Zimmermann-Telegramm entschlüsselt, wäre die Versenkung der Lusitania welche ja tatsächlich Waffen an England liefern sollte wohl folgenlos geblieben. Wahrscheinlich hätten sie an der Monroe-Doktrin festgehalten. Das revolutionäre Russland wäre dann einem von Berlin aus beherrschten Europa gegenübergestanden. Vielleicht wäre es überrannt worden so wie die Pariser Kommune, vielleicht hätte es das in Unfreiheit geeinte Europa befreit. Die Weltgeschichte kennt kein stabiles Patt. Die Niederlagen von gestern sind der Nährboden für die Revolten von morgen, deswegen versucht totale Herrschaft immer die Geschichte zu verdrängen. Doch selbst die Sklaven des römischen Imperiums sind der Freiheit näher gekommen als die irgendeines früheren antiken Großreichs, einschließlich jener die erst gar nicht dazu werden wollten. Eine für künftige Entwicklungen maßgebliche Folge der russischen Revolution ist das Wissen dass der demokratische Kapitalismus keine Stabilität bietet, eben weil er nichts weiter als ein derartiges Patt ist. Wenn heute der deutsche Prätendent (LOL) in Moskau weilt dann mag er das vielleicht gerne verdrängen, aber soviel kann der Mann gar nicht trinken. Sein russischer Gegenüber will zwar auch Dissidenten einsperren, aber einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Rosa Luxemburg und Liu Xiabo dürfte er selbst im Vollsuff nicht erkennen. Das ist vielleicht die Bilanz des 20. Jahrhunderts, dass Russland immer der übelste Kollateralschaden deutscher Lebenslügen war.

    @letzter hype – Fremde Tippfehler bemerkt man grundsätzlich leichter als seine eigenen.

  6. Vita activa Says:

    Im Angesicht der von Gesine Lötzsch Benutzung des K-Wortes, in der die antikommunistischen Ideologen die (tatsächlich existierenden) Opfer als Totschlagargument in die Diskussion bringen, erscheint eine Bewertung der Vergangenheit mehr als nur gerechtfertigt. Viele Anhänger der europäischen antiimperialistische Linken neigen, insbesonder in der Zeit des Kalten Kriegess zu einer teleologischen Geschichtsschreibung, die sich in Ansätzen in der Formationstheorie von Marx und Engels finden lassen. Mit ihr konnte man auch die Oktoberrevolution 1917 nicht nur begründen, sondern auch für die eigene Politik legitimieren. In gewisser Weise erinnert dies auch an die “invention of tradition”, wie der marxistisch geprägte Historiker Eric. J. Hobsbawm die Nationsbildungsprozesse bezeichnet. Die ikonographische Verehrung von Lenin und Stalin als “Nationalhelden”, die Erfindung einer idealisierten Geschichtsschreibung und die teleologische Geschichtsschreibung, die historische Zufälligkeiten außen vor lässt, weist deutliche Parallelen zu der historistischen Nationalgeschichtschreibung auf. Zu den größten Ironien gehört es, dass Geschichtsschreiber/innen, die eigentlich den Anspruch erheben, soziale Akteure zu berücksichtigen, sich zu einer idealisierten Verklärung der “großen Männer” Marx und Engels hinreißen lassen.

    Aber nicht grundlos sind Anhänger der Kritischen Schule, marxistische Psychoanalytiker wie Wilhelm Reich und revolutionär engagierte Autoren wie Brecht und Heinrich Mann in die USA ausgewandert und nicht die SU, deren Paranoiker Stalin wohl die gesamte deutsche KP-Führung auf dem Gewissen hat.

    Die berechtigte Absicht, die Sowjetsstaaten vor einer ungerechtfertigten, ideologisch motivierten Kommunismusfeindlichkeit in Schutz zu nehmen, führte in der westdeutschen Linke auch zu der Zwangsneurose, die sowjetischen Staaten durch die Übernahme dieser Geschichtsschreibung zu verteidigen.

  7. Donauwelle Says:

    Wenn hier schon mit Diagnosen gefochten wird dann sollte dabei das deutschnationale Bedürfnis nach Selbstentlastung im Mittelpunkt stehen:

    But I could fill pages with the super-Mexican horrors that civilized Europe is inflicting upon itself. I could describe to you the quiet, dark, saddened streets of Paris, where every ten feet you are confronted with some miserable wreck of a human being, or a madman who lost his reason in the trenches, being led around by his wife. I could tell you of the big hospital in Berlin full of German soldiers who went crazy from merely hearing the cries of the thirty thousand Russians drowning in the swamps of East Prussia after the battle of Tannenburg. Or of Galician peasants dropping out of their regiments to die along the roads of cholera. Or of the numbness and incalculable demoralization among men in the trenches. Or of holes torn in bodies with jagged pieces of melanite shells, of sounds that make deaf, of gases that destroy eye-sight, of wounded men dying day by day and hour by hour within forty yards of twenty thousand human beings, who won’t stop killing each other long enough to gather them up….

    Wer hatte da kein Recht verrückt zu spielen?

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