Sülzeunruhen im Hamburg

June 27th, 2019

Am 27. Juni 1919 marschierte die Reichswehr in Hamburg ein um die sogenannten Sülzeunruhen niederzuschlagen, die vier Tage zuvor zwischen Rathaus und Speicherstadt aus Wut über die Verwendung vergammelter Fleischreste für die Lebensmittelproduktion und über die insgesamt katastrophale Versorgungslage ausgebrochen waren, sich mittlerweile nach heftigen Straßenprotesten in größeren Teilen der Stadt und bewaffneten Auseinandersetzungen am Rathausmarkt allerdings schon wieder weitgehend beruhigt hatten. Es gelang zunächst, die einmarschierenden Truppen durch Aufklärung über die Lage wieder zum Abzug zu bewegen.

Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) hatte jedoch – wieder quasi in Vorwegnahme von Artikel 48 der Weimarer Verfassung – zur “Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung” den Namibia-Veteran und schon bald Kapp-Putsch-Teilnehmer Paul von Lettow-Vorbeck als Befehlshaber von 10.000 Soldaten bestimmt, die am 1. Juli mit Panzerwagen erneut in die Stadt einrücken und Terror im Freikorps-Stil verbreiten. Ziel ist die Entwaffnung und Zerschlagung jeglichen proletarischen Widerstands und die Etablierung des Militärs als einziger bewaffneter Instanz. Waren bis dahin 15 Menschen ums Leben gekommen, steigt die Zahl der Toten nun auf 80.

Bernd Langer schreibt: “Während das Bürgertum eher aufatmet, kommt es in den Arbeiterbezirken zum rücksichtslosen Waffengebrauch gegen angebliche Plünderer und Heckenschützen. Mit willkürlichen Verhaftungen, Brutalität und Schnelljustiz durch Kriegsgerichte soll die Arbeiterschaft eingeschüchtert werden. Allgemeines Symbol für dieses Treiben ist das Aufziehen der schwarz-weiß-roten Fahne auf Gebäuden und vor Standorten.” (Flamme der Revolution, S. 424)

Die Unruhen und ihre Niederschlagung zeigen die instabile Friedhofsruhe im Land, die schon durch solche Elendsaufstände bedroht war, von denen sofort ein Wiederaufflammen der Räterevolution (bzw. im Selbstverständnis ihrer Gegner: des “Bolschewismus”) erwartet wurde und gegen die umgehend zu den bereits erprobten Terror-Mitteln gegriffen wurde – welche wiederum eine weitere Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten des Militärs, des Bürgertums und der nationalkonservativen bis protofaschistischen politischen Fraktionen bedeutet: “Die noch aus der Revolutionszeit stammende ‘Volkswehr’ wird in diesem Zusammenhang aufgelöst und die eher bürgerlich und republikfeindlich eingestellten Zeitfreiwilligenverbände und Einwohnerwehren werden gestärkt.” (ebd.)

Auch im übrigen Deutschen Reich wütet unterdessen die Konterrevolution, nach wie vor gibt es Verhaftungen, Verurteilungen und Misshandungen im Gefolge der Kämpfe im Frühjahr. In Ungarn wurde noch erbittert um die Räterepublik gekämpft, in Russland und der Ukraine standen die Rote Armee der Bolschewiki und die anarchistische Machnowtschina den weißen Vorstößen unter Koltschak entgegen. In vielen anderen Ländern sind die Auseinandersetzungen zwischen Revolution und Konterrevolution sowie um die Gestalt der Revolution selbst noch in vollem Gange.

Ebenfalls am 27. Juni wird Erich Mühsam für seinen Hochverratsprozess ins Münchner Gefängnis Stadelheim verlegt, “unter allen Gefängnissen, die ich bisher kennengelernt habe, … das übelste… der Lokus ist eine unaussprechliche Schweinerei, ein Eimer mit Deckel…”


Foto: A. v. Zychlinski, 24.06.1919. Quelle: Museum der Arbeit / SHMH, Lizenz: CC BY-NC 3.0
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