Schulstreik in Berlin vor 100 Jahren

July 1st, 2019

In der letzten Woche vor und der ersten Woche nach den Sommerferien 1919 setzten etwa 30.000 Streikende an mindestens acht der zehn Pflichtfortbildungsschulen und allen kaufmännischen Schulen in Berlin die formale Abschaffung der Prügelstrafe und des Abendunterrichts sowie die vorübergehende Anerkennung der Schülerräte als Mitbestimmungsorgane durch.

Am 27. Juni war auf einer Versammlung im Biergarten der Bötzow-Brauerei von den anwesenden 3000 Jugendlichen, unter ihnen die Schülerräte, der Streik beschlossen worden. Während die Perspektive dabei “Neuordnung des gesamten Schulwesens auf sozialistischer Grundlage” war, d.h. moderne (polytechnische) Lehrmethoden, Lehrpläne, Lehrwerkstätten, Fachbibliotheken usw., wurde sich zunächst auf die akuteren Forderungen beschränkt, die nach Einsetzen des Streiks am 1. Juli (gleichzeitig war übrigens auch Verkehrsstreik in Berlin bis 14. Juli) bei mehreren zentralen Massenversammlungen bekräftigt wurden.

Wie es der Schlosserlehrling und spätere kommunistische Gewerkschafter und NS-Widerstandskämpfer Anton Saefkow für die II. Fortbildungsschule in der Wassertorstraße schildert, gab es zunächst nur Klassenräte – die Obleute und Schülerräte als Vertretung für die ganze Schule bildeten sich erst während des Streiks bzw. für ihn. Es kam an allen bestreikten Schulen zu Schülerversammlungen, zu Demonstrationen (Schüler der VIII. aus der Grüntaler Straße wurden von der Polizei angegriffen und wehrten sich), zu weiteren berlinweiten Treffen und auch zu Kontakten mit Betriebsvertrauensleuten – während Lehrlinge zum Teil in die Räte der Betriebe und die Arbeitskämpfe mit einbezogen waren, blieb es insgesamt bei großer, aber praktisch folgenloser Sympathie für den Schulstreik aus den Betrieben, zumal der Berliner Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrats (vor wenigen Monaten formal noch die Regierung) selbst gerade erst am 26.6. verhaftet worden war.

Die wichtigsten beteiligten Organisationen waren die schon an der KPD orientierte Freie Sozialistische Jugend, die den Streik vorbehaltlos unterstützte, sowie die SPD-nahe Arbeiterjugend, die zwar teilweise den Streik mit durchführte, aber jede Gelegenheit nutzte um ihn einzudämmen und vor der Erreichung der Ziele abzuwürgen, vor allem die Wiederaufnahme des Streiks nach Ferienende im August zu verhindern. Die Streikbewegung ist überregional so gut wie nicht verbunden, die FSJ-Zeitung Die junge Garde ist eins der wenigen Kommunikationsmittel über Berlin hinaus. Auch greift die Bewegung offenbar gar nicht auf die Frauen über (damals ist der Unterricht fast komplett schulisch getrennt).

Dennoch bilden sich ähnliche Schülerrätebewegungen auch anderswo, so etwa in Leipzig (Lehrlinge im Betriebsrat, Fortbildungsschulen) oder in München (revolutionärer Schülerrat während der bayerischen Räterepublik, Räteparlament mit sechsköpfigem Exekutivorgan). Hamburger Gewerbeschüler erstreiken schon Ende 1918 Unterrichtszeitbegrenzungen, die Wiener Anfang 1920.

Am Ende scheiterte ein mehr als nur formaler Erfolg des Schulstreiks insgesamt am Widerstand des Lehrbetriebs (bis auf wenige Ausnahmen). Die Politisierung wirkte bei vielen Beteiligten zwar nach, von der Selbstorganisation blieben jedoch nur die Klassenvertrauensleute übrig, Prügelstrafe war noch lange Praxis, gerade in den “niederen” Schulen. Aus dem letztlich weitgehenden praktischen Verpuffen selbst so großer Mobilisierungen werden ab 1920 ähnliche Konsequenzen wie in der revolutionären Bewegung im Allgemeinen gezogen. Die selbstorganisierte Rätebewegung tritt immer mehr in den Hintergrund, und auch die FSJ wird mehr und mehr zur zentralisierten KPD-Organisation.

“Wenn wir heute die Lage in den Schulen nüchtern betrachten”, schreibt “Die junge Garde” 1921, “so müssen wir feststellen, dass keine Schülerräte mehr bestehen; wo sie existieren, haben sie den Charakter von Papiersammlern oder Tafelwischern.”

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Literatur: Axel Weipert, Die zweite Revolution, Berlin 2015, S. 256-287

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