Rückblick auf ein halbes Jahr Pandemie

July 1st, 2020

Als sich Anfang des Jahres abzeichnete, dass sich die Ausbreitung der jüngsten Sprosse der Familie der Coronaviren zu einer globalen Pandemie entwickeln würde, versuchte ich, wie die meisten anderen auch, Vorkehrungen für den zunächst selbstverständlich bevorstehenden Lockdown zu treffen, Vorräte an Lebensmitteln und Hygieneartikeln anzulegen, Masken/MNS und Desinfektionsmittel aufzutreiben.

Zu diesem Zeitpunkt wäre es für mich (naiverweise) schwer vorstellbar gewesen, dass die Regierung verkündet: “ein paar Dutzend Tote und ein paar Hundert Infektionen pro Tag sind vertretbar, damit der Laden weiter brummt”, ebenso wenig, dass der Pandemieschutz zum Gegenstand von Regionalkonkurrenz wie während der Pest 1347ff. werden würde. Auch hatte ich noch keine Ahnung, mit welcher Aufgeblasenheit und Selbstgerechtigkeit schon bald ein Teil der Bevölkerung, darunter durchaus auch einige Linke, die Grenzen des Pandemieschutzes um ihre eigenen Gewohnheiten und Ansprüche herum ziehen würde, fast immer unter Berufung auf andere und deren ökonomische, gesundheitliche und andere Notlagen.

Ab Anfang März fiel dann allmählich auf, dass es bei den Vorbereitungen so gut wie keine staatliche Unterstützung gab. Weder wurden Masken/MNS ausgegeben – die mussten größtenteils auf eigene Faust beschafft oder gebastelt werden, sogar von Krankenhauspersonal. Noch waren Anzeichen für Massentests zu erkennen – nach wie vor werden fast nur klare Verdachtsfälle getestet. Die aktuellen Pläne für Ausweitung der Tests in Bayern werden aus Berlin für kontraproduktiv erklärt, weil das angeblich Menschen in falscher Sicherheit wiegen würde – worin auch immer die aktuelle Menge an Tests die Menschen so wiegt… Auch sah und sieht es trüb aus in Sachen Quarantäneunterbringung bzw. -erleichterung im großen Stil (für besonders Betroffene, besonders beengt Lebende, für Leute, die trotz hohen Risikos weiter arbeiten müssen, für von häuslicher Gewalt Bedrohte). Was es hingegen sofort gab, waren öffentliche Ermahnungen gegen “Hamsterkäufe”, ja noch wochenlang sogar gegen den Kauf von Masken/MNS (um sie niemandem wegzunehmen, der sie wegen des erzeugten Mangels womöglich dringender brauchte).

Die Prioritätensetzung schien eine andere zu sein, was die Äußerungen des Gesundheitsministers unterstrichen, der die Pandemie systematisch herunterspielte und verharmloste. Dass Spahn Ende Januar von einem im Vergleich zur Grippe „milden Infektionsgeschehen“ sprach, konnte als ahnungslose Abwiegelung aus noch halbwegs sicherer Entfernung abgebucht werden. Dass er sich Ende Februar gegen das Absagen von Großveranstaltungen aussprach, schon weniger. Als er am 14. März „Gerüchte“ zerstreute, die Bundesregierung plane Einschränkungen des öffentlichen Lebens, wurde langsam klar, wohin der Zug unterwegs war.

Das Regierungskalkül, das sich schließlich durchsetzen konnte, bestand offenbar darin, den potentiellen Vorteil in der Staatenkonkurrenz auszunutzen, den Laden laufen zu lassen, während andere schon runtergefahren wurden, während vor allem China gerade vorübergehend teilweise ausfiel – und die Gesellschaftsmehrheit war nicht in der Lage, dieses Scheißkalkül zu durchkreuzen, als Klasse waren wir nicht organisiert genug um alles nicht Lebensnotwendige zu bestreiken, um Lockdown, Begleitmaßnahmen und Kompensation durchzusetzen (und jetzt werden die Zahlungen halt doch fällig, Überprüfungen gehen los, Mietern* kann wieder gekündigt werden usw. usf.)

Nach allen Umfragen und Stimmungsbildern hätte es für einen richtigen Lockdown (mit entsprechenden Begleitmaßnahmen) im März und April ausreichend große Unterstützung gegeben. Der hätte die Pandemie tatsächlich auf das kontrollierbare Maß herunterbringen können, das sich heute allgemein eingebildet zu werden scheint. Ein derartiger überschaubarer Quarantäne-Zeitraum vor Sommerbeginn wäre ungleich leichter machbar gewesen, für diese Zeit hätten notfalls Mieten, Löhne und vieles andere komplett erstattet werden können, die oben erwähnte verbesserte Unterbringung wäre leichter zu organisieren gewesen – gesellschaftliche wie individuelle Kosten wären unterm Strich geringer gewesen. (Hier liegt für mich die Parallele zu 2015ff. nahe, als der bundesweit riesige Wohnungsleerstand nicht für die Unterbringung von Geflüchteten requiriert wurde, heute kommen ja noch enorme Mengen an leerstehenden Hotels usw. hinzu – auch damals verdankte sich massenhafter individueller Initiative und Hilfeleistung, dass die Situation nicht noch übler wurde.)

Stattdessen gab und gibt es nun On-and-off über einen viel größeren Zeitraum, welcher die skizzierten Maßnahmen immer weniger bezahlbar und die sozialen Auswirkungen immer heftiger macht. Es besteht ein Flickwerk aus unterschiedlichen lokalen und regionalen Regeln, unterschiedlich tauglichen Hilfsmitteln und unzuverlässiger öffentlicher Aufklärung, dazu kommt eine krasse soziale Schieflage gerade in den Kernbereichen Wohnen und Arbeit. Es gibt keine flächendeckenden Tests, dafür weitgehende Unsicherheit und Sorglosigkeit, je nach Auffassung und Betroffenheit, jede Menge Anlass für Missgunst und Verdächtigung, ganz im Sinne der allgemeinen Konkurrenz. Die Akzeptanz für Pandemieschutz ist mittlerweile stark erodiert, immer wieder haben sich hochrangige Politiker zum Sprachrohr größtmöglicher “Lockerung” gemacht.

Diese Entscheidung, den Tod und das Leid von soundsoviel Menschen in Kauf zu nehmen, dieses Beispiel an andere Länder weiterzugeben und all die Ansteckungsrisiken an die Zielorte von Tourismus und Geschäft zu exportieren, ist kollektiv so nie getroffen worden. Die Gesellschaft trifft keine Entscheidungen dieser Tragweite, das macht nur dieses aus ihr delegierte Machtsystem, das zuerst das Kapital vor sich selbst schützt und dazu kürzer- oder längerfristige Strategien verfolgt – und das aktuell z.B. das Kapital nicht zur Nutzung der vorhandenen Testkapazitäten zwingt, ebensowenig zur präventiven Einstellung nicht lebensnotwendiger Arbeit oder zur pandemietauglichen (oder in vielen Fällen überhaupt erstmal zur halbwegs erträglichen) Umorganisation der lebensnotwendigen Arbeit.

Schreibe ich zum Schluss auch mal was anderes als “Wir müssen uns als Klasse organisieren”? Vielleicht sobald ich den Eindruck habe, dass das ausreichend passiert. Ein großer Teil der Linken scheint jedoch nach wie vor eher damit beschäftigt, verschiedenes Regierungshandeln gegeneinander zu stellen und sich als Fanclubs der rivalisierenden Kapitalrettungsstrategien hochheiß in die Wolle zu kriegen – als würden wir nur besser regieren wollen, als ginge es nicht (mehr) darum, Herrschaft zu überwinden.

In diesem Sinne: Masken auf, Abstand halten, Hände waschen, alle umeinander kümmern!

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