Nicht über die Stöckchen springen!

June 7th, 2020

Ich schrieb von den ideologischen Verrenkungen, die Linke machen müssen, um “Lockerungen” zu rechtfertigen. Wenn ich die nun in bezug auf die Black Lives Matter-Demos nicht machen will, muss ich versuchen, niemanden gegeneinander auszuspielen und soviel wie möglich Teile der Situation zu berücksichtigen (was immer nur vorläufig geht und sich gestern erstmal auf die einprasselnden Hauptvorwürfe der anderen Seite konzentrierte).

Fangen wir mit den offensichtlichen Widersprüchen an:

Das Infektionsrisiko unter freiem Himmel ist nach gegenwärtigem Kenntnisstand geringer als an vielen der mittlerweile wieder geöffneten Orte, aber es ist immer noch vorhanden – das weiß ich aber auch nicht genauer als irgendwer sonst, weshalb ich (im Zweifel für den Zweifel) seit nunmehr drei Monaten “freiwillige Quarantäne” treibe, fast nur frühmorgens und mit MNS alle paar Tage für Waldspaziergang und zum Einkaufen rausgehe und so oft Hände und Wäsche wasche wie noch nie. (Weitere Offenlegung für die Perspektive: ich war nach Hanau auf der Straße, jetzt bislang noch nicht.)

Fast alle mir bekannten Aufrufe für gestern enthielten klare und ernstgemeinte Hinweise zum Pandemieschutz, und es war kaum vorhersehbar, dass soviele kommen würden – andererseits ist derzeit generell zu erwarten, dass es Menschen ins Freie zieht, und das war alles auch bei der Schlauchbootdemo so.

Von allen der gestrigen BLM-Demos wird generell ein überwiegend verantwortungsvolles Verhalten berichtet. Die Mehrzahl der Beteiligten trug MNS und achtete, wo möglich, auf Abstand. Leute gingen auch wieder, wenn sie feststellten, dass es zu voll war. Das heißt dennoch, dass einige keinen MNS trugen oder nicht durchgängig, dass viele trotz Überfüllung weiter hinzuströmten und dass Abstand mancherorts nicht ausreichend möglich war oder nicht beachtet wurde. (Nebengedanke: Wenn der Alexanderplatz mit 15000 Menschen schon voll war, dann müssen sie zumindest irgendwie Abstand gehalten haben, wenn auch dennoch nicht unbedingt genug – für die Fotos gilt nach wie vor die Sache mit dem Teleobjektiv…)

Aber gehen wir mal eine Ebene tiefer: Ich hielt es die ganze Zeit für die beste Ansage, dass alle die Schutzmaßnahmen einhalten, die sie einhalten können, nicht zuletzt weil viele sie nicht (immer) einhalten können. (So möchte ich auch obige Schilderung meines Umgangs mit der Pandemie verstanden wissen.) Spielraum besteht also vor allem da, wo Dinge nicht unbedingt nötig sind (wie z.B. in Restaurants gehen, wenn es andere weniger riskante Möglichkeiten gibt an eine Mahlzeit zu kommen) und/oder wo sie nur einem bestimmten ökonomischen Interesse dienen, dem sich prinzipiell auch verweigert werden könnte (ja, schwer, aber siehe Bornheim).

Begleitend ging es darum, Verständnis für eine krasse Ausnahmesituation (mit mittlerweile weltweit 400000 Toten, auch hierzulande mindestens 8000, und mit Millionen von weiteren Betroffenen) zu schaffen, dafür zu sorgen, dass sie ernstgenommen wird und dass an die Mitmenschen gedacht wird – und bisher waren m.E. alle Abwägungen zugunsten dieser Ausnahmesituation zu treffen, hätte sie (mit relativ einfach zu organisierenden Ausnahmeregelungen wie Asthma-Attest o.ä.) immer Priorität haben müssen. Ins Restaurant zu gehen ist nicht wichtiger als Pandemieschutz. So beschissen, furchtbar und nachteilig es ist alleine zu sein, wäre auch das bis auf Notfälle prinzipiell dem Pandemieschutz nachzuordnen. Usw.

Nun gibt es im nach wie vor ökonomisch wie militärisch mächtigsten Staat der Welt seit fast zwei Wochen praktisch überall aufstandsartige Massenproteste gegen mörderische Polizeigewalt und gegen den zusätzliche Armut und weitere Gewalt produzierenden Rassismus. Das konstituiert eine neue Ausnahmesituation, für die Bewusstsein zu schaffen ist – es muss auch hier dafür gesorgt werden, dass sie ernstgenommen wird und dass an die Mitmenschen gedacht wird. Hierzulande wollten Leute an diese Massenproteste anschließen – soweit ich das überblicken kann, größtenteils aus eigener Betroffenheit (dazu zählen z.B. auch Angehörige!). Mitlaufenden nicht betroffenen Sympathisierenden kann meinetwegen teilweise eine andere primäre Motivation unterstellt werden, den allermeisten aber sicher nicht. Wer meint, dass es in Deutschland keine 100000 Betroffenen von Rassismus und Polizeigewalt gibt, sollte wirklich mal seine Privilegien checken.

Das heißt, das ist alles immer noch eine Abwägung, aber statt eine Ausnahmesituation gegen die andere auszuspielen, würde ich auf die bestmögliche Verbindung hinwirken wollen. Es ist auch im Interesse von Risikopatienten, dass das Problem Rassismus angegangen wird, d.h. dass die Arbeits- und Lebensumstände der wegen Rassismus gerade Corona besonders Ausgesetzten verbessert werden, wie auch ihre Möglichkeit sich zu artikulieren, zu organisieren, zu wehren – und damit vielleicht auch andere besonders Betroffene, die bisher zu wenig oder gar nicht berücksichtigt wurden, mit ins Bild zu bekommen (einige Stichworte: “häusliche Gewalt”, Sexarbeitskräfte, Roma, Obdachlose), in die Forderungen einzuschließen und zu Organisation zu ermutigen.

Mit Blick darauf, wie die Demonstrationen begleitet und aufgelöst wurden (Absperrungen, Kessel, Wasserwerfer), ist auch schwer zu behaupten, es läge nicht im eigenen Interesse sich gegen Vorgehen, Sonderstellung und weitgehende Straffreiheit der Staatsgewalt starkzumachen – was halt von zu Hause viel weniger wirksam geht. Die Parole “Erst nach Corona!” scheint mir an dieser Stelle jetzt reaktionär und auch kurzsichtig – die rassistisch verursachte Überbetroffenheit möglicherweise bis nächstes Jahr oder wer weiß wie lange unbeantwortet zu lassen, betrifft letztendlich alle.

Diese Demos fanden nun vor dem Hintergrund immer weitergehender “Lockerungen” und “Öffnungen” statt, die – das muss vielleicht auch noch mal klar gesagt werden – nicht wegen der Demonstrierenden vorgenommen werden und die für sie bedeuten, dass sie höchstwahrscheinlich noch mehr als eh schon verheizt werden, sich ihre spezifische Situation der in anderen westlichen Staaten und auch der in den USA weiter annähert. Es ist in diesem Moment eine krasse Unterstellung voller Paternalismus, sie würden gegen ihre eigenen Interessen auf die Straße gehen. Und es ist eine reichlich schiefe Perspektive, nach wochenlangen bundesweiten Demos gegen Pandemieschutz und nach all der kapitalgetriebenen Ermöglichung von immer mehr potentiellen Infektionsherden nun ausgerechnet ihnen anlasten zu wollen, dass “es bald wieder losgeht”.

Umgedreht müssen sich aber viele vorwerfen lassen, dass von Rassismus Betroffene in der Rede von Risikogruppen kaum vorkamen (siehe Flüchtlingsunterkünfte) und nun eher als Sündenböcke herhalten müssen (Göttingen), dass generell nicht genug wahrgenommen wurde, wer sich überhaupt wie weit sein Verhalten aussuchen kann, wer da welcher Art von zusätzlichem Druck ausgesetzt ist und wie existentiell der ist – durch die Demos haben sich viele überhaupt erstmal eine hörbare Stimme erkämpft. Ihnen vorzuwerfen, ihnen sei alles andere egal, nachdem sie vorher fast allen egal waren, ist ganz schön zynisch.

Wenn ich immer davon schreibe, dass im Interesse des Kapitals vorgegangen wird, scheint vielen nicht klar zu sein, dass es verschiedene Kapitalfraktionen gibt – es würde gerade zu weit führen, die im einzelnen aufzudröseln, aber sie unterscheiden sich z.B. dahingehend, wie langfristig sie planen, worin die Mehrwertproduktion jeweils besteht und welche Arbeitskräfte dazu wie genau ausgebeutet werden, wie sie mit anderem Kapital und dem Staat verbunden sind bzw. wie genau sie zueinander in Konkurrenz stehen – was u.a. auch heißen kann, dass sie Dinge tun oder politisch unterstützen, von denen sie sich ausrechnen, dass sie den jeweils anderen mehr schaden als ihnen selbst.

Viel zu viele Arbeitskräfte machen sich (aufgrund des mangelnden Selbstorganisationsgrads der Klasse) politisch zum Fußvolk dieser Kapitalfraktionen, wie vorher z.B. beim Klimaschutz auch (ganz grob: grün gegen blau) – deswegen noch mal: Ich werbe insgesamt dafür, das Richtige zu tun, sich nicht auf diese oder jene herrschaftliche Seite zu stellen, auch wenn deren Interesse momentan mit dem eigenen zusammenzufallen scheint.

Bezüglich der gestrigen (und heutigen) Proteste spreche ich mich dafür aus, ihr riesiges Ausmaß anzuerkennen, ihr Anliegen nicht zu delegitimieren, die Demonstrierenden als politisch Handelnde ernstzunehmen, auf eine bessere Verbindung von Pandemieschutz und Protest hinzuwirken und der (nicht nur) linken Unsitte zu widerstehen, sich wegen einzelner Aspekte empört abzuwenden statt sich solidarisch für deren Thematisierung einzusetzen.

Ja, es gibt bei Black Lives Matter und der gesamten antirassistischen Bewegung ein teilweise problematisches Verhältnis zu Israel, in einigen Fällen gibt es offenen Antisemitismus – aber dem sollte doch begegnet werden statt ihm diese Proteste als Spielfeld zu überlassen. Ideologie hat eine Geschichte von gescheiterten Klassenkämpfen, die sichtbar gemacht werden sollte und aus der gelernt werden kann, wie Antisemitismus, Rassismus, Sexismus, Transfeindlichkeit und die vielen anderen Formen von Ideologie zurückgedrängt und perspektivisch überwunden werden können.

“Tikkun Olam heißt Black Lives Matter” rufen jüdische Aktivisten derzeit in den USA und auch in Deutschland und erklären so das Anliegen der Proteste zu einer der Scherben, in die eine Menschheit zersplittert ist, die wieder zusammengeführt werden muss. “Pride is a riot” stand auf dem Transparent, das von Demonstrierenden über dem Stonewall Inn angebracht wurde, bevor sie sich als NYC Pride den übrigen Protesten in Massen anschlossen. “Krankenschwestern haben gegen Covid-19 gekämpft, jetzt kämpfen wir gegen die Cops” hatte Jillian Primiano auf ihr Schild geschrieben, bevor sie die Straße für genau diese Proteste freihalten half. Mit “We All We Got, We All We Need” (“Wir sind alles, was wir haben, wir sind alles, was wir brauchen”) wird in New York zu den heutigen Protesten aufgerufen.

Nicht vergessen, worin unsere Stärke besteht!

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