Revolution vorgelesen
January 26th, 2021Um die Wissenslücken bezüglich der Revolution vor hundert Jahren zu füllen hat die Comicautorin Paulina Stulin (“Bei mir zuhause”) aus den Postings von Fabian Lehr zum Thema (Teil I, Teil II bis V) ein Hörbuch eingelesen und als Playlist veröffentlicht. Auch wenn Lehrs Darstellung besser ist als vieles, was es dazu gibt, hier überhaupt der Versuch unternommen wird, einen Überblick über die gesamte Revolution von ihrer Vorgeschichte zumindest bis 1920 zu geben, hat sie dennoch einige Haken, die sich einerseits aus dem mutmaßlichen Kenntnisstand von 2014 und andererseits aus der Haftung an der KPD-Version (gesehen durch Trotzkis Brille) zu ergeben scheinen – einige der Besonderheiten werden so verwischt und das Gesamtbild verzerrt.
Ein Effekt von ersterem ist neben Kleinigkeiten (hier steht Scheidemann noch auf dem Balkon des Reichstags) die auch sonst fast überall anzutreffende Geringschätzung der wichtigsten Organisierenden der Revolution, also der USPD und der Revolutionären Obleute, die bei Lehr allerdings wenigstens teilweise vorkommen und auch nicht ganz so schematisch beiseitegeschrieben werden wie es in kommunistischen Darstellungen meist der Fall ist.
Viel stärker ist der Effekt von zweiterem, allgemein der Übernahme von Trotzkis Blick auf die Spartakus/KPD-Erzählung und entsprechend einer Überparallelisierung der deutschen und russischen Revolution, letztere auch schon in der Version Trotzkis bzw. der Leninbolschewiki insgesamt.
Die Provinz ist in diesem Bild weniger revolutionär (“politisch noch bei Weitem nicht so fortgeschritten … In der russischen Revolution war es nicht anders gewesen”), auch wenn wesentliche Impulse der Revolution da wie dort aus Kleinstädten und vom Lande kamen. Die revolutionäre Rätemacht wird immer wieder mit dem Bolschewismus ineinsgesetzt, auch wenn das in beiden Fällen nicht zutrifft. Statt der russischen Revolution insgesamt werden als Vorbild für die deutsche die Bolschewiki aufgerufen, wozu sie aber erst ab 1920 tatsächlich hegemonial werden. Forderungen nach Sozialisierung werden als Forderungen nach staatlicher “Kollektivierung” im sowjetischen Sinn verstanden, “Rote” werden als Kommunisten zugeordnet, so etwa die baierische Rote Armee oder die Rote Ruhrarmee, beide trotz kommunistischer Beteiligung und teilweiser Führung doch vor allem linkssozialdemokratische (und teilweise auch anarchistische) Truppen.
Die Initiative muss immer irgendwie aus der Avantgarde kommen, was so nur in wenigen Situationen stimmt. (So geht bei Lehr der Massenstreik im März 1919 in Berlin mit einem Aufruf los, der dann befolgt wird, obwohl praktisch der Streik vorm Beschluss gestartet wurde; vorher entwickelt sich das Berliner Proletariat schnell weiter, obwohl die KPD noch so klein ist…). Die Rolle der bekannteren Führungspersönlichkeiten (aus der eigenen Richtung) wird überbetont (so steht bei Lehr etwa Luxemburg “selbst an der Spitze” der Revolution), die Revolution erscheint tatsächlich so stark von ihnen bestimmt, wie es die Reaktion die ganze Zeit behauptet hat.
Während in Russland die Industriearbeitskräfte tatsächlich eine relativ kleine Minderheit bildeten, die zum großen Teil auch noch stark mit ihrer ländlichen Herkunft verbunden war, gibt es Deutschland viele Regionen mit solchen Bevölkerungsmehrheiten und erreichen ihre Klassenorganisationen schon lange vor der Revolution gigantische Ausmaße. Hier organisieren sich flächendeckend massenweise ganze Arbeiterfamilien, die in zweiter oder dritter Generation im städtischen Umfeld und im ständigen Lohnkampf leben und aus denen die Partei und die zahllosen sozialdemokratischen Vereine und sonstigen Organisationen größtenteils bestehen.
Trotz der ebenfalls wachsenden Zahl an besser bezahlten Facharbeitskräften, die zur Basis der SPD-Führung werden, ist das Bild von der deutschen Sozialdemokratie als “ihrer Natur nach kleinbürgerlich-demokratischen Partei”, die 1914 “endgültig jeden marxistischen Ballast über Bord” warf, eine starke Verzerrung, die die an anderen Stellen von Lehr durchaus unterschiedene Massenbasis mit der Parteiführung zusammenwirft, was sich durch den Gang der revolutionären Ereignisse, vor allem die immer wieder massenhafte Beteiligung der SPD-Basis an den Streiks und Verteidigungskämpfen eigentlich verbieten müsste. Diese Basis erscheint hier nur als verblendet, im Glauben an die Partei befangen, nicht als in einem Ringen um die Durchsetzung des Parteiprogramms begriffen, bei dem sie selbst zahlreiche Opfer zu beklagen hatte und bei dem eben auch die Führung der anderen Parteien jede Menge Fehler machte. Es geht hier mehr um den Nachweis, dass die SPD wegen ihrer “degenerierten Führung” insgesamt durch eine Partei mit der richtigen Führung ersetzt werden musste, die wiederum weitgehend mit der KPD identifiziert wird – es fehlt die ganze Realität, dass die Arbeitskräfte ihren Parteien in hohem Maße selbstorganisiert vorausgeeilt waren, dass sie weniger einer Führung als viel mehr der konsequenten Unterstützung ihrer Selbstorganisation bedurften und dass sie auch immer wieder in Scharen zu denen überliefen, die das am ehesten zu tun versprachen
Während also im Deutschen Reich sowohl die Industriearbeitskräfte zahlreicher und besser organisiert sind und die Führung ihrer Organisationen sich auf eine wachsende Minderheit besser bezahlter Facharbeitskräfte stützen kann, ist gleichzeitig die Masse an Kleinunternehmern, Handwerkern und Staatsangestellten erheblich größer, die für die Konterrevolution mobilisiert werden können – und schließlich für den Faschismus, welcher wegen der Größe der sozialistischen Bewegungen mehr als irgendwo sonst als Sozialismus verkleiden muss.
Während die russische Revolution 1917 von Gewalt geprägt ist (schon die gern als friedlich verklärte Februarrevolution brachte nicht nur Enteignungen mit sich, sondern auch zahllose Lynchmobs und kriminelle Straßengewalt mit Tausenden von Toten) und der extreme konterrevolutionäre Terror von 1905 in vielen Gegenden noch direkt vor Augen steht, sind die deutschen Revolutionäre ungewöhnlich friedlich und auf self-policing bedacht, gibt es bis auf wenige Ausnahmen keine Vergeltungsaktionen, beruhen vielmehr die meisten revolutionären Strategien auf der friedlichen Überrumpelung durch Massenprotest, Massenstreik und Besetzungen, im Moment der Revolution in Berlin am 9. November im Zusammenspiel mit wohlorganisierter Entwaffnung der in der Stadt stationierten Regierungstruppen. Die Strategie der Konterrevolution zielt von Anfang an darauf ab, das für sie krass ungünstige Zahlenverhältnis durch den Einsatz besonders schwerer Kriegswaffen und durch besonders brutales, abschreckendes Vorgehen auszugleichen. Noch nach bereits heftigem Terror der Konterrevolution wird sich jedoch von revolutionärer Seite auf die Einrichtung und Verteidigung von Räten und Vergesellschaftungen konzentriert, erst ab 1921 geht es systematisch in die Offensive, angespornt vom sowjetischen Vorbild – und mit wenig Erfolg.
Insgesamt erscheint in der Erzählung von der “Doppelmacht” von Räten und Parlament, wie sie von der russischen auf die deutsche Situation übertragen wird, der Rätekonstitutionalismus als Minderheitenposition, obwohl die parlamentarische Legitimation der Räte als lokaler Durchsetzungsmittel der Sozialisierung in Deutschland angesichts der Größe der Arbeitskräfte-Organisationen und der Wahlergebnisse ihrer Parteien eine naheliegende und mit nur knapp verfehlter Parlaments-Mehrheit im Januar 1919 ja auch beinahe erreichte Möglichkeit darstellte. Bei Lehr ist es eine “eigenwillige Ansicht”, die Luxemburg vorübergehend vertritt, “dass Sowjets und Parlament dauerhaft nebeneinander existieren sollten” – die Kontingenz der geschichtlichen Situation geht hier zwischen den theoretischen Kategorien (Parlament als “der logische Ausdruck und das Instrument der bürgerlichen Klassenherrschaft”, Räte als “der logische Ausdruck und das Instrument der proletarischen Revolution und des Übergangs zum Sozialismus”) verloren.
Entsprechend wird einmal mehr das falsche What-if ausgemalt, das auch für die Rezeption dieser Erzählung zentral sein dürfte: “Vom Rhein bis zum Ural hätte es also mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit einen geschlossenen kommunistischen Block gegeben, wenn Spartakus sich in Deutschland durchsetzen sollte.” Eine erfolgreiche Revolution in Deutschland hätte sich viel wahrscheinlicher auf eine Stärkung der lokalen und überregionalen Räteorganisationen konzentriert um überall vor Ort die Sozialisierung durchzuführen und die Reaktion zu entwaffnen – erst nach dem mehrfachen Scheitern wurde ab 1920 das nun aber auch nicht mehr realisierbare sowjetische Modell populärer, das sich auch in Russland erst im Verlaufe der Revolution durchgesetzt hatte (die war im Oktober 1917 mindestens schon ein halbes Jahr, im weiteren Sinne schon seit Jahrzehnten im Gange). Was global gesehen weiter geschehen wäre, wie sich ein revolutionäres Deutschland und die Sowjetunion weiter beeinflusst hätten, lässt sich dann nur noch aus dem Kaffeesatz lesen.
Fazit: Mit den Haken der KPD/Trotzki-Erzählung im Hinterkopf kann bei Lehr ein Überblick über viele Zusammenhänge des Revolutionsverlaufs und seines historischen Rahmens gewonnen werden, die Hörbuch-Version ist von Paulina Stulin zudem sehr eindringlich und der Perspektive angemessen vorgetragen. (Und von den parteiischen Darstellungen ist die der KPD als einer die meiste Zeit intensiv am Geschehen beteiligten Partei, die auf konkret bestimmbare Vorgänge und Debatten reagierte und ein ganzes Archiv an Aufzeichnungen hinterlassen hat, eine der weniger verbogenen, in der anders als fast überall sonst zumindest der größte Teil der Ereignisse vorkommt.)
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