Deutschland – Argentinien

June 30th, 2006

Nach meiner schnipsgummiartigen Flucht aus Spanien legte ich zum Ausgleich einen denkwürdig miesen Tramptag hin. Zunächst lag das einfach daran, daß ich es nicht mehr besonders eilig hatte und den Rasthof, an dem ich abgesetzt worden war, ausgiebig zum Essen und Herumlungern nutzte. Außerdem war ich wohl doch noch etwas zu weit vom Kanal entfernt, um mit meinem ‘London’-Schild etwas reißen zu können.

Jedenfalls war es schon nachmittag, als ich von einem schon etwas älteren Australier und seinem Teenie-Sohn in ihrem langsamen Wohnwagen zumindest bis zur letzten Mautstelle vor Calais mitgenommen wurde. Sie waren zur WM in Deutschland gewesen und befanden sich nach dem unglücklichen Ausscheiden des australischen Teams gegen Italien auf der Rückreise via England. Allerdings wollten sie erst am nächsten Tag mit der Schnellfähre von Boulogne fahren und bis dahin noch die WM im Fernsehen verfolgen.

Der Vater erzählte, daß er noch als kleiner Junge in England in seiner jüdischen Familie aufgewachsen sei, die jedoch während des ‘Blitz’ nach Australien auswanderte. Erzeigte sich besorgt über das, was er in Deutschland an Nationalismus und Geschichtsverdrehung mitbekommen hatte. Offenbar hatte er die Diskussion nicht gescheut und damit auch das ganze Programm mitbekommen: es müsse ja mal Schluß sein, die Juden würden immer noch das große Geld machen und die Medien kontrollieren, die Deutschen würden sich endlich nichts mehr sagen lassen und durch die WM ja nun auch wieder populär genug sein dafür.

Er schilderte seine Ambivalenz bei der Reiseplanung in Deutschland, da er einerseits eine KZ-Gedenkstätte besuchen wollte, sich andererseits aber vor der Konfrontation fürchtete. Er warf die Frage auf, ob die beständige Erinnerung an den Holocaust nicht wirklich zu heftig sein könnte. Ich sagte, daß ich verstehen könnte, wenn er nicht mehr daran erinnert werden mag, daß das aber offenbar auch auf anderen Wegen geschieht. Die Antisemiten sollten jedoch nicht in dem Glauben gelassen werden, ihre Taten seien vergessen. Nicht umsonst streiten sie genau dafür. Das Gespräch endete vorzeitig, als ich an der peage abgesetzt wurde.

Optimale Stelle – ich nahm mir vor, bei niemandem einzusteigen, der nicht bis nach London fahren würde. Nach kurzer Zeit hielt ein litauischer LKW an, ich fragte, ob es nach London ginge, der Fahrer sagte ja und fuhr mich tatsächlich zur Einfahrt des Chunnels, wo er mich mit der Begründung rausließ, daß er aber niemanden mit hindurchnehmen dürfe.

Was ja auch sonst niemand darf, weshalb ich sehr sauer wurde und auf dem gesamten mehrstündigen Fußweg zur Autofähre wild vor mich hinfluchte.

Als ich am Fährhafen ankam, unternahm ich noch ein paar halbherzige Versuche, einen Lift zu bekommen, kaufte mir aber schließlich ein Foot passenger’s ticket für 25€ und wurde beim Verlassen der Verkaufsstelle von zwei jungen Walisern gefragt, ob ich einen Lift bräuchte.

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Damage done, aber sie nahmen mich nach einer entspannten Überfahrt mit englischen Zeitungen und gutem Kaffee mit zur M25 (dem Londoner ‘Donut’). Sie kamen von einer Europa-Rundreise und ließen The Lockup auf BBC Radio One laufen, wo allerlei Neues (z.B. Sonic Boom 6) und Älteres (wie etwa Snapcase) zu hören war.

Ich fühlte mich wieder wie zu Hause – keine Mücken, stattdessen Menschen, die mich verstehen und anständige Musik.

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