Unschärferevolution

February 27th, 2007

Weiter auf der Suche nach Deutungen der Ereignisse in Rußland 1917 (wie schon hier, hier und hier) habe ich mir zuletzt den von Gerd Koenen und Lew Kopelew herausgegebenen Sammelband “Deutschland und die russische Revolution” (München 1998) vorgenommen, der sich damit beschäftigt, wie das russische Geschehen in Deutschland wahrgenommen wurde.

In Koenens am Beginn stehender Durchsicht erster Augenzeugenberichte und Interpretationen fällt bereits auf, daß die Februarrevolution eine verschwindende Rolle spielt. Die expliziten Reaktionen sind schon vor Ende der ersten Seite abgehandelt. Darin erscheint der Februar als Machtergreifung der “Überpatrioten” der bürgerlichen Opposition, die “die Hungerunruhen nur ausgenutzt hätte, um den Krieg verstärkt fortzuführen” (Vorwärts) oder als “englische Revolution auf russischem Boden” (Kreuzzeitung).

Hermann Kranold meinte, man solle – offenbar weil die Emipirie der Massenerhebung für ihn so schwer verständlich blieb – das “geistiges” für das wahre Rußland nehmen. Erst die zunehmende Bolschewisierung und der Novemberputsch finden echten Widerhall. Einerseits gibt es nun wieder greifbare Ereignisse und identifizierbare Führer, andererseits gilt die gesamte Entwicklung vor allem als abschreckendes Beispiel. Karl Nötzel sah es – frei nach Dostojewski – als Mission der russischen Intelligenz an, die “Kulturmenschheit über diesen Falschweg aufzuklären, indem sie ihn bis aufs letzte selber ausgeht.” Werner Sombart erblickte im den Bolschewisten den “Anti-Mensch”. Elias Hurwicz erhoffte sich eine mäßigende Einflußnahme Deutschlands gegen “Rußlands krankhaften Radikalismus”. Arthur Luther sprach von der fatalen Strahlkraft des russischen Idealismus, der auf die ganze Welt gerichtet sei.

Axel Freiherr von Freytagh-Loringhoven attestierte dem Oktober, nicht dem Februar: “Nicht Lenin und Trotzki kamen zur Herrschaft, sondern die Massen selbst.” Realistischer sah der Führer der russischen Sozialdemokratie, Paul Axelrod, voraus, daß der “Sozialismus des Raubes” ein Kleinbürgertum hervorbringe, das zur Basis für eine radikale Konterrevolution werden würde. Alfred Paquet hingegen träumte in seinen Briefen aus Moskau (“Im kommunistischen Rußland”) von einem deutsch-russischen Block, den er sich erst – im Geist des deutschen Imperialismus – unter deutscher, dann – immer stärker beeinflußt durch seine Bekanntschaft mit Karl Radek – unter sowjetischer Führung vorstellte.

Koenen spricht vom “Sujet der Bolschewisten- oder Russengreuel”. Hier taucht zwischen Berichten über Verbrechen und Erich Koehrers Fotos von Massengrab und Schlachthäusern (“Das wahre Gesicht des Bolschewismus”) noch einmal ganz kurz im Reisebericht einer deutschen Gutsbesitzerin der Februar auf. Sie schildert die “Staatsumwälzung” als ergreifenden Moment kurzer allgemeiner “Begeisterung und Versöhnung.”

In einem weiteren Beitrag des Bandes skizziert Johannes Baur die Entwicklung des Rußlandbildes der frühen NSDAP. Schwerpunkt liegt zunächst auf den Baltendeutschen als Vermittler. Neben Rosenberg wird vor allem Max-Erwin von Scheubner-Richter als “glühender Nationalist” porträtiert, der kaum verschwörungstheoretisch oder antisemitisch geprägt gewesen sei, in seiner “Wirtschaftlichen Aufbau-Korrespondenz” jedoch den Plan einer Säuberung Deutschlands und einem anschließenden Zusammengehen mit Osteuropa gegen den Bolschewismus entwarf.

Im nationalsozialistischen Kontext wurde zunächst von einer “bolschewistischen Verschwörung” gegen das russische Volk ausgegangen, die frühe Sowjetunion galt als gegen die “nationalrussische Wirtschaft” gerichteter “Kapitalistenstaat”, gar als “Weltbetrug”. F.A. Winberg forderte entsprechend 1919 die “Vernichtung der schädlichen sozialistischen Lebewesen.” Erst ab 1922/23 wurde diese Verschwörungs-Deutung durch die von nun an beherrschende Ideologie der “rassischen Defekte” der “slawischen Untermenschen” abgelöst, die Revolution also gewissermaßen auf alle Russen ausgedehnt.

Mit Ostideologie und Nationalbolschewismus in der Weimarer Republik beschäftigt sich Louis Dupeux und macht dabei mehr oder weniger absichtlich klar, daß die deutsche Reaktion auf Versailles bzw. auf die schon vor der eigentlichen Unterzeichnung darüber kursierenden Gerüchte noch mal einer näheren Betrachtung wert sein dürften. Denn hier sind zum ersten Mal die “armen kleinen Deutschen” (Knarf Rellöm) anzutreffen, die sich nach einem verlorenen, gigantischen Massenkrieg darüber beschweren, daß man sie dafür verantwortlich macht.

Zunächst gibt es eine “Erpressung mit Bolschewismus”, das heißt, quer durch alle politischen Lager wird damit gedroht, daß zu harte Bedingungen dafür sorgen würden, daß der Bolschewismus auf Deutschland und damit auf ganz Europa übergreifen würde. Diese Drohung wurde mit der Errichtung der Räteherrschaft in Ungarn und Bayern lautstark erneuert. Der DNVP-Abgeordnete Paul Eltzbacher sah schließlich im Bolschewismus 1919 eine auch für autoritäte und konservative Kreise taugliche Alternative, da er “Werktätige” gegen “Drohnen” verteidigen würde, und in Deutschland “Verstaatlichung statt Ententisierung” fordere. Der Nationalbolschewist Hans von Hentig nannte das ganz ähnlich einen “tiefen, hinreißenden, gepanzerten Sozialismus.”

Abschließend möchte ich noch auf Dittmar Dahlmanns Beitrag “Theorie im Handgemenge. Die russische Revolution in der Kritik der deutschen Soziologie und Geschichtswissenschaft.” eingehen, der wiederum zeigt, wie wichtig der Folus auf die Februarrevolution bleibt. Die vorgestellten vier deutschen Geistesgrößen schreiben praktisch ausschließlich über den Bolschewismus und interpretieren selbst diesen sehr frei. Max Weber verkennt kurz gesagt alles, von der Klassenbasis über die Erfolgsaussichten, und das in jeder Phase der Ereignisse. Er benutzt Rußland als Projektionsfläche für seine soziologischen Grundthesen und formuliert entsprechend Gedanken, wie den, daß die Bolschewiki und Spartakisten nur gesinnungsethisch und wertrational, aber nicht verantwortungsethisch und zweckrational handeln würden. Weia.

Interessanter sind Emil Lederers “Gedanken zur Soziologie der Revolutionen”, da er nicht immer ganz absichtlich einige der Charakteristika des bolschewistischen Konzepts herausstreicht. Etwa wenn er die enthaltene Utopie mit der Formel beschreibt: “Sind alle Menschen Arbeiter, so ist niemand mehr Knecht.” Das ist der Grundgedanke des Bolschewismus. Nur ist das keine allgemeine Befreiungslehre. Vielmehr steht dort das Programm der Überwindung des feudalen Knechtsverhältnisses und der Schaffung eines Staates, von dem alle lohnabhängig sind.

Ganz richtig stellt Lederer fest, der Bolschewismus könne nur in “primitiven Gesellschaften” siegen, worunter er Gesellschaften ohne ausgeprägte und politisch aktive bürgerliche Klasse versteht. Je höher der Entwicklungsgrad der bürgerlichen Gesellschaft, desto unwahrscheinlicher der Sieg einer Revolution, die das Bürgertum historisch zu überspringen versucht und die anderswo von ihm getragenen Entwicklungen über den Staat durchsetzt.

Osterkuss 1917
Osterkuß 1917: “Iwan, hat dich der Oberst entlassen?” – “Nein, ich ihn.”

Aber wo ist in all dem die Revolution gegen die Weltgeschichte, die im Februar, angeführt von Arbeiterinnen, die Herrschaft einer 300 Jahre alten Dynastie über eine für vollkommen untertänig gehaltene Gesellschaft hinweggefegt hatte und die die damals freieste Verfassung der Welt installierte? Wo ist die in enormem Ausmaß selbstorganisierte Revolution, die die meisten später der bolschewistischen Verordnung zugeschriebenen Veränderungen bereits auf die Tagesordnung der Nationalversammlung gesetzt hatte?

Es scheint, als sei diese Revolution unter der bolschewistischen Siegergeschichtsschreibung begraben worden und als hätte die projektive Wahrnehmung des Nachbarlandes, in das sich die meisten Bürgerkriegsflüchtlinge begaben (Hunderttausende sollen es 1919 gewesen sein), noch den Rest erledigt. Aus der zeitlichen und räumlichen Nähe sahen sie keineswegs besser. Denn es ging den deutschen Deutern darum, ob sie sich mit den neuen Machthabern verbünden sollten oder nicht, ob sie die deutsche Arbeiterklasse bekämpfen oder eingemeinden sollten, inwiefern sich das bolschewistische Modell als verbesserte Form der autoritären Herrschaft nutzen ließe – es ging ihnen nicht darum, ob die größte und erstaunlichste autonome Erhebung weitgehend führerloser Massen vor ihrer Nase stattgefunden hatte. Denn dieses Bild war einfach zu schrecklich.

2 Responses to “Unschärferevolution”

  1. nonono Says:

    Was für ein Haufen Verzerrung! Vermutlich wäre es interessant, solche Bände über die deutsche Wahrnehmung anderer Ereignisse zu lesen/zu kompilieren.

  2. classless Kulla » Blog Archive » Ein Jahr classless.org Says:

    […] Die Cut-up related Postings wurden mit einigen Ausnahmen viel zu wenig wahrgenommen, auch vieles an Geschichtskritik ging unter. Manchmal dürfte das aber auch an der simplen Postingfrequenz gelegen […]

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