Ökonomischer Gottesdienst, Beichte

March 27th, 2009

Damit mir diese Gesellschaft erlaubt, hin und wieder das zu tun, was ich tun will, muß ich etwa die Hälfte des Jahres damit verbringen, meine Gesundheit, meine Energie, meine Nerven, meine Jugend und meine Leidenschaft auf dem Altar des Wertes zu opfern. Zugenagelte Buchstabenmarxisten nennen das euphemistischerweise “Schädigung”, als gäbe es ein Wort, um diesen Irrsinn und diese Tragödie angemessen zu beschreiben. (Das tun sie anscheinend, um alle diese “Schädigungen” – vom Holocaust bis zur Zahnbürste, die zu schnell kaputt geht – über einen Kamm scheren zu können.)

Zudem muß ich mich als privilegiert ansehen, da die meisten anderen Menschen praktisch die ganze Zeit über mit dem ökonomischen Gottesdienst oder der Erholung davon beschäftigt sind und äußerst selten bis nie dazu kommen, etwas anderes zu tun, sofern ihnen diese Option überhaupt in den Sinn kommt. Nicht eben wenige wiederum sind der Auffassung, daß ihr Wirken im ökonomischen Gottesdienst zu mehr oder weniger großen Teilen mit dem, was sie tun wollen, zusammenfällt. Oft habe ich den Reflex, diese Leute zu beneiden, weil es ihnen nicht so viele Schmerzen bereitet; tatsächlich bin ich ihnen gegenüber aber wohl ebenso privilegiert, weil ich mir nicht einbilden muß, mit meinem Job und meinem Konsum etwas Sinnvolles zu tun und dadurch vielleicht überhaupt nur dazu komme, was anderes zu machen.

(Von den Privilegien, überhaupt arbeiten zu können, weil ich weiß und deutsch genug für den Job erscheine, und von den Privilegien durch meine Einsortierung als gesunder, heterosexueller Kerl mal noch ganz abgesehen.)

Ich will den Kapitalismus überwinden wegen der Dinge, die er den Menschen antut bzw. wegen der Dinge, die sich Menschen im Kapitalismus antun; aber in letzter Instanz will ich den Kapitalismus schon allein wegen der Dinge überwinden, die er mir antut. Und weil ich es hasse, mich angesichts des allgemeinen Elends mit diesem beschissenen Zustand auch noch privilegiert fühlen zu müssen.

Aber der Kapitalismus hat “ein großes Herz”, wie Funny van Dannen singt, er ist “unser Hirte”, wie es bei South Park gerade erst hieß, er geht nicht unter, er bricht nicht zusammen, Überwindungsversuche schmettert er ab oder umarmt sie zu Tode, seine Antagonisten macht er zu Karikaturen ihrer selbst, aus Krisen geht er jedesmal gestärkt und noch geschickter organisiert hervor. Und deshalb kann ich über ihn herziehen, wie ich will, er bestraft mich einfach dadurch, daß er mir wortlos vergibt und mir die prima Entscheidung, weiter nach den Happen zu schnappen oder mich dem sozialen Abstieg zu überantworten, einfach selbst überläßt.

Seine Wege sind ergründlich, das hilft aber irgendwie auch nichts.

Also: weitermachen, die Kollegen und Bekannten aufwiegeln, den Kommunismus propagieren, die Weltanschauungs- und die Buchstaben-Marxisten verunglimpfen und wie Crowleys Mondwandler bei Verstand bleiben, indem ich die absurde Gesamtlage als wirklich kniffliges Rätsel betrachte.

9 Responses to “Ökonomischer Gottesdienst, Beichte”

  1. travis Says:

    er bestraft mich einfach dadurch, daß er mir wortlos vergibt und mir die prima Entscheidung, weiter nach den Happen zu schnappen oder mich dem sozialen Abstieg zu überantworten, einfach selbst überläßt.

    Naja, ich vermute mal Opportunitätskosten entstehen immer. Aber der Kapitalismus macht daraus ein persönliches Problem. Mir wärs auch lieber, morgen nicht kruppen zu müssen….

  2. lasterfahrerei Says:

    »Damit mir diese Gesellschaft erlaubt, hin und wieder das zu tun, was ich tun will« und diese Gesellschaft sagt dir im vorherein auch noch, was du willst. Schlimmer ist ja noch, dass man sich auf dem altar opfern muss, »damit mir diese Gesellschaft erlaubt, hin und wieder das zu tun, was ich tun MUSS«

  3. Gehirnschnecke Says:

    Aber wäre es nicht schön, man könnte das “Kollegen und Bekannten aufwiegeln, den Kommunismus propagieren, die Weltanschauungs- und die Buchstaben-Marxisten verunglimpfen” zum Beruf machen?

    😉

  4. züccaciye Says:

    Nein, glauben Sie mir, man stumpft ab. Ich habe mich umschulen lassen 😉

  5. posiputt Says:

    problematisch beim aufwiegeln und propagieren sind leute, die lieber auf der grundlage des machbaren (jaja…) die welt verbessern wollen. und auch nach den regeln des bestehenden. also: arbeitsplaetze schaffen, den finanzkapitalwahnsinn regulieren… und so weiter. mir gehen da eigentlich sofort die argumente aus, weil diese jenigen sich weigern, ein grundsaetzliches problem zu sehen, das man nicht wegethisieren koennte. ja. und da kommt dann auch ganz schnell ins spiel: die grundueberzeugung, was und wie menschen koennen und was und wie nicht.

    und dann auch noch zu wissen, was man will…

  6. Gehirnschnecke Says:

    @ posiputt

    Naja, immerhin haben die zu recht gescholtenen Sozialdemokraten und Staatskommunisten aber auch die Grenzen dessen, was für “möglich” und “machbar” gehalten werden kann ein klein wenig verschoben. Und man kennt jetzt auch ein wenig mehr von dem was man NICHT will.

    😉

  7. Gretchen Says:

    “(Das tun sie anscheinend, um alle diese “Schädigungen” – vom Holocaust bis zur Zahnbürste, die zu schnell kaputt geht – über einen Kamm scheren zu können.)”

    Du Schlawiner, da hast du sie aber erwischt!

    Das ist ungefähr so clever wie die Besserwisser, die sich eins drauf einbildeten, dass sie vor ner Weile noch ganz stolz behaupten konnten, der USA gings im Irak ja eigentlich um Öl.

    “(Von den Privilegien, überhaupt arbeiten zu können, weil ich weiß und deutsch genug für den Job erscheine, und von den Privilegien durch meine Einsortierung als gesunder, heterosexueller Kerl mal noch ganz abgesehen.)”

    Beichte im wahresten Sinne des Wortes: Wie ein frommer Katholik auf den Boden schmeißen, sich dabei auf die Brust schlagen und sich ob seiner Verfehlungen einen Sünder nennen. Übergang von Selbsterniedrigung zur Selbstgerechtigkeit inklusive.

  8. Cannabis Kommando Says:

    Ja, Berufswahl ist wie eine schlechte Speisekarte mit Konsumzwang. Kann einem völlig den Appetit verderben und hinter jedem Privileg den deus es circulationem wähnen lassen.

  9. Gehirnschnecke Says:

    @ Cannbis Kommando

    Am Ende ist ja jeder ähnlich “privilegiert” – die Einen hängen eben gefesselt am Mast, die Anderen müssen rudern… 😉

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