13. Januar 1920: Massaker an der Rätebewegung

January 13th, 2020

Am 13. Januar 1920, heute vor 100 Jahren, eröffnete die Sicherheitspolizei vor dem Reichstag mit Maschinengewehren das Feuer auf eine unbewaffnete Menge von Protestierenden und tötete mehr als 40 von ihnen.

Anlass war die Beratung über das Betriebsrätegesetz (BRG), mit dem die Räte, wichtigstes Organ der Revolution und unerlässlich für die Durchsetzung der Sozialisierung, dauerhaft entmachtet werden sollten. Das heißt, sie sollten auf den Status rein lokaler, innerbetrieblicher, der Unternehmensleitung und den Gewerkschaften untergeordneter Mitbestimmungsorgane ohne eigene Entscheidungsbefugnis heruntergebracht werden – also dahin, wo die Betriebsräte sich auch heute noch befinden.

Vorausgegangen waren massive Lohnstreiks im Herbst und zu Jahresbeginn. Aus Angst vor einem Generalstreik hatte SPD-Minister Noske den Berliner Vollzugsrat aus Unabhängigen und Kommunisten Ende 1919 aufgelöst. Ein kombinierter Eisenbahn-, Bergbau- und Telegrafenstreik im Ruhrgebiet ab 5. Januar hatte weitreichende Wirkungen und auch politische Spitzen wie die Besetzung des Rathauses von Hamborn als Aktion für die Einführung einer Räteverfassung.

Als dann im Reichstag das BRG beschlossen werden soll, rufen die informelle Betriebsrätezentrale und vor allem wieder wie zuvor die USPD zu Protesten vor dem Reichstag auf und sind selbst von den Massen überrascht, darunter auch Kommunisten und SPD-Basis. Vermutlich weit mehr als 100.000 ziehen vor den Reichstag.

“Um die Mittagszeit stellen praktisch alle größeren Fabriken der Hauptstadt die Arbeit ein”, schreibt Axel Weipert (2015:160ff), “u.a. AEG, Siemens, Schwartzkopff, Knorr-Bremse und Daimler. Auch die Kraftwerke, Straßenbahner und Eisenbahner sowie zahlreiche kleinere Betriebe folgten dem Aufruf zur Demonstration. In geschlossenen Zügen marschierten die Arbeiter und Angestellten bei leichtem Regen von ihren Betriebsstätten in die Innenstadt. An der Spitze wurden rote Fahnen getragen und Schilder mit Aufschriften wie ‘Hoch die Räteorganisation’, ‘Ebert halte Wort’, ‘Her mit dem vollen Mitbestimmungsrecht’.”

Zuvor hatte es Aufrufe gegeben, sich nicht provozieren zu lassen: “Keine Putsche, keine Krawalle.” (Rote Fahne) Doch die Anwesenheit der Sicherheitspolizei änderte alles. Der Schutz des Reichstags bzw. dessen militärische Besetzung an diesem 13. Januar war der erste große Einsatz dieser nach März 1919 aus Frontsoldaten und Freikorps gebildeten und teilweise von Großindustrie und Banken bezahlten Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung, die schon zwei Monate später am Militärputsch beteiligt sein sollte und im Herbst 1920 wegen alliierter Proteste aufgelöst wurde. Viele ihrer Offiziere finden wir später bei der SA und Gestapo.

Es kommt zu Gerangel und einzelnen Gewalthandlungen von beiden Seiten am Westportal des Reichstagsgebäudes (die Linken sprechen später von Provokateuren). Dann wird aber einseitig, ohne Warnung und ohne akute Notwehr am Südportal das Feuer mit Maschinengewehren und Karabinern eröffnet, es werden Handgranaten in die Menge geworfen, und es wird auch weiter gefeuert, als alle fliehen. Niemand schießt zurück, die Demonstration ist unbewaffnet.

Tote liegen im Tiergarten, 1 Matrose und etwa 40 Arbeiterinnen und Arbeiter, Hunderte werden schwer verletzt.

Die Regierung nutzt das Ereignis zu einer politischen und propagandistischen Großoffensive gegen links. Ebert verhängt den Ausnahmezustand über ganz Norddeutschland, es kommt zu zahlreichen Verhaftungen. Die USPD berichtet davon, wie ganze ihrer Versammlungen in LKWs abtransportiert werden. Auch Kommunisten und Anarchisten, die gar nicht beteiligt waren, sind betroffen – es wird ohne konkrete Tatvorwürfe vorgegangen, es sollen Organisationsstrukturen zerschlagen werden. Dazu gehört auch die sofort mit dem Ausnahmezustand einsetzende Vorab-Pressezensur (mit Beschlagnahmung) gegen die Zentralorgane der USPD und KPD sowie 44 weitere lokale Zeitungen vor allem in den Streikzentren Ruhrgebiet, Mitteldeutschland und Sachsen. Sie verhindert, dass andere Darstellungen als die der Regierung veröffentlicht werden können.

Und die strickt eine Verschwörungserzählung, die Reichskanzler Gustav Bauer (SPD) am nächsten Tag in der Nationalsversammlung vorträgt: Kommunisten und USPD seien schuld, ein “geheimes Treffen” in Halle und eine “geheime Organisation” hätten einen Generalstreik und die Stürmung des Reichstags vorbereitet. Beides war überhaupt nicht passiert und für dergleichen Pläne gab es keine Beweise. Anders als von der Regierung nun insinuiert, hatten sich die “Rädelsführer” (also die Organisatoren dieser legalen Demo, Neumann und Malzahn von der Betriebsrätezentrale) nicht “in Sicherheit gebracht”, sondern waren mitten in der Menge, wie auch Abgeordnete der USPD.

Die Ereignisse wurden nie juristisch aufgearbeitet: Die SPD-Führung schloss sich, trotz Protesten von ihrer Parteibasis und deren Beteiligung auch an Signalstreiks am 14. Januar, ohne weitere Diskussion Bauers Version an, was umso pikanter war, als der Polizeipräsident von Berlin Eugen Ernst 1910 als Berliner SPD-Vorsitzender von Berlin selbst zu einer Wahlkampf-Demonstration vorm Reichstag aufgerufen und nun aber zusammen mit dem preußischen Innenminister Heine den Sipo-Einsatz geleitet hatte.

Der “Vorwärts” übertraf sich propagandistisch aber einmal mehr selbst: dankbar für die Zurückhaltung der Sicherheitskräfte solle man sein, die Regierung träfe nicht die mindeste Schuld, der Sturm auf den Reichstag sei der geplante Auftakt für “Aufrichtung einer Rätediktatur” gewesen.

Die Reichswehr, obwohl selbst wahrscheinlich direkt nicht beteiligt, profitierte auf ganzer Linie: der Ausnahmezustand übertrug ihren Wehrkreiskommandos die Exekutivgewalt und erfüllte praktisch alle ihre akuten Forderungen. Generalleutnant Roderich von Schoeler hatte in seinem Schreiben zur Lageeinschätzung als Chef des Reichswehrgruppenkommandos 2 in Kassel in der Woche vorm 13. Januar vor bevorstehendem Bürgerkrieg gewarnt. Regierung, Bürgertum und Armee müssten sich vereint der “Herrschaft des Proletariats” entgegenstellen, “die Masse kann nicht regieren, sie braucht Köpfe, die das Regieren gelernt haben, oder besonders hierzu befähigt erscheinen.” Und als “Parole für 1920” gab er aus: “Vorbereitung zum Großkampf, Losschlagen mit allen Mitteln, sobald der Kampf uns aufgedrängt wird”. Für die Reichswehr wurde das Massaker zynischerweise zu einer Demonstration ihrer Nützlichkeit, gerade drei Tage nach Inkrafttreten des Versailler Vertrags, der die Mannstärke der Truppen drastisch begrenzen sollte, am 10. Januar.

Für die Rätebewegung war dieser Tag “Ausweis ihrer Stärke und Schwäche”, schreibt Weipert. Einerseits war sie immer noch in der Lage, Massen von Arbeitskräften zu Arbeitsniederlegung und Protest zu mobilisieren, andererseits schien sie der Repression praktisch nichts entgegensetzen zu können. Bis zum März sollten daraus vielerorts Schlüsse gezogen werden, die zu einer Wiederbelebung der bewaffneten Rätebewegung führten.

Direkte Hinterlassenschaft dieses Ereignisses ist die sogenannte “Bannmeile“, welche die Nationalversammlung wenige Monate später im Mai 1920 als direkte Reaktion auf den 13. Januar durch das “Gesetz über die Befriedung der Gebäude des Reichstags und der Landtage” (http://bit.do/Bannmeile) einrichtete. Wegen des Blutbads einer frühfaschistischen militärischen Polizeieinheit wurde dauerhaft das Demonstrationsrecht eingeschränkt.

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Posting folgt weitgehend Axel Weipert “Die zweite Revolution”, Berlin 2015, S. 160-189. Daraus sind auch die Fotos von der Demonstration entnommen. Alle Postings zur Revolution vor hundert Jahren: Revolution in Deutschland 1918-23.

One Response to “13. Januar 1920: Massaker an der Rätebewegung”

  1. Was ist eigentlich am Samstag am Reichstag passiert? – Peter Nowak Says:

    […] demokratischen Geschichte wird übrigens auch das Massaker an mindestens 40 Arbeitern gezählt, die am 13. März 1920 für eine Räteverfassung demonstrierten und von bewaffneter […]

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