Vorbeugende Richtigstellungen

October 2nd, 2023

Bisher hab ich dieses Jahr über die Ereignisse vor 100 Jahren weitgehend exklusiv berichten können/müssen, wenige Jahrestage wurden anderswo aufgerufen, nur da und dort wurden die Scheinwerfer auf lokale Geschichte oder die Talking Points der großen Gesamterzählungen gerichtet (Inflation, Ruhrbesetzung, der große Staatsmann Stresemann, Eberts Bauchschmerzen beim Geflüchtete abweisen, äh, beim Streikende erschießen lassen usw.)

Deshalb sind gerade die Ereignisse im Frühjahr und Sommer 1923 so besonders unsichtbar – weil sie in die großen Erzählungen nicht hineinpassen: linke, sozialistische parlamentarische Mehrheiten und sogar Regierungen, eine immer noch stark sozialistisch orientierte SPD-Parteibasis, eine noch längst nicht im sowjetischen Modell aufgegangene KPD, die gemeinsamen proletarischen Hundertschaften, das schon recht klare Verständnis von der faschistischen Reaktion und die offene Mobilisierung dagegen, der letztmalig erfolgreiche Massenstreik und Fast-Generalstreik im August, der die Regierung zum Rücktritt zwingt und Teile des Großbürgertums zum Bekenntnis zur Republik nötigt.

Nun kommen einerseits die hegemonialen Narrative zum Oktober und November um die Ecke, in denen meist eine gewisse Unausweichlichkeit konstruiert wird, mit der die Sozialdemokratie ein weiteres Mal mit der “bürgerlichen Mitte” gegen den drohenden Bolschewismus zusammenstehen muss und auch in Bayern Schlimmeres verhindert werden kann. Dass in Bayern ab Ende September bereits eine antisemitische Diktatur herrschte, deren Ausgreifen auf den Rest des Reiches nur durch den eigenen Einmarsch der Regierungstruppen in Sachsen und Thüringen aufgeschoben und schließlich durch den grotesken Putschversuch Hitler-Ludendorff vereitelt wurde – das passt alles nicht ins Bild.

Andererseits gibt es die linken Parteierzählungen, in denen je nach Richtung die KPD schon vollständig bolschewisiert und auch schon fast seit Beginn der Revolution federführend war, die Geschichte des Antifaschismus erst 1932 losgeht, die ‘Arbeiterregierungen’ erst im Oktober starten (statt mit dem sächsischen Tolerierungsabkommen im März) und versuchsweise mit heutigen grundverschiedenen Koalitionen gleichgesetzt werden, der “Deutsche Oktober” als eine reale Revolution behandelt oder eben auf die Planung des “Verschwörerstücks” (Arthur Rosenberg) durch die Komintern reduziert wird, die KPD wegen der kurzen Phase des ‘Schlageter-Kurses’ als antisemitische Organisation behandelt wird, sich Formulierungen finden, wie dass der Funke des Hamburger Aufstands nicht mehr übergesprungen ist – während gerade Zehntausende Soldaten in lauter Gebiete einmarschierten, die den ganzen Sommer über im Aufstand waren und die auch sonst kaum jemals irgendwo auftauchen.

Ich befürchte, dass ich nur wenig dazu kommen werde, all diesen Erzählungen, die die Revolutionsgeschichte nur als Steinbruch für den heutigen Lieblingsfilm verwenden, konkret zu widersprechen – ich werde mich weiter darauf konzentrieren, soweit mir das möglich ist die Ereignisse zu rekonstruieren und euch damit Material in die Hand zu geben um die Erzählungen zu durchschauen und auch zu verstehen, warum sie so aussehen.

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