26. September 1923: Zweiter ‘kalter Putsch’ in Bayern

September 26th, 2023

Am 26. September 1923 ernennt der bayerische Ministerpräsident Eugen von Knilling seinen Amtsvorgänger Gustav Ritter von Kahr zum Generalstaatskommissar mit diktatorischen Vollmachten. Dieser war im Zuge des Kapp-Lüttwitz-Putsches im März 1920 durch einen eigenen ‘kalten Putsch’ ins Amt gelangt, hatte Bayern zum Rückzugsraum für konterrevolutionäre Verbände gemacht (von den Massenmördern der Marinebrigade Ehrhardt über die terroristische Organisation Consul bis zur NSDAP), antisemitische Hetze betrieben und den Freistaat in einen autoritären Modellstaat geformt, den er die ‘Ordnungszelle’ nannte.

Nachdem die Reichsregierung unter Gustav Stresemann am 23. September den ‘passiven Widerstand’ gegen die französisch-belgische Besatzung offiziell beendet hatte, rief von Knilling umgehend den Ausnahmezustand für Bayern aus. Die Diktatur verschärft nun die ohnehin stark militarisierte und repressive Situation. Von Kahr verbietet die KPD und den Selbstschutz der SPD, veranlasst Razzien im Gewerkschaftshaus und bei der sozialdemokratischen Münchener Post, bereitet judenfeindliche Maßnahmen vor und plant einen ‘Marsch auf Berlin’ (nach dem Vorbild von Mussolinis ‘Marsch auf Rom’ im Jahr zuvor) um die ‘Ordnungszelle’ auf das ganze Reich auszuweiten.

Dabei sollen neben der Armee auch die kleinbürgerlich-faschistischen Fußtruppen, die sich Anfang September beim Deutschen Tag in Nürnberg um Hitler und Ludendorff zum ‘Deutschen Kampfbund’ zusammengeschlossen haben, zum Einsatz kommen. Hitler schwört sie bereits darauf ein, im Kampf zu fallen, und orakelt ganz im Sinne der oberen Etagen: “Was sich heute anbahnt, wird größer sein als der Weltkrieg! Es wird ausgefochten werden auf deutschem Boden für die ganze Welt!” (Jones 2022:269)

Großindustrielle wie Hugo Stinnes und führende Militärs wie der Chef der Heeresleitung Hans von Seeckt formulieren Ende September ihre Regierungsentwürfe, die sich um Abschaffung des Parlaments, Wiederausweitung des Arbeitstages, Aufgabe aller Sozialisierungsvorhaben, Auflösung oder korporatistische Vereinnahmung der Gewerkschaften und Zerschlagung sämtlicher sozialistischer Organisationen drehen – es geht darum, die Revolution rückgängig zu machen und den Kaiser durch einen Diktator oder ein Direktorium zu ersetzen.

Die offene Zuspitzung in Bayern beschleunigt zusammen mit der umgehenden Verhängung des reichsweiten Ausnahmezustands durch Friedrich Ebert noch mal den Zulauf zur KPD, die Ende September 295.000 Mtglieder zählt, und zu den ‘gemeinsamen proletarischen Hundertschaften’ aus etwa 50.000 sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeitskräften, die sich als Verteidigung der Republik gegen Konterrevolution und Faschismus begreifen und gegen die bayerische Diktatur eine norddeutsche Gegenmacht mit Kern in Sachsen und Thüringen bilden wollen.

Während schnell klar wird, dass die Reichswehr nicht gegen die verfassungswidrigen Zustände in Bayern eingesetzt wird, werden die Rufe aus Bürgertum und Militär nach einem Einmarsch in Sachsen und Thüringen zu direkten Forderungen. Dort haben SPD und KPD zusammen legale Mehrheiten und führen Verhandlungen über Koalitionsregierungen. Unternehmer, die den tendenziellen Verlust ihrer Privilegien und die Eindämmung ihrer Willkür als Unrecht ansehen und eine Rückkehr zum “lutherischen Hausvaterverständnis”, die Überwindung des Klassenkampfs durch eine korporatistische “Werksgemeinschaft” (Pohl 2022:152) anstreben, sammeln sich um Stresemanns Verband Sächsischer Industrieller, dessen permanente Gräuelpropaganda über ‘Sowjetsachsen’ seit Anfang September auch von Adolf Hitler aufgegriffen wird. Im Unterschied zu Kahr sieht er die ‘Bolschewisierung’ Norddeutschlands nicht erst noch bevorstehen, sondern hält sie für längst passiert.

Soweit sich Teile der KPD-Führung an die Linie der Komintern gebunden sehen, versuchen sie deren parallele Strategie umzusetzen, offen für die ‘Arbeiterregierungen’ einzutreten und gleichzeitig versteckt einen revolutionären Putsch nach bolschewistischem Vorbild vorzubereiten, am besten zum Jahrestag der Oktoberrevolution. Das kostet nicht nur wertvolle Zeit, missachtet die für ein derartiges Abenteuer völlig unzureichende Bewaffnung der Hundertschaften und stößt entsprechend auf wenig Zuspruch, es übergeht auch das recht eindeutige Mandat der kommunistischen wie linkssozialdemokratischen Basis für Massenproteste (‘Antifaschistentag’ Ende Juli) und Generalstreik (Cuno-Streiks im August) zur Verteidigung der Republik gegen die immer offener faschistische Konterrevolution und zur Vollendung der Revolution, zur Demokratisierung der Wirtschaft und der bewaffneten Organe – wofür mit dem Ende des ‘passiven Widerstands’ nun mit dem jedem Tag mehr die ökonomischen und politischen Grundlagen schwinden.

Unterdessen herrscht weiter Hunger in weiten Teilen des Reiches, während sich einige ordentlich die Taschen vollmachen. Friedrich Flick verlegt im September 1923 seinen Firmensitz nach Berlin und nutzt weiter Inflation und Krise um sich in Oberschlesien passende Unternehmen für seinen wachsenden Stahlkonzern zusammenzukaufen: die Bismarckhütte, die Kattowitzer AG (Kohle) und die Oberschlesische Eisenindustrie AG.

Links: Gustav von Kahr (ca. 1921), rechts: kommunistisches Erklärflugblatt zur Mobilisierung der Hundertschaften gegen die faschistische Reaktion (ca. Monatswechsel September/Oktober 1923)

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1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden
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1923 Juli: ‘Antifaschistentag’, Streiks, militante Lohneintreibungen
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