August 1923: Millionenstreik erzwingt Rücktritt der Regierung

August 10th, 2023

Am 10. August 1923 beginnt eine Streikwelle, die nach zwei Tagen mit 3,5 Millionen Streikenden an der Schwelle zum Generalstreik steht und zum Rücktritt der ohnehin angeschlagenen bürgerlichen Reichsregierung führt.

Inmitten von ohrenbetäubendem Nationalismus, allgegenwärtigem konterrevolutionärem Militär, aufsteigendem Faschismus, galoppierender Inflation und immer noch fortwährend sich umwälzender Gesellschaft und Kultur kommen noch mal Millionen von Arbeitskräften zu sich, streiken zum dritten Mal in fünf Jahren die Regierung aus dem Amt, wollen die Revolution vollenden, die Republik verteidigen und mit ihren Räten die Sozialisierung von unten durchsetzen.

Auslöser ist ein Arbeitskampf im Berliner Druckgewerbe, der auch die Reichsdruckerei und damit die Notenpresse des Reiches stilllegt, es kommt zu einem Mangel an Papiergeld, andere Arbeitskräfte (Elektrizitätswerke, Bau, Verkehrsbetriebe) schließen sich dem Streik an. Am Abend des 10. August tagt die Kommission der Berliner Gewerkschaften, linke Sozialdemokraten unterstützen den von der KPD vorgeschlagenen dreitägigen Generalstreik und die Bildung einer reichsweiten ‘Arbeiterregierung’, die SPD-Parteiführung votiert dagegen. Die KPD stellt im Reichstag ein Misstrauensvotum gegen die Regierung Cuno und beruft für den nächsten Tag, Samstag den 11. August 1923, eine Vollversammlung der revolutionären Betriebsräte von Groß-Berlin ein, die zum Generalstreik bis zum Sturz der Regierung Cuno aufruft.

Wegen der Ausnahmeverordnung, mit der Reichspräsident Ebert tags zuvor Verbote von Presseorganen erlaubt, “die zur gewaltsamen Beseitigung oder Änderung der Staatsform des Reiches oder der Länder auffordern”, wird auch “Die Rote Fahne”, das Zentralorgan der KPD, nach Abdruck des Generalstreik-Aufrufs verboten. Unter dem Titel “An die arbeitenden Klassen Deutschlands” wird darin der Rücktritt der Regierung, die Beschlagnahme von Lebensmitteln und die Einführung einer gleitenden Lohnskala, die automatische Anpassung der Löhne an die Inflation, gefordert und an alle appelliert, “sofort eine gemeinsame Aktion zur Bildung einer Arbeiterregierung einzuleiten”.

Auch wenn die Verbreitung des Aufrufs durch das Verbot behindert wird, breiten sich die Streiks und die Forderungen in Berlin weiter aus und greifen auf andere Städte und Regionen über, vor allem Hamburg, die Lausitz, die preußische Provinz Sachsen sowie die ‘roten’ Freistaaten Sachsen und Thüringen. Im Ruhrgebiet besetzen kommunistische und syndikalistische Arbeitskräfte Fabriken und verjagen die Betriebsleitungen. Auf dem Höhepunkt der Mobilisierung streiken 3,5 Millionen – gerade erst waren die wochenlangen Streiks der Hochseefischer (Streiks und Krawalle auf den Hamburger Werften, Lotsenstreik auf der Unterelbe) und im Kohlebergbau in Westsachsen zu Ende gegangen.

Streikkundgebungen und Demonstrationen werden überall im Reich von der Polizei angegriffen, mindestens 30 Protestierende werden dabei erschossen, Hunderte verletzt, so in Merseburg, Wilhelmsburg, Senftenberg, Leipzig. In Köln werden 15 Menschen angeschossen, als sie das Polizeipräsidium stürmen. In Zeitz wird am 11. August das Gefängnis gestürmt, ein Streikkomittee und eine Arbeiterwehr bilden sich. Die Schutzpolizei greift an, es gibt Tote und Verletzte. Zwei Tage später demonstrieren etwa 10 000 Bergleute von Theißen nach Zeitz. An der Auebrücke treffen sie auf die Schutzpolizei und rufen ihnen zu, sie sollen die Waffen wegwerfen und mitdemonstrieren. Die Polizei eröffnet das Feuer, 9 Bergleute sterben sofort, 2 erliegen später am Tag ihren Verletzungen, mehr als 30 Verletzte sind zu beklagen.

In vielen anderen Städten kommt es zu Unruhen und Plünderungen, aber auch zu Angriffen durch reaktionäre Organisationen (am 12. August lynchen NSDAPler den Metzger Peter Stengel am Rande ihres Aufmarschs zum “Deutschen Tag” in Kulmbach zu Tode). Auch die militanten Lohneintreibungen und Preiskontrollen, die besonders in Westsachsen unter der Deckung der erstarkenden Betriebshundertschaften seit Mai zugenommen hatten, gehen unterdessen weiter, so am 7. August in Limbach und am 16. August in Hermsdorf.

Für einen kurzen Moment sieht es am 12. August 1923 so aus, als würde die Republik der Arbeitskräfte endlich Wirklichkeit – wie schon in den Generalstreik-Situationen am 9. November 1918, am 3. März 1919 und am 18. März 1920. Doch wie jedes Mal zuvor ist es im entscheidenden Moment die Bereitschaft Eberts und der SPD-Führung, sich mit Bürgertum und Militär gegen die eigenen Leute zusammenzutun, die das letztlich verhindert. Dazu muss diesmal auch der bislang überwiegend monarchistisch-autoritär gesinnte Großteil des Bürgertums plötzlich sein Herz für eine Republik entdecken, in der er den Hut aufbehalten kann.

Als klar wird, dass für Montag den 13. August ein Generalstreik bevorsteht, an dem sich auch die sozialdemokratische Basis in Massen beteiligen wird, fordert nun auch die SPD den Rücktritt von Reichskanzler Cuno, der am Abend des 12. August seine Demission einreicht. Reichspräsident Ebert beauftragt mit der Regierungsneubildung unverzüglich den Industriellen Gustav Stresemann, im Weltkrieg einer der lautesten Kriegstreiber bis zum Schluss, danach bis gerade eben noch wie die meisten Bürgerlichen aus seiner DVP (und der DNVP) gegen die Republik und für “die alten Zeiten”, in denen die Arbeitskräfte noch gespurt haben. Wie August Thalheimer hinterher schreibt, hat das Bürgertum hier wie meist mit dem Rechenschieber Politik gemacht: “Von einem bestimmten Punkt ab mußte die Inflation nicht mehr als Exportprämie wirken, sondern umgekehrt. Die Bourgeoisie hat die Inflationskonjunktur ganz kühl bis zu Ende ausgenützt. Sie ist bis zu dem Punkt gegangen, zu dem man überhaupt gehen konnte, und hat erst dann ganz Schluß gemacht, als die Inflationskonjunktur in die Inflationskrise umzuschlagen begann”, als ihnen also von den Arbeitskräften die Rechnung präsentiert wurde.

Die SPD-Führung ist, anders als die Parteilinke und große Teil der Basis, nun zu einer “großen Koalition” bereit (damals so genannt wegen der Breite des politischen Spektrums von SPD über Zentrum und DDP bis zur DVP). In der nunmehr achten Reichsregierung seit Beginn der parlamentarischen Republik übernimmt Kanzler Stresemann auch das Außenministerium, fünf Minister gehören der SPD an.

Millionen streiken weiter, bis Stresemann in seiner Regierungserklärung am 14. August die Forderung nach “Wertbeständigkeit der Entlohnung”, also nach gleitender Lohnskala, berechtigt nennt, natürlich nicht ohne klarzustellen, wie sehr ihm das eigentlich gegen den Strich geht. Er verurteilt die Streiks als unverantwortlich und ruft der KPD zu: “Wer Streiks in der Erntezeit veranlasst, versündigt sich am deutschen Volke.” 239 der 342 anwesenden Reichstagsabgeordeneten stimmen für die neue Regierung, 76 mit Nein, 24 enthalten sich. Die SPD-Abgeordneten aus Sachsen und die meisten ehemaligen USPDler bleiben der Abstimmung fern. Auch einige DVP-Abgeordnete um Reinhold Quaatz verlassen den Saal vor der Abstimmung.

Am selben Tag beschließt die Vollversammmlung der Betriebsräte Groß-Berlins den Abbruch des Generalstreiks. Die Zentrale der KPD und der Reichsausschuss der Betriebsräte schließen sich an. Obwohl die Gesamtsituation weiterhin angespannt ist, Maßnahmen zur Währungsstabilisierung durch Verteuerung der deutschen Waren auf dem Weltmarkt die Arbeitslosigkeit weiter steigen lassen, der Dollarkurs Ende August 11 Millionen Mark erreicht und der “passive Widerstand” gegen die (Beteiligung der Bourgeoisie an den) Raparationsleistungen weitergeht, setzt die Revolution leider nicht direkt nach.

Die Streiks veranlassen die Komintern, direkt ins Geschehen einzugreifen und die KPD auf einen Aktionsplan festzulegen, der als “Deutscher Oktober” nach sowjetischem Vorbild erst im Herbst losschlagen soll und auf einer völligen Verkennung der Situation beruht: angesichts des geringen Bewaffnungs- und hohen Organisationsgrads ist die generalstabsmäßige Planung einer militärischen Operation so fehl am Platze wie überwiegend unbeliebt. Trotzki lädt deutsche Kommunisten am 15. August auf die Krim ein, um mit ihnen die Chancen einer Revolution in Deutschland zu diskutieren, als diese gerade ihre vielleicht beste, definitiv letzte Gelegenheit verstreichen lässt.

Am 16. August verbietet der preußische Innenminister den Reichsausschuss der deutschen Betriebsräte, der von Jena im ‘roten’ Thüringen aus halblegal weiterwirkt. Der Verband Sächsischer Industrieller, einst 1902 von Stresemann für den Klassenkampf von oben gegründet, verlangt immer lauter nach dem Einmarsch der Reichswehr in Sachsen.

Reichspräsident Ebert, der neue Reichskanzler Stresemann
und der Gedenkstein für die von der Polizei erschossenen Bergleute in Zeitz.

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1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden
1923 Juni: Komintern debattiert Faschismus, Streiks in Sachsen, Prozess gegen Plättner in Halle
1923 Juli: ‘Antifaschistentag’, Streiks, militante Lohneintreibungen
Alle Postings zur Revolution: Revolution in Deutschland 1918-23

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