10. Oktober 1923: SPD-KPD-Regierung in Sachsen

October 10th, 2023

Am 10. Oktober 1923 tritt die KPD in die sächsische SPD-Landesregierung unter Erich Zeigner ein, mit der sie bereits seit März auf Grundlage eines Tolerierungsabkommens kooperiert. Mit diesem Schritt folgt die KPD-Führung gegen besseres Wissen dem Revolutionsplan der Komintern (“Deutscher Oktober”), obwohl die darin vorgesehenen Wirkungen – deutlich bessere Bewaffnung der gemeinsamen proletarischen Hundertschaften und Zugriff auf die reguläre Staatsgewalt – weder zu erwarten sind noch eintreten. Paul Böttcher wird Finanzminister, Fritz Heckert Wirtschaftsminister, KPD-Vorsitzender Heinrich Brandler der Leiter der Staatskanzlei.

Auch wenn bürgerliche Presse und zuständige Ministerien schon vorm Regierungseintritt auf militärisches Eingreifen in Sachsen drängen, machen es die offene Koalitionsbildung und ein am gleichen Tag im KPD-Zentralorgan “Die Rote Fahne” veröffentlichter Brief Stalins (“Die kommende Revolution in Deutschland ist das wichtigste Weltereignis unserer Tage. Der Sieg der Revolution in Deutschland wird für das Proletariat in Europa und Amerika eine größere Bedeutung haben als der Sieg der russischen Revolution vor sechs Jahren.”) dem großbürgerlichen Kanzler Stresemann noch leichter, Bayern sozusagen rechts liegen zu lassen und gegen “Sowjetsachsen” vorzugehen.

Dabei hilft auch das am 13.10. beschlossene Reichs-Ermächtigungsgesetz, das der Regierung erlaubt Maßnahmen zu ergreifen, bei denen “von den Grundrechten der Reichsverfassung abgewichen” wird, allerdings sind Arbeitszeiten und Sozialleistungen davon ausgenommen – über diese Einschränkung war Stresemanns erstes Kabinett noch am 3.10. zerbrochen, weil der ADGB interveniert hatte, ein letzter Sieg der Arbeitskräfte. Nun soll das Gesetz neben notfalls erzwungener bürgerlicher Regierung auch staatlichen Zugriff auf Nahrungsmittel ermöglichen, während Sachsen und Thüringen faktisch weiter ausgehungert werden.

Auch in Thüringen bilden SPD und KPD am 16.10. eine Koalitionsregierung unter August Frölich, in der Karl Korsch Justizminister und Albin Tenner Wirtschaftsminister werden. Die Hundertschaften werden als “republikanische Notwehren” zum Schutz der Verfassung deklariert. Die Landesregierung sieht ihre “besondere Aufgabe … dadurch bestimmt, daß Thüringen das Grenzland ist desjenigen deutschen Gliedstaates, in dem die Gegner der Republik faktisch die Staatsgewalt bestimmen“. Hier wird die Reichswehr erst Anfang November einmarschieren, wenn sie mit Westsachsen fertig ist.

An der Basis dominiert die verzweifelte Realität einer völlig grotesken Geldentwertung (der Brotpreis verzehnfacht sich gerade innerhalb einer Woche auf 500 Millionen), der Massenarbeitslosigkeit (in vielen Gegenden die Mehrheit der Erwerbsfähigen, besonders verheerend in Sachsen), von Hunger und monatelanger Unterernährung. Die mangelhafte Bewaffnung der Hundertschaften ist offenkundig, sie verstehen sich selbst als lokale Gegen-Ordnungsmacht von unten, und die direkte Auseinandersetzung mit faschistischen Verbänden aus Bayern wird nur im Zusammenwirken mit Teilen der Reichswehr für realistisch gehalten.

Ein beträchtlicher Teil der KPD-Führung verbringt jedoch die Wochen der “Revolutionsvorbereitung” fernab dieser Realitäten bei der Komintern in Moskau, wo die Revolutionspläne auch zum Gegenstand interner Machtkämpfe sowohl der KPdSU wie der KPD werden. Nicht nur wird von dort aus die Lage in Deutschland verkannt (immer noch Millionen sozialistisch gesinnter Arbeitskräfte, aber so gut wie keine Waffen und paralysierende Lage, kein Mandat für Herrschaft einer Avantgardepartei), auch werden die Möglichkeiten der Sowjetunion völlig überschätzt, in Mitteleuropa militärisch einzugreifen – oder nennenswert ökonomisch durch die anlaufenden Getreidelieferungen, die dennoch einigen Hunger stillen.

Ab 21. Oktober marschieren Reichswehr und illegale “Schwarze Reichswehr” in Divisionsstärke, ausgestattet mit Minenwerfern, Kavallerie, Maschinengewehren und Panzerwagen, in Nord- und Ostsachsen ein. Truppentransporte gelangen reibungslos nach Sachsen, weil Bahnarbeitskräfte glauben (sollen), die Reichswehr werde gegen Bayern eingesetzt. Der Auftrag lautet jedoch Zerschlagung der seit Ende September verbotenen Hundertschaften. In die wichtigsten Städte wird still eingerückt, oft in der Nacht, und dann werden sie blitzartig besetzt (“Straße frei, es wird geschossen!”): Verhaftungen mit vorbereiteten Listen (vier Jahre konterrevolutionäre Erfahrung zahlt sich aus), Misshandlungen, Durchsuchungen, Internierungen Tausender, Zerstörung, Willkür.

Es kommt vereinzelt zu Widerstandshandlungen, die jedoch erbarmungslos unterbunden werden. In Meißen wird eine Protestkundgebung mit Säbeln und Gewehrkolben auseinandergejagt. In Borna werden in den Morgenstunden 60 Verhaftungen vorgenommen, dann wird die Gemeinderatssitzung gestürmt und verprügelt. In Pirna schießt am 23.10. das II. Bataillon des 10. Reichswehr-Infanterieregiments aus Bautzen auf eine Menge, die am Marktplatz für ihre Erwerbslosenunterstützung Schlange steht und den heranfahrenden Panzerwagen begrüßt: “Da ist der neue Brotwagen, schmeißt ihn um!” Als sich die Menge nicht schnell genug zerstreut, lässt Hauptmann von Friesen feuern, der 18jährige Arthur Müller stirbt, weitere sechs Erwerbslose werden von hinten schwer angeschossen. Das schlimmste Massaker passiert am 27.10. in Freiberg, als die Reichswehr auf eine Protestkundgebung schießt: 23 Tote.

Am Tag des Einmarschs entscheidet die in Chemnitz einberufene Betriebsrätekonferenz, angesichts der Übermacht keinen Generalstreik auszurufen – die KPD zieht in Abstimmung mit der Komintern ihren Generalstreikaufruf zurück und gibt den Aufstandsplan auf. Unklar ist, ob den Anwesenden bewusst ist, wie endgültig diese Entscheidung sein wird. Ein gemeinsamer Generalstreikaufruf, der am 30.10. in der sozialdemokratischen Presse erscheinen soll, kann kaum verbreitet und so gut wie nicht befolgt werden.

In Hamburg geht die dortige KPD unter Ernst Thälmann zum Aufstand über, am Morgen des 23.10. bewaffnen sich mehrere Hundert Aufständische aus 24 Polizeiwachen und können sich in einigen Arbeitervierteln bis zum nächsten Tag gegen Reichswehr und Polizei halten. Obwohl die Barrikaden schließlich aufgegeben werden und sich geordnet (durch die Kanalisation) zurückgezogen werden kann, fordert der Aufstand über 100 Tote, darunter viele Unbeteiligte.

Die Diktatur in Bayern weist ab 17.10. Dutzende jüdische Familien aus, die Ausweisungsbefehle unterschreibt Gustav von Kahr selbst, darunter sind Rückführungen nach Polen. Bis Ende des Monats trainieren bayerische Truppen im Rahmen der “Herbstübung 1923” Aufstandsbekämpfung. Hitler will hingegen nicht abwarten, “wie es in Sachsen geht” und gleich auf Berlin marschieren – Mussolinis Marsch auf Rom jährt sich vom 27.-31. Oktober zum ersten Mal.

Da sich Ministerpräsident Zeigner weigert, seine Regierung aufzulösen, und erklärt, nur der sächsische Landtag könne das (die Hundertschaften seien außerdem zur Abwehr der “schwarzen Reichswehr” erforderlich, weil die Reichswehr nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch nicht demokratisiert wurde), erlässt Reichspräsident Ebert am 29.10. eine Notverordnung, die im Rahmen der “Reichsexekution” die notfalls gewaltsame Absetzung der Landesregierung (seiner eigenen Partei!) erlaubt. (Im Grundgesetz der BRD ist das übrigens Artikel 37, der “Bundeszwang”.) Die Reichswehr, seit Tagen schon mit mittlerweile 60.000 Mann in Stellung gegangen, vertreibt Minister aus dem Staatsministerium, besetzt den Landtag und räumt ihn schließlich, setzt Zeigner fest, der am nächsten Tag seinen Rücktritt erklärt. Die neue Regierung wird schon wenige Tage später gegen die “Reichsexekution” klagen, aber die Tatsachen sind geschaffen.

Am 31. Oktober ist ein Brot mehrere Milliarden wert, die Arbeitslosenquote liegt bei 19,4%, Menschen ziehen aus den Städten aufs Land und plündern Lebensmittel, und die Revolution hat verloren.

Die Reichswehr besetzt Freiberg.

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