Was heißt hier Demokratie?

January 25th, 2024

Zur Vorgeschichte von Revolution und Konterrevolution, Antisozialismus und Antisemitismus in Sachsen und Deutschland von der Reichseinigung bis zum Ersten Weltkrieg

Arbeitskräfte (und generell Bevölkerungsmehrheiten) können ihre Interessen am besten durchsetzen, wenn möglichst viele von ihnen wählen und politisch mitbestimmen, und letztlich ist es nur von ihrem Interessenbewusstsein (Klassenbewusstsein) abhängig, ob sie sich dafür auch einsetzen. Das Ausmaß der Zustimmung des Bürgertums (und generell der herrschenden und besitzenden Klassen) zu Demokratie und allgemeinem Wahlrecht war hingegen stets davon abhängig, inwieweit sie als Minderheiten, die von der Ausbeutung der Mehrheit leben, Wahlverfahren und Ergebnisse (durch Geld und Gewalt) so beeinflussen konnten, dass ihre Verfügung über Eigentum und Gewaltmittel so wenig wie möglich angetastet werden.

Dieser Konflikt begleitet den Aufstieg der Arbeitskräfte-Massenbewegungen ab dem 19. Jahrhundert, besonders eng im Falle der deutschen Sozialdemokratie, wie der kanadische Historiker James Retallack in seiner umfangreichen und detaillierten Untersuchung über Wahlrecht und Wahlkampf im Kaiserreich nachzeichnet. “Das rote Sachsen” ist kein direkter Beitrag zur Sozialgeschichte der Anfänge der sozialistischen Arbeitskräfte-Selbstorganisation, aber aus den ausgebreiteten Zahlen, Ereignissen und Debatten wird deutlich, wie sich zentrale Konflikte aufgrund der frühen und flächendeckenden Industrialisierung zuerst in Sachsen entfalteten und zuspitzten. Es ist mitzuverfolgen, wie sich viele der ersten Mitgliedschafts- und Wahl-Hochburgen der (revolutionären) Sozialdemokratie in den am stärksten industrialisierten Regionen bildeten, besonders in Westsachsen, der Gegend um Zwickau, vielleicht nirgendwo so rapide wie in Crimmitschau; wie sehr also diese spätere reichsweite Massenbewegung (die in Sachsen nach der Revolution so viele Mitglieder haben wird wie in Frankreich und Italien zusammen) ihren Grundstock in den überarbeiteten Lohnabhängigen hatte, die um sich herum einen bis dahin ungekannten Wohlstand blühen sahen, der auf ihrer Ausbeutung beruhte und an dem sie ohne Gegenwehr nicht teilhaben sollten; schließlich auch, wie sehr diese Bewegung sowohl sozialistisch als auch demokratisch war.

“Doch das deutsche Bürgertum wertete Leistung, Bildung und Kultur so sehr, dass es den Idealen der sozialen Gleichheit und der politischen Inklusion wenig Beachtung schenkte”, schreibt Retallack. Er zeigt ausführlich, wie die heftigen Konflikte innerhalb der besitzenden Klassen, zwischen Bürgertum und Grundbesitzern, Groß- und Kleinbürgertum, Konservativen, Links- und Nationalliberalen durch die Formierung einer antisozialistischen Front (vor allem zur Aufstellung von gemeinsamen Gegenkandidaten) überwunden oder zumindest vorübergehend ruhiggestellt werden konnten. Die ideologische Klammer für diese taktischen Allianzen, die (wie jede wirksame Form von Ideologie) die Feindbilder der verschiedenen Interessengruppen (vor allem Liberalismus, Demokratie, Sozialismus) zusammenfasste, bildeten ein immer stärker völkisch aufgeladener Nationalismus und schließlich die erste Synthese des modernen Antisemitismus, der hinter allen Bedrohungen nun “den Juden” walten sah. So gewann nach dem sozialdemokratischen Wahlsieg in Pirna 1903 der gemeinsame bürgerliche Kandidat, der Kaufmann Otto Hanisch, den Wahlkreis für eine antisemitische Wahlvereinigung zurück, bis er 1912 vom Sozialdemokraten Otto Rühle abgelöst werden konnte.

Diese erste Synthese bereitete die zweite im 1919/20 von Hitler während seiner Tätigkeit als Reichswehrbibliothekar entwickelten Nationalsozialismus vor, als sich die “Retter der alten Ordnung” nicht mehr nur dem Klassenkampf, sondern der ausgewachsenen Revolution gegenübersahen und nun versuchten, sich ihres reaktionären Erscheinungsbildes zu entledigen, ihre antidemokratische Grundhaltung als die eigentliche deutsche Demokratie hinstellten und (unter Rückgriff auf den nationalistisch und konterrevolutionär gewendeten “Sozialismus” in der SPD-Führung) ihren völkischen Nationalismus, ihren Antisemitismus und Antisozialismus als die eigentliche sozialistische Revolution. Diese Umdeklaration ist uns bis heute erhalten geblieben, und ihre Rolle dabei, den Charakter des deutschen Faschismus zu verwischen und seine Verbrechen nach vermeintlich links auszulagern, ist längst in weiten Teilen des konservativ-bürgerlichen Lagers verinnerlicht, wie zuletzt an massenweise Fans von Elon Musk und Ben Shapiro zu sehen war, die anlässlich von deren Besuch in Auschwitz nicht müde wurden zu betonen, dass der Holocaust von “Sozialisten” begangen wurde.

Vieles, was Retallack an Material über die hoheitliche Einwirkung auf Wahlen in der Zeit des Kaiserreichs aufführt (Behinderung des Wahlkampfs, erklärte Parteilichkeit von Verwaltung und Staatsgewalt), weist denn auch auf die konterrevolutionäre Praxis ab 1918: von der Manipulation der Zusammensetzung der Räteversammlung am 10. November 1918 über die “Ordnungszelle” Bayern bis zur gewaltsamen Absetzung sozialistischer und antifaschistischer Landesregierungen in Sachsen und Thüringen im Herbst 1923 durch die Reichswehr, schließlich der weiteren Besetzung Thüringens und Unterdrückung der sozialistischen Parteien bis zur Landtagswahl am 10. Februar 1924, die mit einem Wahlsieg des Ordnungsbunds aus Bürgertum und Grundbesitzenden endete und zur Tolerierung durch die Vereinigte Völkische Liste bzw. des Völkisch-Sozialen Blocks des radikalen Antisemiten Artur Dinter führte, welchen die verbotene NSDAP für ihre Rehabilitierung nutzte – dazu mehr in einem Posting zum 100. Jahrestag der Wahl.

“Das rote Sachsen” ist kostenfrei (ggf. zzgl. Bereitstellungspauschale) bei der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung bestellbar.

Leave a Reply

2MWW4N64EB9P