classless Jahresrückblick 2017

December 29th, 2017

Ich bin nun 40 Jahre alt, blicke auf 24 Jahre Linksextremismus und 8 Jahre Facebook zurück, gab dieses Jahr 9 Clastah-Konzerte (4 vor Egotronic) und hielt 52 Vorträge (12 mit Magui López), 3 neue und 2 komplett überarbeitete Themen, 8 neue Städte – und der Don ist tot.


Youtube-Playlist mit acht Vortragsmitschnitten zu Rausch, Lust, Ideologie, Verschwörung, Identität, Herrschaft und Klassenkampf (von den aktuellen Vorträgen fehlen noch: 1917, AfD, US-Geschichte, “Weiße unter sich”, “Am Geld kleben”)

Was war los?

Weltweit verschärft sich die Konkurrenz der Staaten, und damit verschärfen sich auch ihre Ideologie (der Nationalismus) und der Klassenkampf von oben, das Zusammenspiel von neoliberaler “Sparpolitik” (Tax Cuts in den USA, Rentenreform in Argentinien, Ausweitung der Höchstarbeitszeit in Österreich usw.) mit dem Versprechen eines “geschützten” Arbeitsmarkts (rassistische und sexistische Hetze und Diskriminierung). Das Thema Klassenkampf ist dadurch insgesamt erheblich präsenter geworden, wird aber weiterhin zu oft gegen andere Kämpfe (Antifa, Feminismus, jeweils andere politische Fraktion) ausgespielt, statt als deren gemeinsame Grundlage genommen zu werden, und ist auch zu sehr davon geprägt, dass die Verschärfungen nun auch allmählich bei denen ankommen, die sie bisher ignorieren konnten, die Betroffenen im Stich ließen und sich gegen ihre Selbstorganisation stellten. So wird die Konkurrenz der Arbeitskräfte nicht überwunden oder ausgesetzt, sondern als Streit der alarmierten Einzelnen und der besseren Ersatznationen zusätzlich eskaliert.

Das Verhältnis von parlamentarischem und ökonomischem Klassenkampf wird zu wenig hergestellt (eher von oben: Kanzler Kurzens Gegenüberstellung “Gestaltungsmöglichkeiten auf betrieblicher Ebene” vs. “übergeordnete Ebene österreichweit”); es geht zu wenig um Selbstorganisation innerhalb und außerhalb der Großgewerkschaften, es gibt zu wenig Aufmerksamkeit und Unterstützung für konkrete und potentielle kollektive Aneignungsvorgänge (Bäckerei in Hannover, Fahrradwerk in Sangerhausen, Käserei in Bad Bibra). Es wird sich zu sehr auf die verschiedenen Traditionen besonnen, die den Arbeitskräften eine Avantgarde voranstellen, eine bürgerliche Organisationsform (mitsamt ihrer Konkurrenz, Hierarchie, Abgrenzung und Rechthaberei sowie öffentlich ausgetragenen internen Konflikten, am besten auf beiden Seiten unter Berufung auf Springer-Artikel). Die Linke macht sich zu sehr zur radikalen Verlängerung der (links)liberalen Rettung des Kapitalismus, behandelt entsprechend die AfD, “Compact” und die anderen offen nationalistischen Entwicklungen zu sehr als Ursache und zu wenig als Ausdruck der sozialen und politischen Entwicklung. (Vgl. Bundestag von links nach rechts: männlicher, deutscher, akademischer; Gründe für die Wahlentscheidung; Merkels Flüchtlingspolitik; Einkommensverteilung in den USA: The Disco Years)

Im Einzelnen

Die Gewalttaten (G20), Provokationen (eine Woche im Dezember) und Verstrickungen (NSU, Amri) der öffentlichen und geheimen Staatsgewalt werden zu sehr als Skandal und Verirrung behandelt, als Abweichung von der idealen Staatsgewalt, und zu wenig als Teil ihrer Funktion; die fraglichen Cops, ihre PR-Leute (“Polizeifunk für alle”) und ihre politischen Vertretung (Mario Lehmann zu Oury Jalloh) zu sehr als Gegner und zu wenig als zu überwindendes Hindernis.

Die Auseinandersetzung mit Luther war zu viel Zitatekritik und Reproduktion von Herrschaftsgeschichte, zu wenig Kritik am auf ihn gegründeten Nationalismus und auch zu wenig Sichtbarmachung der hinter ihm verschwundenen Aufstandsgeschichte. Beim Thema Oktoberrevolution ließen sich zu viele aufs Gut-schlecht-Was-wäre-wenn festnageln statt die vorausgegangene massenhafte Selbstorganisation und deren Nachwirkungen in den revolutionären Vorgängen ins Zentrum zu rücken. Die Kritik an Elsässer war zu sehr nur Oberfläche und direkte Aktion und zu wenig Grundlage für linke Selbstkritik (“Elsässer sucht Volk – was sucht ihr?“). Immer noch sind zu viel Linke in bezug aufs Ausland einfach deutsche Urlauber (“Nutella ist alle“) und empörte Romantiker (“Holidarity“), statt sich praktisch zu solidarisieren, hier erstmal solidaritätsfähige Strukturen aufzubauen und die Kämpfe in anderen Ländern hier aus dortiger Perspektive sichtbar zu machen. (Oh, wie weit ist Argentinien!) Der wichtige Aufbruch der Selbstartikulation von Betroffenen sexistischer Übergriffe (Notiz zu #metoo) wurde hierzulande viel zu sehr vom neuesten innerlinken Schisma überschattet, dessen frische Federn nun “der Gender-Kaiser ist nackt” in die NZZ schreiben. Die rassistische Gewalt wurde zuviel nur gezählt, auf Facebook zurückgeführt und einer “unentschlossenen” Polizei angelastet, und zu wenig in den Kontext der allgemeinen Verschärfungen gestellt, denen besser mit Solidarität als mit dem Ruf nach Repression zu begegnen ist.
Ideologiekritik blieb weiter zu sehr an den gesellschaftlichen Rändern kleben und wurde zu wenig auf den gewöhnlichen Nationalismus ausgeweitet (hab ich hier beim Thema Erdoğan und Coca-Cola versucht).

Aber

Dennoch gibt es in vielen Ländern die gleiche verzweifelte Hoffnung, dass sich angesichts von Trump, Macri, Kurz & Strache, Temer usw. mehr Leute über die Sehnsucht nach der weniger offensichtlich hässlichen linksliberal-sozialdemokratischen Bestechung hinaus nach links radikalisieren. Die Übergänge sind in der Medienwelt omnipräsent – von der Mainstream-Aufmerksamkeit für bewaffnete linke US-Gruppen wie Redneck Revolt, Trigger Warning et al., über Late Night Shows (Stephen Colbert erklärt Donald Trump Jr. Sozialismus anhand von Halloween-Süßigkeiten oder Samantha Bee über die mexikanische Brigada Feminista) bis hin zu Body Count’s unerwartet heftiger und deutlicher Klassenkampf-Hymne “No Lives Matter”, der aus Mitgliedern von Public Enemy, Cypress Hill und Rage Against the Machine entstandenen Prophets of Rage, Ladybabys umwerfender Forderung nach Lohnerhöhungen und hierzulande dem Album des Jahres: BSMG “Platz an der Sonne“.


CLASTAH 2017: “Stell die Verbindung her”, “Quality & Quantity”

Tweets

  • Menschen – kennste einen, kennste einen!
  • Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. Bis die demokratische Staatsgewalt dem bösen Spuk ein Ende bereitete #PoschardtEvangelium
  • “Die Arbeiterklasse ist nicht nur weiß, männlich, heterosexuell & trinkt nicht nur Bier… Umso wichtiger, Orte & Gelegenheiten zu schaffen, in denen sich die Milieus treffen, voneinander lernen & sich für gemeinsame Interessen organisieren können.“
  • #Polizei-Geschichte: “Kontinuität bis in die Bundesrepublik… ‘der Feind stand immer links’ … Aus kommunistischen Rebellen wurden jüdisch-bolschewistische Untermenschen. ‘Es fiel den Nationalsozialisten leicht, die Polizei für sich zu gewinnen’…”
  • “Es wäre aber auch gut, Großstädter würden häufiger ihren Hintern aus der Komfortzone bewegen und diese Akteure punktuell unterstützen“ – Interview mit @luna_le
  • Am Nachbartisch regt sich jemand darüber auf, dass Kinder in der 2. Klasse Sachen wie USB und microSD englisch aussprechen. #Dresden
  • Peptalk 2017: “Du brauchst kein Studium, um im Slim-Fit-Anzug über das Schicksal Tausender Geflüchteter zu entscheiden.“ #Kurz #ÖVP #Europa
  • #Jamaika ist eine konstitutionelle Monarchie mit einer neoliberal-konservativen Regierung.
  • Mit Hugh Hefner ist schon wieder ein Reicher aus dem Westen in hohem Alter gestorben.
  • The first line of human domination is “I won’t exploit you“
  • Ob ihr nun wählt oder nicht – jetzt mehr denn je: linke Kräfte in Organisationen stärken, Arbeitskämpfe unterstützen, selbst organisieren!
  • “es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei” – wann lernt die Polizei endlich Fahren?
  • Schulvortrag im “Usedom-Krimi – Schandfleck”: “SED-Herrschaft [beruhte] auf 3 Säulen: der Mauer, der Anwesenheit der Russen & der Stasi”
  • “#Cartes’ rise to presidency in #Paraguay was the tragedy.#Macri’s in #Argentina was the farce.Wtf now is #Trump?”(@Tia_MaGui feat. Marx)
  • “Alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen ereignen sich zweimal, das eine Mal als große Tragödie, dann als Zitat.” (Hegelmarx, bekannt)
  • Macht Boris #Palmer nun seine eigene Grün-Alternative Liste auf?Politische Richtung: grün-alternativ für Deutschland?
  • Everytime Twitter asks ‘What’s happening?’ I have to think of Bill Lumbergh in “Office Space” & reconsider using it
  • Es heißt ja auch “Autobauer” – in D werden Autos noch gezüchtet, geerntet und dann nur widerstrebend zu Markte getragen…
  • Acid History: In 1989, Pink Floyd tore down The Wall & flooded Venice, as punishment for trade with Israel. Hasselhoff rotates in his grave.
  • Stell dir vor, du hetzt gegen Linke & Antifa, erwartest aber von ihnen, daß sie ständig alles gegen Nazis machen, was du selbst nicht machst
    Stell dir vor, Hunderte aus dem kleinen #Themar stellen sich gegen Nazirockfestival & Presse nennt das “kaum einer”
    Stell dir vor, Nazis beim Festival in #Themar gehen als friedlich durch, weil niemand so genau hinschaut
    Stell dir vor, Gesellschaft ist so entsolidarisiert, daß vieles unbeachtet & ohne Unterstützung bleibt & sich das alle gegenseitig vorwerfen
    Und nun stell dir vor, wie Solidarisierung zustandekommt: sich für andere interessieren, sich zusammentun & helfen, Arbeits- & Mietkämpfe…
  • 16 Jahre nach Genua freuen sich alle: Zumindest haben die Cops niemanden erschossen!
  • Eine der schönsten Sachen, die sich Menschen gegenseitig verschaffen können: eine Pause.
  • Endlich! SPD verurteilt versuchten Völkermord und Auto-Holocaust von Hamburg: “Die G20 wollten einfach nur in Ruhe über die Straße gehen…“
  • #Germany (finally!) legalized same-sex marriage (against most of #Merkel’s party’s votes) & will include this in its self-trumpeting now
  • Merkel nutzte außerdem die Gelegenheit, um in einem “Yellowwashing“-Move Aufklärungsprogramme & Affirmative Action zu Urophilie zu starten
  • Und jetzt alle: “Die #Polizei, die Polizei, die hat immer Recht! Denn wer kämpft für das Recht, der hat immer Recht…“ #fdp #friedel54
  • “I’m more afraid of Germanization of Argentina (bye vaccines, bye migrants, hello racism, hello medieval healthcare) than of Venezolization“
  • “Bei einigen Tweets denkst du dir: Anna und Arthur halten zwar das Maul, twittern aber ganz schön viel. #digitalefalle”
  • Nürnberg wirkt, als wäre nie aufgehört worden, für Reichsparteitage zu bauen, allerdings meist im Dunkeln, schlecht gelaunt & betrunken…
  • 2 Responses to “classless Jahresrückblick 2017”

    1. Ostzonensuppenwürfel Says:

      3 Dinge:

      Ladybaby <3

      Du hast ja recht!

      Ich werd's versuchen zu be<3igen!

    2. classless Says:

      Ach, Herzschn meinor! 🙂

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