Märzkämpfe 1921, Teil VII – 29. März: Leuna gestürmt, Tote auch im Ruhrgebiet, in Mannheim und Karlsruhe

March 29th, 2021

Am 29. März 1921 stürmen 21 Hundertschaften der Schutzpolizei unter Oberst Graf Poninski unterstützt von Reichswehr-Artillerie in den Morgenstunden das nur von wenigen der verbliebenen, erheblich schlechter bewaffneten Arbeitern verteidigte Leuna-Werk. Etwa 70 Arbeiter werden getötet, Hunderte in einem Stickstoffsilo eingesperrt und misshandelt (Nahrungsentzug, Spießrutenlauf), mindestens zehn Fliehende ertrinken in der Saale. Ein Befreiungsversuch endet mit weiteren Toten. Der Polizeibericht meldet einen getöteten Schupo.

Der Kommandant von Leuna, der 24jährige Peter Utzelmann alias Kempin, wie viele andere der überwiegend jungen Bewaffneten schon an den revolutionären Kämpfen der vorangegangenen Jahre beteiligt (Kiel, Volksmarinedivision), entschied trotz der geringen eigenen zahlenmäßigen Stärke nach mehreren erfolglosen nächtlichen Vorstößen auf Merseburg (Bezirkshauptstadt und mögliche Verbindung mit dem Geiseltal und dem südlichen Aufstandsbereich) das Werk zu befestigen, zog jedoch, wie die meisten der Bewaffneten im Werk, angesichts der Polizeiübermacht bereits am 28. März zur geplanten Entlastung des Mansfelder Reviers ab. Die verbliebenen Besetzer ersuchten telefonisch bei der Polizei vergeblich um eine kampflose Übergabe des Werkes – die Schupo-Einsatzleitung wollte die “Mausefalle” zuschnappen lassen.

Ebenfalls am 28. März wurden Max Hoelz’ von Schraplau und Teutschenthal kommende Rote Armee und eine Gruppe Hallenser Arbeiter, zusammen der letzte größere Kampfverband der Aufständischen, in Ammendorf zwischen Halle und Leuna nach mehreren abgewehrten Angriffen aufgerieben, die Kämpfe hatten sich nach dem Durchmarsch der Polizeiverstärkung im Mansfelder Land (siehe Teil VI) in den östlichen Teil des Mitteldeutschen Reviers verlagert, wo auch Bitterfeld noch bis 30. März in der Hand der Aufständischen ist.

Am 29. März gelingt Versprengten der Hoelz-Truppe und einigen Bitterfelder Arbeitern ein letzter Sieg über die Regierungstruppen in Gröbers, wo sie eine mit MGs und einem Minenwerfer ausgerüstete Technische Hundertschaft in die Flucht schlagen können. Im ans Aufstandsgebiet angrenzenden Sachsen wird ab 29. März, dem ersten Arbeitstag nach Ostern, vor allem in der Umgebung von Leipzig (Borna, Meuselwitz), aber auch in Oelsnitz, Schwarzenberg und Aue gestreikt, bis die Landespolizei alle Gruben besetzt. Reichswehr beginnt das aufständische Gebiet anzuriegeln, marschiert am 30. März in Sangerhausen und Aschersleben ein.

150 der aus Leuna ausgezogenen Bewaffneten erreichen das thürinigische Wiehe und dann Bachra, wo sie in der Nacht zum 31. März von 200 Schupos angegriffen werden. In einem stundenlangen erbitterten Gefecht sterben acht Arbeiter, 16 werden schwer verwundet, 60 gefangengenommen. In Halle überfällt die Schupo am Abend des 29. März die Nachrichtenzentrale in der Reilstraße und tötet die zwei Kommunisten Schneidewind und Harzdorf, die sie eingerichtet haben. In Berlin wird am 30. März der VKPD-Funktionär Wilhelm Sült aus einer Versammlung heraus verhaftet und im Polizeipräsidium am Alexanderplatz “auf der Flucht erschossen”, also ermordet. Der Polizeipräsident erlässt ein Versammlungsverbot für die Stadt.

Im Ruhrgebiet entscheidet eine von der VKPD und der syndikalistischen FAU dominierte Schachtdelegiertenkonferenz mit Vertretern von mehr als 300 Betrieben und Bergwerken am 28. März in Essen, die Streikforderungen nach Rücknahme der Überschichten, kürzeren Arbeitszeiten, höheren Löhnen, Einstellung von Arbeitslosen und Beschlagnahme leerstehenden Wohnraums um den Abzug der Schupo aus Mitteldeutschland und die “Bewaffnung des Proletariats” zu erweitern. Unmittelbar nach der Konferenz schießt die Polizei in eine Menge, die auf dem Burgplatz demonstrieren will, und tötet 18 Arbeiter, in den Auseinandersetzungen in den Nebenstraßen werden auch drei Polizisten getötet.

Während der Streikaufruf weitgehend verhallt und nur etwa 20 Prozent der Bergleute sich beteiligen, kommt es dennoch zu Kämpfen. Bewaffnete Arbeiter besetzen am 28. März Mettmann, müssen unter hohen Verlusten drei Schupo-Hundertschaften weichen. In der Nacht zum 29. März entwaffnet auch in Gevelsberg eine KAPD-Kampfgruppe die Polizei und sperrt sie ein, requiriert Geld aus Post und Bank sowie Fahrzeuge und unterbricht den Zugverkehr. Schupos aus Barmen und Hagen schlagen die Aktion nieder, töten mehr als 30 Arbeiter.

In Moers, wo VKPD und FAU relativ stark sind, ist die Streikbeteiligung hoch und einige Zechen werden besetzt. Die VKPD-Führung besteht jedoch im Sinne ihrer Eskalationsstrategie auf der Ausrufung einer “Rheinischen Republik”, belgische Truppen räumen schließlich die besetzten Schächte. Reichspräsident Ebert (SPD) verhängt am 29. März den Ausnahmezustand über die Bezirke Düsseldorf, Arnsberg und Münster, das Ruhrecho wird verboten, die übrige kommunistische Presse unter Vorzensur gestellt.

Am 29. März finden in Karlsruhe und Mannheim VKPD-Demos gegen den Schupo-Einsatz in Mitteldeutschland statt. Die Schupo feuert in die Menge, tötet in Mannheim fünf, in Karlsruhe zwei der Demonstrierenden, es kommt zu zahlreichen Verhaftungen und Misshandlungen. Weitere Proteste und Streiks gibt es u.a. in Stuttgart, Frankfurt am Main und Hanau.

Zum Terror aus Erschießungen und Misshandlungen treten ab 29. März die seit Monaten vorbereiteten Sondergerichte hinzu, um die es im letzten Teil dieser Reihe über das Ende und direkte Nachspiel der Kämpfe gehen wird.

Oben; Panzerzug der Leuna-Arbeiter nach der Eroberung des Werkes durch die Schupo, unten: von der Schupo in Leuna erschossene Arbeiter –
Näheres zu beiden Fotos und ihrer Deutungsgeschichte erläutert Tobias Kühnel-Koschmieder vom Stadtmuseum Halle hier (ab 32:40)

Märzkämpfe 1921, Teil I – 20. Februar: Kommunistischer Wahlerfolg in Mitteldeutschland
Märzkämpfe 1921, Teil II – 24. Februar: VKPD-Führung legt Ämter nieder
Märzkämpfe 1921, Teil III – 1. März: Kriminalisierung von Armut und Widerstand
Märzkämpfe 1921, Teil IV – 13. März: Vereitelter Anschlag auf die Siegessäule
Märzkämpfe 1921, Teil V – 19. März: Polizei marschiert in Mitteldeutschland ein
Märzkämpfe 1921, Teil VI – 23. März: Tote bei Protesten in Hamburg, Aufstand in Mitteldeutschland
Übersicht über die bisherigen Postings zur Revolution in Deutschland 1918-23

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