2014 wie 2015: Neue alte Lieder

December 30th, 2014

Fazit aus einem Jahr der wiederkehrenden Themen

Neben der Beackerung “neuerer” Felder – mit Rauschbegriff in Cannabis– und Crystal-Debatte, Herrschafts-, Religions- und Psychiatriekritik; mit Lustbegriff in Debatten um Consent, (Geschlechter-)Herrschaft, Sexarbeit und Reproduktionsaufstand – scheinen es doch erstmal die “alten” Erkenntnisse zu sein, die es zu verbreiten gilt, weil sie offenbar verloren gehen.

Sowohl in den Diskussionen um Verschwörungsdenken wie in denen um rassistische und antisemitische Aufmärsche und Anschläge war allerlei sehr Wichtiges fast komplett abwesend.

Vor allem fehlte der Zusammenhang von Ideologie und sozialen Auseinandersetzungen. Einfach gesagt: Wer sich nicht gegen Staat und Kapital zusammentut, wer sich mit ihnen arrangieren will oder sich gar zu ihrem Vorkämpfer machen will, wird entsprechend falsche Dinge über sich selbst, über seine Gesellschaft, die Nation und den Rest der Welt glauben. Und wer sich gegen Staat und Kapital kollektiv etwas herausnimmt – praktisch heißt das: Zusammenschluß, Streik, Aneignung, Selbstorganisation, Schaffung von ebenbürtigen Assoziationen, Selbstaufklärung oder Kombinationen davon – tut das Entscheidende, um die Ideologie durcheinander zu bringen, ihr die Grundlage zu entziehen, und natürlich auch dafür, den ganzen Quatsch irgendwann mal zu überwinden.

Das gilt auch für die ganz spezifischen Probleme des Medienprekariats: “Eine Strategie zur Aufwertung der – angesichts ihrer Bedeutung für die Gegenwart paradox marginalisierten – geistigen Produktion bestünde demnach nicht so sehr im allseits beschrittenen Weg der Anpassung an Technik und Verwertbarkeit, sondern im Beharren auf dem menschlichen-qualitativen Möglichkeiten von starker Empirie und tiefer Analyse einerseits und dem politischen Vertreten der eigenen Ansprüche andererseits.”
(“Was du nicht weißt, bringt dich um“)

Anders gesagt: Klassenkampf hilft nicht automatisch oder zwangsläufig, aber ohne Klassenkampf hilft alles nichts.


Aus den Slides zum Vortrag
“Am Geld kleben – Kapitalverhältnis und Antisemitismus”

Wer dagegen auf reiner Agitation beharrt, dem muß in Erinnerung gerufen werden, daß es, wenn sich nicht der Raum und die Zeit und die Mittel verschafft werden (gegen die akuten Gewaltbedrohungen und gegen die ständigen Enteignungen “von oben”), halt Essig ist mit der Selbstaufklärung, auch weil das dafür Nötige eben nicht vom Himmel fällt: die arbeitsfreie Zeit (auch frei von nötiger Reproduktionsarbeit), Konzentration (Ort, Ruhe, Nerven und vor allem: Abwesenheit akuter Not und Bedrohung), die schriftliche/gedruckte Vermittlung, Bildung/Wissen (Zugang zu entsprechenden Ressourcen und Menschen mit dem nötigen Wissen), Anschauungsmaterial & Gelegenheit/Mittel zur Anschauung, Brüche im falschen Bewußtsein/in der Ideologie. Das muß alles hergestellt/vergesellschaftet/weitergegeben werden, und dann hängen die Bedingungen für jeden einzelnen Menschen davon ab, an welcher Stelle er sich gerade befindet, und das heißt in einer Klassen- und Herrschaftsgesellschaft vor allem anderen: wie die Kämpfe um ihn herum und in der Vergangenheit ausgegangen sind.

Die andere alte Erkenntnis, die verloren zu gehen scheint: Ideologie ist eine Erscheinung der ganzen Gesellschaft, nicht nur bestimmter Teile, die sich von einem selbst aus gesehen weiter am Rand, weiter unten oder oben befinden. Das gilt für alle Formen von Ideologie, für Verschwörungsdenken wie für Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus: “Um auszublenden, daß die Probleme und Konflikte in der Gesellschaft zu einem enormen Teil aus ihrer eigenen politisch-ökonomischen Verfaßtheit (kapitalistisches Eigentum, Konkurrenz zwischen Firmen, Arbeitskräften und Staaten) kommen, müssen die Ursachen irgendwo draußen gesucht werden, und wenn doch in der eigenen Gesellschaft, dann bei den anderen, irgendwo da unten oder da oben oder da am Rand.” (Montagsdemo-Interview)

Und im Alltag der Konkurrenz und in der Alltagsdiskussion der Konkurrierenden bildet sich Ideologie vor allem als Distinktion ab: sich selbst für etwas Besseres halten, als etwas Besseres durchgehen, um seine Waren oder sein Arbeitskraft teurer (bzw. weniger billig oder überhaupt) verkaufen zu können. Dazu gehört natürlich auch: Teil des besseren Kollektivs, den besseren Gesellschaftsteils oder der besseren Gesellschaft zu sein, die sich fair um alles kloppt, verhältnismäßige Gewalt einsetzt und nur legitime Interessen durchsetzt.


Die Spaltungen der Klasse

Klar grenzen sich also die “guten Deutschen” gegen die “häßlichen Deutschen” ab – und wenigstens zünden erstere nichts an und belassen nur einfach diejenigen und dasjenige an der Macht, das EU-Grenzen dicht, immer größere Teile Europas in Armut und noch viel größere Teile der übrigen Welt im Elend hält. Prima.

Doch auch in der Form der Diskussionen liegt einiges im Argen. Der autoritär-maskuline Reflex, Zweifel, Nachfragen und Gewichtung als Weichheit anzukläffen und in derlei Gekläffe mit einzustimmen, um nicht selbst als weich zu gelten, funktioniert immer noch (oder eher: nach wie vor, vielleicht auch: wieder mehr) bei viel zu vielen. Dann heißt es etwa, es sei “bequem zwischen den Stühlen” (wie es z.B. auch manche Atheisten über Agnostiker denken), wie es wohl auch luxuriös in der Armut, frei in der Isolation und mächtig in der Marginalität ist…

Die Abweichungen und Ausnahmen zu betonen und von ihnen her zu denken, wird gerade von denen mittels Verallgemeinerungen und Absolutierungen weggebügelt und niedergemacht, die sich die Verteidigung des Nichtidentischen auf die Fahnen geschrieben haben – (vielleicht gehört sie dort eben auch nicht hin).

Es stünde uns allen gut an, unsere Urteile unseren Erklärungen nachzubilden und nicht umgekehrt. Geschwindigkeit und Vehemenz der Urteile sollten als problematisch und nicht als erstrebenswert gelten; Schärfe nicht als mackerige Kraßheit, sondern als Sorgfalt und Genauigkeit.

Das ist ganz und gar kein Plädoyer dafür, gefährlichen Unfug unwidersprochen zu lassen, sich im Dienste irgendeiner großen Sache noch mit den Schlimmsten einzulassen und mit allen lieb Freund zu sein – ganz im Gegenteil. Die Kritik soll treffen und sie ist bitter nötig; sie trifft aber nicht, wenn sie immer mit dem größten Hammer haut, und sie wird dann zurecht nicht wahr- oder ernstgenommen, wenn sie vor allem anderen der eigenen Rechthaberei und Distinktion dient. Und sie wird dort selbst zum gefährlichen Unfug, wo sie zur Selbsterhaltung andere Kritik erstickt oder zum Verschwinden bringt.

Schließlich scheint auch in Bezug auf die Verbreitung dessen, was von den Betriebsbesetzungen in Argentinien zu lernen sein könnte, erstmal die Thematisierung des hiesigen Blicks auf Argentinien und überhaupt auf die außereuropäische Welt anzustehen. Dann wird vielleicht besser sichtbar, daß die Verhältnisse in Bewegung kommen, wenn sie in Bewegung gebracht werden, und daß das am besten von denen zu lernen ist, die sie schon in Bewegung gebracht haben.

In diesem Sinne: Neues Thema – GDL-Streik. Altes Lied –

2 Responses to “2014 wie 2015: Neue alte Lieder”

  1. ja! ndl Says:

    “denn zu sagen gebe es schließlich nur eines; dieses aber immer wieder, und auf immer neue weise.”

  2. Tuna Sandwich Says:

    Kulla – wie schaffst du das, diesen ganzen Dreck, der gegen dich geschleudert wird, auch noch in sinnvolle Gedanken umzusetzen?

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