Auftritte 2023

January 4th, 2023

• VERSCHOBEN! Sa, 14.01.2023, Frankfurt/Main, Klapperfeld: Vortrag “Die Hüftbewegung – Was uns zu Menschen machte” und Auflegerei
• So, 26.02.2023, Halle, Falle: Vortrag “Sin Patrón – Arbeitsplätze selber schaffen”
• Do, 20.04.2023, Cottbus, Zelig: Vortrag “Klassenkampf? ‘Sch mach glei mit!”
• Do, 25.05.2023, Eisenach, IG Metall: Vortrag “…über alles – Burschenschaften zwischen bürgerlicher Revolution und Konterrevolution, Faschismus und konservativem Karrierenetzwerk” (Kritische Infoveranstaltung gegen den Burschenschaftstag)
• Sa/So, 27./28.05.2023, Doksy, Pfingstcamp: Vortrag “1923 – Das Ende der Revolution” und Feierabendeinstieg Die Hüftbewegung – Was uns zu Menschen machte
• Do, 10.08.2023, Leipzig, Linxxnet: Vortrag “1923 – Das Ende der Revolution”
• Mi, 13.09.2023, Neubrandenburg, AJZ: Vortrag “…über alles – Burschenschaften in Geschichte und Gegenwart” (Ankündigung)
• Do, 21.09.2023, Leipzig, Liebknechthaus: Vortrag “Die sozialistische Revolution gegen den Ersten Weltkrieg und die militärische Konterrevolution im Deutschen Reich”
• Fr, 29.09.2023, Magdeburg, Mitmischen: Vortrag “1923 – Das Ende der Revolution”
• Di, 03.10.2023, Osnabrück, SubstAnz: Vortrag “Revolution in Deutschland 1918-23”
• Fr, 06.10.2023, Halle, KEW MLU: Vortrag “1923 – Das Ende der Revolution”
• Mo, 16.10.2023, Jena, Uni: Vortrag “Revolution in Deutschland 1918-23” (in Planung)
• Di, 17.10.2023, Berlin, AStA TU: Vortrag “Revolution in Deutschland 1918-23”
• Fr, 20.10.2023, Leipzig, KEW: Vortrag “…über alles” (in Planung)
• Mi, 23.10.2023, Pirna, Kulturkiste: Vortrag “Der Reichswehr-Einmarsch in Pirna vor 100 Jahren”
• Mi, 08.11.2023, Berlin, JVB: Vortrag “1923 – Das Ende der Revolution” (in Planung)

Schon beschlossen, aber noch ohne konkreten Termin sind Nordhausen (“Entschwörungstheorie”), Rothenburg (“Sin Patrón”) und Speyer (“Identität”) sowie mehrere Veranstaltungen zur Revolution vor hundert Jahren.

Wer noch mehr aushecken will oder sich daheim die Slides und Materialien anschauen, findet hier mein aktuelles Programm, das laufend weiter aktualisiert wird.

26. September 1923: Zweiter ‘kalter Putsch’ in Bayern

September 26th, 2023

Am 26. September 1923 ernennt der bayerische Ministerpräsident Eugen von Knilling seinen Amtsvorgänger Gustav Ritter von Kahr zum Generalstaatskommissar mit diktatorischen Vollmachten. Dieser war im Zuge des Kapp-Lüttwitz-Putsches im März 1920 durch einen eigenen ‘kalten Putsch’ ins Amt gelangt, hatte Bayern zum Rückzugsraum für konterrevolutionäre Verbände gemacht (von den Massenmördern der Marinebrigade Ehrhardt über die terroristische Organisation Consul bis zur NSDAP), antisemitische Hetze betrieben und den Freistaat in einen autoritären Modellstaat geformt, den er die ‘Ordnungszelle’ nannte.

Nachdem die Reichsregierung unter Gustav Stresemann am 23. September den ‘passiven Widerstand’ gegen die französisch-belgische Besatzung offiziell beendet hatte, rief von Knilling umgehend den Ausnahmezustand für Bayern aus. Die Diktatur verschärft nun die ohnehin stark militarisierte und repressive Situation. Von Kahr verbietet die KPD und den Selbstschutz der SPD, veranlasst Razzien im Gewerkschaftshaus und bei der sozialdemokratischen Münchener Post, bereitet judenfeindliche Maßnahmen vor und plant einen ‘Marsch auf Berlin’ (nach dem Vorbild von Mussolinis ‘Marsch auf Rom’ im Jahr zuvor) um die ‘Ordnungszelle’ auf das ganze Reich auszuweiten.

Dabei sollen neben der Armee auch die kleinbürgerlich-faschistischen Fußtruppen, die sich Anfang September beim Deutschen Tag in Nürnberg um Hitler und Ludendorff zum ‘Deutschen Kampfbund’ zusammengeschlossen haben, zum Einsatz kommen. Hitler schwört sie bereits darauf ein, im Kampf zu fallen, und orakelt ganz im Sinne der oberen Etagen: “Was sich heute anbahnt, wird größer sein als der Weltkrieg! Es wird ausgefochten werden auf deutschem Boden für die ganze Welt!” (Jones 2022:269)

Großindustrielle wie Hugo Stinnes und führende Militärs wie der Chef der Heeresleitung Hans von Seeckt formulieren Ende September ihre Regierungsentwürfe, die sich um Abschaffung des Parlaments, Wiederausweitung des Arbeitstages, Aufgabe aller Sozialisierungsvorhaben, Auflösung oder korporatistische Vereinnahmung der Gewerkschaften und Zerschlagung sämtlicher sozialistischer Organisationen drehen – es geht darum, die Revolution rückgängig zu machen und den Kaiser durch einen Diktator oder ein Direktorium zu ersetzen.

Die offene Zuspitzung in Bayern beschleunigt zusammen mit der umgehenden Verhängung des reichsweiten Ausnahmezustands durch Friedrich Ebert noch mal den Zulauf zur KPD, die Ende September 295.000 Mtglieder zählt, und zu den ‘gemeinsamen proletarischen Hundertschaften’ aus etwa 50.000 sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeitskräften, die sich als Verteidigung der Republik gegen Konterrevolution und Faschismus begreifen und gegen die bayerische Diktatur eine norddeutsche Gegenmacht mit Kern in Sachsen und Thüringen bilden wollen.

Während schnell klar wird, dass die Reichswehr nicht gegen die verfassungswidrigen Zustände in Bayern eingesetzt wird, werden die Rufe aus Bürgertum und Militär nach einem Einmarsch in Sachsen und Thüringen zu direkten Forderungen. Dort haben SPD und KPD zusammen legale Mehrheiten und führen Verhandlungen über Koalitionsregierungen. Unternehmer, die den tendenziellen Verlust ihrer Privilegien und die Eindämmung ihrer Willkür als Unrecht ansehen und eine Rückkehr zum “lutherischen Hausvaterverständnis”, die Überwindung des Klassenkampfs durch eine korporatistische “Werksgemeinschaft” (Pohl 2022:152) anstreben, sammeln sich um Stresemanns Verband Sächsischer Industrieller, dessen permanente Gräuelpropaganda über ‘Sowjetsachsen’ seit Anfang September auch von Adolf Hitler aufgegriffen wird. Im Unterschied zu Kahr sieht er die ‘Bolschewisierung’ Norddeutschlands nicht erst noch bevorstehen, sondern hält sie für längst passiert.

Soweit sich Teile der KPD-Führung an die Linie der Komintern gebunden sehen, versuchen sie deren parallele Strategie umzusetzen, offen für die ‘Arbeiterregierungen’ einzutreten und gleichzeitig versteckt einen revolutionären Putsch nach bolschewistischem Vorbild vorzubereiten, am besten zum Jahrestag der Oktoberrevolution. Das kostet nicht nur wertvolle Zeit, missachtet die für ein derartiges Abenteuer völlig unzureichende Bewaffnung der Hundertschaften und stößt entsprechend auf wenig Zuspruch, es übergeht auch das recht eindeutige Mandat der kommunistischen wie linkssozialdemokratischen Basis für Massenproteste (‘Antifaschistentag’ Ende Juli) und Generalstreik (Cuno-Streiks im August) zur Verteidigung der Republik gegen die immer offener faschistische Konterrevolution und zur Vollendung der Revolution, zur Demokratisierung der Wirtschaft und der bewaffneten Organe – wofür mit dem Ende des ‘passiven Widerstands’ nun mit dem jedem Tag mehr die ökonomischen und politischen Grundlagen schwinden.

Unterdessen herrscht weiter Hunger in weiten Teilen des Reiches, während sich einige ordentlich die Taschen vollmachen. Friedrich Flick verlegt im September 1923 seinen Firmensitz nach Berlin und nutzt weiter Inflation und Krise um sich in Oberschlesien passende Unternehmen für seinen wachsenden Stahlkonzern zusammenzukaufen: die Bismarckhütte, die Kattowitzer AG (Kohle) und die Oberschlesische Eisenindustrie AG.

Links: Gustav von Kahr (ca. 1921), rechts: kommunistisches Erklärflugblatt zur Mobilisierung der Hundertschaften gegen die faschistische Reaktion (ca. Monatswechsel September/Oktober 1923)

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1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden
1923 Juni: Komintern debattiert Faschismus, Streiks in Sachsen, Prozess gegen Plättner in Halle
1923 Juli: ‘Antifaschistentag’, Streiks, militante Lohneintreibungen
1923 August: Millionenstreik erzwingt Rücktritt der Regierung
Alle Postings zur Revolution: Revolution in Deutschland 1918-23

Die Topmeldungen jedes Tages

September 20th, 2023

– Reiche tun Dinge um noch reicher zu werden – wir haben dazu einige Reiche befragt

– Um so ziemlich alles andere steht’s schlecht, daran sind aber hauptsächlich ärmere Leute wie Sie schuld (und diese ganz besonderen bösen Reichen, Sie wissen schon)

Dieses oder jenes könnte getan werden, aber dann müssten auch die Reichen mal bezahlen, und hahaha das geht natürlich nicht hahaha so lustig krankes linksextremes Hirngespinst wir wissen ja wo das hinführt

– Außerdem haben Polizei und Ordnungsamt genau aufgepasst, es hat alles seine Richtigkeit

– Die Wissenschaft sagt, dass Erholung, Vorsorge und Pflege gut tun – das ist aber natürlich Ihr ganz persönliches Problem!

– Zum Schluss das Wetter: weltweit Fluten, Dürren, Brände, hier aber mit der richtigen Kleidung, Ausrüstung, Einstellung und Versicherung ganz nett eigentlich – schönen Abend Ihnen noch!

August 1923: Millionenstreik erzwingt Rücktritt der Regierung

August 10th, 2023

Am 10. August 1923 beginnt eine Streikwelle, die nach zwei Tagen mit 3,5 Millionen Streikenden an der Schwelle zum Generalstreik steht und zum Rücktritt der ohnehin angeschlagenen bürgerlichen Reichsregierung führt.

Inmitten von ohrenbetäubendem Nationalismus, allgegenwärtigem konterrevolutionärem Militär, aufsteigendem Faschismus, galoppierender Inflation und immer noch fortwährend sich umwälzender Gesellschaft und Kultur kommen noch mal Millionen von Arbeitskräften zu sich, streiken zum dritten Mal in fünf Jahren die Regierung aus dem Amt, wollen die Revolution vollenden, die Republik verteidigen und mit ihren Räten die Sozialisierung von unten durchsetzen.

Auslöser ist ein Arbeitskampf im Berliner Druckgewerbe, der auch die Reichsdruckerei und damit die Notenpresse des Reiches stilllegt, es kommt zu einem Mangel an Papiergeld, andere Arbeitskräfte (Elektrizitätswerke, Bau, Verkehrsbetriebe) schließen sich dem Streik an. Am Abend des 10. August tagt die Kommission der Berliner Gewerkschaften, linke Sozialdemokraten unterstützen den von der KPD vorgeschlagenen dreitägigen Generalstreik und die Bildung einer reichsweiten ‘Arbeiterregierung’, die SPD-Parteiführung votiert dagegen. Die KPD stellt im Reichstag ein Misstrauensvotum gegen die Regierung Cuno und beruft für den nächsten Tag, Samstag den 11. August 1923, eine Vollversammlung der revolutionären Betriebsräte von Groß-Berlin ein, die zum Generalstreik bis zum Sturz der Regierung Cuno aufruft.

Wegen der Ausnahmeverordnung, mit der Reichspräsident Ebert tags zuvor Verbote von Presseorganen erlaubt, “die zur gewaltsamen Beseitigung oder Änderung der Staatsform des Reiches oder der Länder auffordern”, wird auch “Die Rote Fahne”, das Zentralorgan der KPD, nach Abdruck des Generalstreik-Aufrufs verboten. Unter dem Titel “An die arbeitenden Klassen Deutschlands” wird darin der Rücktritt der Regierung, die Beschlagnahme von Lebensmitteln und die Einführung einer gleitenden Lohnskala, die automatische Anpassung der Löhne an die Inflation, gefordert und an alle appelliert, “sofort eine gemeinsame Aktion zur Bildung einer Arbeiterregierung einzuleiten”.

Auch wenn die Verbreitung des Aufrufs durch das Verbot behindert wird, breiten sich die Streiks und die Forderungen in Berlin weiter aus und greifen auf andere Städte und Regionen über, vor allem Hamburg, die Lausitz, die preußische Provinz Sachsen sowie die ‘roten’ Freistaaten Sachsen und Thüringen. Im Ruhrgebiet besetzen kommunistische und syndikalistische Arbeitskräfte Fabriken und verjagen die Betriebsleitungen. Auf dem Höhepunkt der Mobilisierung streiken 3,5 Millionen – gerade erst waren die wochenlangen Streiks der Hochseefischer (Streiks und Krawalle auf den Hamburger Werften, Lotsenstreik auf der Unterelbe) und im Kohlebergbau in Westsachsen zu Ende gegangen.

Streikkundgebungen und Demonstrationen werden überall im Reich von der Polizei angegriffen, mindestens 30 Protestierende werden dabei erschossen, Hunderte verletzt, so in Merseburg, Wilhelmsburg, Senftenberg, Leipzig. In Köln werden 15 Menschen angeschossen, als sie das Polizeipräsidium stürmen. In Zeitz wird am 11. August das Gefängnis gestürmt, ein Streikkomittee und eine Arbeiterwehr bilden sich. Die Schutzpolizei greift an, es gibt Tote und Verletzte. Zwei Tage später demonstrieren etwa 10 000 Bergleute von Theißen nach Zeitz. An der Auebrücke treffen sie auf die Schutzpolizei und rufen ihnen zu, sie sollen die Waffen wegwerfen und mitdemonstrieren. Die Polizei eröffnet das Feuer, 9 Bergleute sterben sofort, 2 erliegen später am Tag ihren Verletzungen, mehr als 30 Verletzte sind zu beklagen.

In vielen anderen Städten kommt es zu Unruhen und Plünderungen, aber auch zu Angriffen durch reaktionäre Organisationen (am 12. August lynchen NSDAPler den Metzger Peter Stengel am Rande ihres Aufmarschs zum “Deutschen Tag” in Kulmbach zu Tode). Auch die militanten Lohneintreibungen und Preiskontrollen, die besonders in Westsachsen unter der Deckung der erstarkenden Betriebshundertschaften seit Mai zugenommen hatten, gehen unterdessen weiter, so am 7. August in Limbach und am 16. August in Hermsdorf.

Für einen kurzen Moment sieht es am 12. August 1923 so aus, als würde die Republik der Arbeitskräfte endlich Wirklichkeit – wie schon in den Generalstreik-Situationen am 9. November 1918, am 3. März 1919 und am 18. März 1920. Doch wie jedes Mal zuvor ist es im entscheidenden Moment die Bereitschaft Eberts und der SPD-Führung, sich mit Bürgertum und Militär gegen die eigenen Leute zusammenzutun, die das letztlich verhindert. Dazu muss diesmal auch der bislang überwiegend monarchistisch-autoritär gesinnte Großteil des Bürgertums plötzlich sein Herz für eine Republik entdecken, in der er den Hut aufbehalten kann.

Als klar wird, dass für Montag den 13. August ein Generalstreik bevorsteht, an dem sich auch die sozialdemokratische Basis in Massen beteiligen wird, fordert nun auch die SPD den Rücktritt von Reichskanzler Cuno, der am Abend des 12. August seine Demission einreicht. Reichspräsident Ebert beauftragt mit der Regierungsneubildung unverzüglich den Industriellen Gustav Stresemann, im Weltkrieg einer der lautesten Kriegstreiber bis zum Schluss, danach bis gerade eben noch wie die meisten Bürgerlichen aus seiner DVP (und der DNVP) gegen die Republik und für “die alten Zeiten”, in denen die Arbeitskräfte noch gespurt haben. Wie August Thalheimer hinterher schreibt, hat das Bürgertum hier wie meist mit dem Rechenschieber Politik gemacht: “Von einem bestimmten Punkt ab mußte die Inflation nicht mehr als Exportprämie wirken, sondern umgekehrt. Die Bourgeoisie hat die Inflationskonjunktur ganz kühl bis zu Ende ausgenützt. Sie ist bis zu dem Punkt gegangen, zu dem man überhaupt gehen konnte, und hat erst dann ganz Schluß gemacht, als die Inflationskonjunktur in die Inflationskrise umzuschlagen begann”, als ihnen also von den Arbeitskräften die Rechnung präsentiert wurde.

Die SPD-Führung ist, anders als die Parteilinke und große Teil der Basis, nun zu einer “großen Koalition” bereit (damals so genannt wegen der Breite des politischen Spektrums von SPD über Zentrum und DDP bis zur DVP). In der nunmehr achten Reichsregierung seit Beginn der parlamentarischen Republik übernimmt Kanzler Stresemann auch das Außenministerium, fünf Minister gehören der SPD an.

Millionen streiken weiter, bis Stresemann in seiner Regierungserklärung am 14. August die Forderung nach “Wertbeständigkeit der Entlohnung”, also nach gleitender Lohnskala, berechtigt nennt, natürlich nicht ohne klarzustellen, wie sehr ihm das eigentlich gegen den Strich geht. Er verurteilt die Streiks als unverantwortlich und ruft der KPD zu: “Wer Streiks in der Erntezeit veranlasst, versündigt sich am deutschen Volke.” 239 der 342 anwesenden Reichstagsabgeordeneten stimmen für die neue Regierung, 76 mit Nein, 24 enthalten sich. Die SPD-Abgeordneten aus Sachsen und die meisten ehemaligen USPDler bleiben der Abstimmung fern. Auch einige DVP-Abgeordnete um Reinhold Quaatz verlassen den Saal vor der Abstimmung.

Am selben Tag beschließt die Vollversammmlung der Betriebsräte Groß-Berlins den Abbruch des Generalstreiks. Die Zentrale der KPD und der Reichsausschuss der Betriebsräte schließen sich an. Obwohl die Gesamtsituation weiterhin angespannt ist, Maßnahmen zur Währungsstabilisierung durch Verteuerung der deutschen Waren auf dem Weltmarkt die Arbeitslosigkeit weiter steigen lassen, der Dollarkurs Ende August 11 Millionen Mark erreicht und der “passive Widerstand” gegen die (Beteiligung der Bourgeoisie an den) Raparationsleistungen weitergeht, setzt die Revolution leider nicht direkt nach.

Die Streiks veranlassen die Komintern, direkt ins Geschehen einzugreifen und die KPD auf einen Aktionsplan festzulegen, der als “Deutscher Oktober” nach sowjetischem Vorbild erst im Herbst losschlagen soll und auf einer völligen Verkennung der Situation beruht: angesichts des geringen Bewaffnungs- und hohen Organisationsgrads ist die generalstabsmäßige Planung einer militärischen Operation so fehl am Platze wie überwiegend unbeliebt. Trotzki lädt deutsche Kommunisten am 15. August auf die Krim ein, um mit ihnen die Chancen einer Revolution in Deutschland zu diskutieren, als diese gerade ihre vielleicht beste, definitiv letzte Gelegenheit verstreichen lässt.

Am 16. August verbietet der preußische Innenminister den Reichsausschuss der deutschen Betriebsräte, der von Jena im ‘roten’ Thüringen aus halblegal weiterwirkt. Der Verband Sächsischer Industrieller, einst 1902 von Stresemann für den Klassenkampf von oben gegründet, verlangt immer lauter nach dem Einmarsch der Reichswehr in Sachsen.

Reichspräsident Ebert, der neue Reichskanzler Stresemann
und der Gedenkstein für die von der Polizei erschossenen Bergleute in Zeitz.

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1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden
1923 Juni: Komintern debattiert Faschismus, Streiks in Sachsen, Prozess gegen Plättner in Halle
1923 Juli: ‘Antifaschistentag’, Streiks, militante Lohneintreibungen
Alle Postings zur Revolution: Revolution in Deutschland 1918-23

Juli 1923: ‘Antifaschistentag’, Streiks und militante Lohneintreibungen

July 28th, 2023

Am 29. Juli 1923 findet in Deutschland der erste ‘Antifaschistentag’ statt, in Sachsen und Thüringen sind 150.000 überwiegend sozialdemokratische und kommunistische Arbeitskräfte auf der Straße, trotz Verboten in Berlin etwa 200.000, im Bezirk Halle-Merseburg 30.000, in Nordbayern 18.000, anderswo wird auf geschlossene Räume oder Ausflugslokale ausgewichen. Hauptforderungen sind die Entwaffnung faschistischer Gruppen und der Rücktritt der bürgerlichen Reichsregierung.

In Rosenheim stürmen Konterrevolutionäre (Bund Bayern und Reich, Blücherbund, Bund Oberland, NSDAP) das Gewerkschaftshaus, prügeln auf die Versammelten ein und erstechen den Schlosser und sozialdemokratischen Gewerkschafter Georg Ott. Während 4000 Menschen seiner Beerdigung beiwohnen, nehmen Presse und Justiz die ‘Notpolizei’ in Schutz, es wird kein Verfahren eröffnet. Vielerorts gab es bereits im Vorfeld Repression, so wurden in München Plakatierende verhaftet.

Der martialische Ton des ursprünglichen Aufrufs vom 11. Juli (“Der Faschistenaufstand kann nur niedergeworfen werden, wenn dem weißen Terror der Rote Terror entgegengestellt wird”) war in der Mobilisierung und bei vorbereitenden Kundgebungen wie etwa in Solingen am 24. Juli einer klassenbewussten Abwehrposition gewichen, die die Macht der organisierten Arbeitskräfte der nur besser bewaffneten konterrevolutionären Minderheit gegenüberstellte. Plakate zeigten u.a. die zuvor mit dem Gedicht ‘Faschistenruf’ von Oskar Kanehl (“Wir hassen Juden und Proleten und werden sie zertreten”) in der Presse veröffentlichte Grafik von John Heartfield und George Grosz.

Von den Länderregierungen (Ausnahme: Baden und die ‘Arbeiterregierungen’ in Sachsen und Thüringen) wird der Tag angesichts der zugespitzten ökonomischen Lage als Aufstandsszenario behandelt, weshalb alle öffentlichen Versammlungen verboten werden. Um eine allgemeine Konfrontation mit Polizei und reaktionären Verbänden zu vermeiden, empfiehlt auch die KPD-Zentrale auf Drängen der Komintern eine Orientierung auf Veranstaltungen in geschlossenen Räumen. Die dennoch rege Beteiligung und die intensive Mobilisierung zeigen, wie realitätsfern die Vorstöße von Radek sind, mindestens taktisch auch um nationalistisch und faschistisch Gesinnte zu werben und sich mit ihrer Männlichkeit zu verbünden (‘Schlageter-Kurs’) – auch in Moskau gibt es diesbezüglich Dissens, Sinowjew schreibt an Thalheimer und Brandler, Radek mache den Fehler, “dass er nur eine Seite sieht: Zerlegung [Zerschlagung] der Faschisten durch Propaganda à la seine Rede über Schlageter. Er vergißt aber, dass ein guter Faustschlag am besten den Faschismus zerlegen [zerschlagen] würde.”

KPD-Linke suchen durch Übertreibung die Absurdität der Schlageter-Linie herauszustreichen, was zur grotesken Situation führt, dass Ruth Fischer, selbst wie Radek im Zentrum antisemitischer Propaganda über den “jüdischen Bolschewismus”, in einer Diskussion mit Studenten in einem Berliner Gymnasium diese damit herausfordert, ob sie statt nur die “Judenkapitalisten” an die Laterne zu hängen, das auch mit Stinnes, Klöckner usw. tun würden. Es ist unklar, ob Fischer sich hier wirklich kurzzeitig die Schlageter-Linie zueigen gemacht hat oder, wie bis unmittelbar vorher, sie (in krasser Unterschätzung des gesellschaftlichen Antisemitismus) durch Übertreibung bloßzustellen suchte. Im Ergebnis werden ihre Zitate im ‘Vorwärts’ unter der Überschrift “Ruth Fischer als Antisemitin” abgedruckt, und dienen als weiterer Beleg für alle in der SPD, die gegen ein Zusammengehen mit der KPD sind.

Doch an der Basis scheint es für den Augenblick eher, als würden die ökonomische Krise und die reale Bedrohung durch zur Macht drängende faschistische Organisationen die Basis der Arbeiterparteien gleichzeitig zusammenbringen und radikalisieren, weniger im Sinne einer sowjetischen Parteiherrschaft und mehr zur Verteidigung der Republik, vielerorts nach wie vor mit der Hoffnung auf eine “Sozialisierung von unten”.

Der massenhafte Zulauf zur KPD hält auch im Juli an, Dutzende kommunistische Betriebsgruppen gründen sich, die Betriebsrätebewegung nimmt an Stärke zu und es kommt – entgegen der Haltung von SPD- und Gewerkschaftsführung – zu einer weiteren Welle von Streiks (6. bis 12. Juli mehr als 130.000 Arbeiter der Metall-, Bau- und Holzindustrie, ab 25. Juli Kohlestreik im gesamten Zwickauer und Oelsnitz-Lugauer Revier). Regional sind die Gewerkschaften nun kommunistisch geführt, besonders in der Metall- und der Textilindustrie. Für den Stichtag 28.7. meldet ein interner KPD-Bericht 900 Proletarische Hundertschaften, von denen 182 kommunistisch und die übrigen gemischt sind. Besonders in Bayern, Sachsen und Thüringen sind viele der Hundertschaften sozialdemokratisch geführt. Bereits am 4. Juli beantragt die KPD-Reichstagsfraktion die “Erfassung der Sachwerte durch eine zu bildende Arbeiterregierung”, also eine “Zwangssyndizierung” um die ökonomische, währungspolitische und soziale Katastrophe abzuwenden.

Während weiterhin wie seit dem Frühjahr teilweise militante Preiskontrollen durch Betriebs- und Erwerbslosenräte in den Markthallen durchgeführt werden (etwa am 11. Juli in Potsdam und am 20. Juli in Breslau, wo die Polizei 6 Protestierende tötet), nehmen auch die Lohnforderungen offensiveren Charakter an. Besonders in Westsachsen und im Erzgebirge, wo Hundertschaften und KPD stark sind, werden Werksdirektoren direkt bedrängt und bedroht, Inflationsausgleich wird auf diese Weise unmittelbar durchgesetzt, so zum Beispiel am 18. Juli in Aue, in den folgenden Wochen in Zwickau, Lauter, Schneeberg, Limbach und Hermsdorf bei Burgstädt.

Nach dem Antifaschistentag gehen Streiks und Proteste weiter, neue flammen auf. Ab 31. Juli kommt es zu einer Streik- und Mobilisierungswelle mit den Zentren Ruhrgebiet, Mitteldeutschland und Hamburg/Wasserkante. In Neuruppin kämpfen Arbeiter am 31. Juli gegen Bismarck-Jugend (DNVP-Jugend) und Grundbesitzer, 1 Toter, 6 Verletzte. Am 1. August in Berlin Kommunisten gegen Bismarck-Jugend. Ebenfalls am 1. August in Oberhausen Arbeiter gegen Polizei, 2 Tote, 8 Verwundete. Betriebsdelegationen zum Reichstag fordern den Rücktritt der Regierung Cuno. Unterdessen fordert auch eine außerordentliche Konferenz der SPD-Linken am 29./30. Juli in Weimar mit 30 Reichstagsabgeordneten der SPD (Levi, Dissmann u. a.) den Rücktritt der Regierung und opponiert gegen die Politik des Parteivorstands. Am 30. Juli spricht schließlich auch die ADGB-Führung dem Reichskanzler das Vertrauen der deutschen Gewerkschaftsbewegung ab.

Eglantyne Jebb, Gründerin der britischen Wohltätigkeitsorganisation “Save the Children”, bringt angesichts des Schreckens der hungernden Kinder in Deutschland die “Erklärung für die Rechte des Kindes” beim Völkerbund in Genf ein, die 1924 angenommen und später Bestandteil der Grundsätze der Vereinten Nationen werden.

Der Kurs des US-Dollar überschreitet Ende Juli eine Million Mark.

Die bürgerliche Regierung scheint am Ende, immer größere Massen sammeln sich für die “Arbeiter- und Bauernrepublik”, es herrscht “Novemberstimmung”. Reichswehr, Reaktionäre und Faschismus wetzen die Säbel.


Morgen am 29.7.2023 veranstaltet die Geschichtswerkstatt Rosenheim einen antifaschistischen Stadtrundgang im Gedenken an Georg Ott. Und es gibt antifaschistische Proteste gegen die AfD in Magdeburg und gegen die Identitären in Wien.

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Verwendete Literatur:

Bayerlein u.a. (Hg.): Deutscher Oktober, 2003 (S. 85ff.)
Karl Heinrich Pohl: Sachsen 1923, 2022 (S. 192f.)
Sebastian Zehetmair: Im Hinterland der Gegenrevolution, 2022 (S. 383ff.)
Mark Jones: 1923, 2022 (S. 206, 228f.)
Volker Ullrich: Deutschland 1923, 2022 (S. 64)
Ralf Hoffrogge: Der kurze Sommer des Nationalbolschewismus, in: Sozial.Geschichte Online, Heft 20/2017 (S. 99–146)
Günther Gerstenberg: Wer am Abgrund tanzt – Notizen zu den Münchner Jahren zwischen Raterepublik und Hitler-Putsch 1919 bis 1923, 2023 (S. 123)

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1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden
1923 Juni: Komintern debattiert Faschismus, Streiks in Sachsen, Prozess gegen Plättner in Halle
Alle Postings zur Revolution: Revolution in Deutschland 1918-23

Juni 1923: Komintern debattiert Faschismus, Streiks in Sachsen, Prozess gegen Plättner in Halle

June 22nd, 2023

Am 20. Juni 1923 sprechen Clara Zetkin und Karl Radek vorm Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationalen über den Faschismus. Zetkin, deren Rede als eine der frühesten theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Faschismus überhaupt und insbesondere als “erste Analyse des italienischen Faschismus” (Schütrumpf) gilt, bezeichnet ihn als Strafe dafür, die Revolution nicht weitergeführt zu haben, nennt ihn einen “bunt zusammengewürfelten Gewalthaufen”, der als außerlegale, außerstaatliche Machtorganisation für den bürgerlichen Staat fungiert, aber anders als andere Formationen der Konterrevolution weit in alle Teile der Gesellschaft und auch bis ins Proletariat hineinreicht. Die fatale Einmischungspolitik der Komintern in Italien übergehend, verweist Zetkin darauf, dass der italienische Staat den Faschismus 1921 hätte niederschlagen können, ihn aber dem Sozialismus vorzog. Diesen Erfolg in Italien hält sie für wichtiger für den Aufstieg des deutschen Faschismus als Versailles und Ruhrbesetzung.

Selbstschutz gegen den Faschismus, wie er sich in den Betriebshundertschaften bildet, sieht sie als ständig gebotene Notwehr und ebenso als Weg in die Einheitsfront. Jedem einzelnen Arbeiter müsse klargemacht werden: “Auf mich kommt es auch an. Ohne mich geht es nicht. …. Jeder einzelne Proletarier muß fühlen, daß er mehr ist als ein Lohnsklave, mit dem die Wolken und Winde des Kapitalismus der herrschenden Gewalten spielen. Er muß fühlen, klar darüber sein, daß er ein Glied der revolutionären Klasse ist, die den alten Staat der Besitzenden umhämmert in den Staat der Räteordnung.” Die KPD müsse jedoch „den Kampf aufnehmen nicht nur um die Seelen der Proletarier, die dem Faschismus verfallen sind, sondern auch um die Seelen der Klein- und Mittelbürger“. Sie fordert nun eine Ansprache, die auch andere soziale Gruppen als die Industriearbeiterschaft in ihrer Lebenswirklichkeit erreicht: „Wir brauchen eine besondere Literatur für die Agitation unter den Bauern, wir brauchen eine besondere Literatur für die Beamten, Angestellten, Klein- und Mittelbürger jeder Art und wieder eine eigene Literatur für die Arbeit unter den Intellektuellen“.

Während hier besonders am Ende der wertvollen Einschätzungen zum Faschismus schon die immer engere Anlehnung ans sowjetische Vorbild erkennbar ist (Zetkin hatte 1922 in der Sowjetunion in einem Schauprozess gegen Sozialrevolutionäre die Anklage vertreten und für die Todesstrafe plädiert), die sich von der politischen Realität der deutschen ‘Arbeiterregierungen’, der lokalen und regionalen Bündnisse mit der linken Sozialdemokratie und der Orientierung auf eine Zweikammerrepublik, in der Parlament und Räte nebeneinanderstehen, weiter und weiter entfernt, ist die sich anschließende Rede von Karl Radek gleich eine offene und dreiste Intervention – mit vorübergehend katastrophalen Folgen.

Radek meint, dass während der “Rede unserer greisen Führerin” (Zetkin trägt schwerkrank ihre Rede im Sitzen vor) der Name des von der französischen Besatzungsmacht hingerichteten Nazi-Terroristen und vormaligen Freikorps-Offiziers Schlageter ständig ins Bild getreten sei. Er entwickelt nun eine neue Parteilinie (‘Schlageter-Linie’), mit der über Zetkin hinausgehend “die große Mehrheit der national empfindenden Massen” direkt angesprochen werden soll, die seiner Einschätzung nach “nicht in das Lager des Kapitals, sondern in das Lager der Arbeit gehört”. In Anpassung an die sowjetische Strategie, Bündnisse und vor allem Handelsbeziehungen zu kapitalistischen Staaten zu suchen, sollen in den fraglichen Staaten Mehrheiten über die Arbeiterorganisationen hinaus gesucht werden, was vor allem das aktive Werben ums Kleinbürgertum mit Elementen seiner nationalistischen Auffassungen beinhaltet, teilweise Brückenschläge in den faschistischen und antisemitischen Diskurs.

Das ist auch gerade angesichts der Arbeiter-Mehrheiten in Sachsen und Thüringen sowie des allgemeinen Massen-Zulaufs zur KPD abenteuerlich und fußt auf falschen Einschätzungen der Veränderung der Mehrheitsverhältnisse durch die “Proletarisierung” des Kleinbürgertums, geht der deutschen nationalistischen Propaganda und ihrem Schlageter-Kult gewissermaßen auf den Leim. Ohne die konterrevolutionären Gewalttaten Schlageters und seinesgleichen zu übergehen, will Radek sie dennoch für die Revolution gewinnen: “Wir wollen und wir werden zu diesen Massen den Weg suchen und den Weg finden. Wir werden alles tun, daß Männer wie Schlageter, die bereit waren, für eine allgemeine Sache in den Tod zu gehen, nicht Wanderer ins Nichts, sondern Wanderer in eine bessere Zukunft der gesamten Menschheit werden, daß sie ihr heißes, uneigennütziges Blut nicht verspritzen um die Profite der Kohlen- und Eisenbarone, sondern um die Sache des großen arbeitenden deutschen Volkes, das ein Glied ist in der Familie der um ihre Befreiung kämpfenden Völker.”

Die Schlageter-Linie wird zwar bereits im September wieder aufgegeben und führt nirgendwo zu tatsächlicher Zusammenarbeit mit nationalistischen und faschistischen Organisationen, richtet aber in der Zwischenzeit mit ihren öffentlichen Vorstößen erheblichen politischen Schaden an. Besonders in der SPD finden Gegner eines Zusammengehens mit der KPD darin Bestätigung und schlachten sie entsprechend (bis heute) aus.

Radek hatte, ab Februar 1919 für ein Jahr wegen “Beihilfe zum Spartakusputsch, Aufreizung und Geheimbündelei” in Berlin-Moabit inhaftiert, durch sein Gefängnis-Treffen mit dem nationalliberalen AEG-Präsidenten Walter Rathenau den Vertrag von Rapallo vorbereitet (16. April 1922, ratifiziert am 31.1.1923), mit dem Deutschland und die Sowjetunion alle territorialen und finanziellen Ansprüche gegeneinander widerriefen, eine diplomatische Deckung für militärische Zusammenarbeit schufen und so ihre internationale Isolation aufbrechen wollten. Deutschland versuchte damit zudem seine Stellung gegenüber den Raparationsforderungen zu verbessern, trug aber eher zum Einmarsch ins Ruhrgebiet bei.

Am 24. Juni 1922 war Rathenau in Berlin-Grunewald von Angehörigen der Organisation Consul mit Schüssen aus einer Maschinenpistole auf sein Auto ermordet worden. Rathenau, als einer der Hauptorganisatoren der deutschen Kriegswirtschaft im Weltkrieg auch einer der lautesten Kriegstreiber, für Zwangsarbeit und Zeppelinbomben, gegen Waffenstillstand bis zum Schluss, galt den völkisch-antisemitischen Attentätern wegen seiner Rolle in der “Novemberrepublik” (seit Januar 1922 Außenminister, vorher Wiederaufbauminister) und wegen seines jüdischen Hintergrunds als Teil der Verschwörung gegen das Reich, gegen die sie sich verschwören zu müssen meinen.

Der sächsische Ministerpräsident Erich Zeigner spricht sich erneut für eine bedingungslose Aufgabe des ‘passiven Widerstands’ im Ruhrgebiet aus. Er fordert wie schon seit April, für den Ausgleich mit Frankreich auch die Besitzenden entsprechend zur Kasse zu bitten. Für die bürgerliche Opposition im sächsischen Landtag ist das “Provokation” und macht Zeigner für sie endgültig zum “Landesverräter” – ein Misstrauensantrag gegen Zeigner scheitert am 28. Juni, weil die Parteien der ‘Arbeiterregierung’ geschlossen dagegen stimmen.

In Westsachsen, im Zwickauer Revier und im Erzgebirge, zeigen sich die veränderten sächsischen Verhältnisse, in denen die Proletarischen Hundertschaften als Ordnungskräfte teilweise die reguläre Polizei verdrängen können, durch immer selbstbewussteres Auftreten der Arbeitskräfte, die entgegen der Haltung der Großgewerkschaften, angesichts der durch Inflation geleerten Streikkassen auf Stillhalten und “Partnerschaft” mit dem Kapital zu setzen, zu Tausenden in Streik treten. Der Widerspruch zwischen einerseits der Gewerkschaftsführung und der fomalen Parteilichkeit von SPD und KPD für sie und andererseits der sich radikalisierenden Basis beider Parteien gerade in Gegenden, die seit Generationen zu den entschlossenen Kernen der Arbeiterbewegung gehören, wird sich im weiteren Verlauf des Sommers noch zuspitzen.

Vor dem Schwurgericht in Halle beginnt unterdessen am 25. Juni die Hauptverhandlung gegen Karl Plättner und einige Mitwirkende des “revolutionären Bandenkampfs” nach der Niederschlagung des Mitteldeutschen Aufstands. Die Polizei hatte wegen zuvor eingehender Drohungen strenge Sicherheitsvorkehrungen getroffen, Tausende Einsatzkräfte waren aus allen Teilen des Reiches zusammengezogen worden und besetzten für mehrere Tage mit gepanzerten Fahrzeugen und einem Dutzend Wasserwerfern einen großen Teil der Stadt… Oh, sorry, verwechselt, das war in Leipzig, in der Gegenwart, gerade erst… In Halle 1923 wird lediglich eine bewaffnete Postenkette vors Gerichtsgebäude gestellt. Nicht nur die bürgerliche Presse skandalisiert genüsslich den “größten Banditenführer” Mitteldeutschlands, “den berüchtigten kommunistischen Wanderredner und Bandenführer”, auch kommunistische Zeitungen grenzen sich scharf von den “Verzweiflungsakten geistig verwirrter Proletarier” ab, zeigen lediglich wie Wilhelm Pieck in der ‘Roten Fahne’ Verständnis für die “Enttäuschungen über den schleichenden Gang der Revolution”. Plättners Anwalt Hegewisch, der hauptsächlich für die Rote Hilfe arbeitet, fragt sich gegenüber Pieck, “ob ich es noch mit meinem Schamgefühl vereinbaren kann, weiter einer Partei anzugehören, deren Centralorgan in so überhörter Weise revolutionären Kämpfern in den Rücken fällt.”

Plättner hält an drei Verhandlungstagen eine insgesamt 18 Stunden lange Verteidigungsrede ohne Manuskript, kritisiert die Haftbedingungen, erklärt ausführlich und mit lauter Marx-Zitaten seine Stellung zur Revolution, gibt reuelos seine Taten zu und besteht auf einem politischen Verfahren, für das dieses Gericht nicht zuständig ist. Auch die anderen Angeklagten bekennen sich entschieden zu ihren Taten, distanzieren sich nicht von Plättner, sagen nicht gegeneinander aus. Die Hallenser KPD-Zeitung “Klassenkampf” erkennt an, dass es sich hier um Menschen handelt, “die ihrer Anschauung gemäß den Versuch unternahmen, aus der bestehenden Unordnung der kapitalistischen Verhältnisse geordnete Verhältnisse zu schaffen”.

Am 28. Juni verliest das Gericht selbst Plättners Schrift “Der organisierte rote Schrecken!” und bereitet so die Sensation vor: am 3. Juli stimmt der Staatsanwalt der Verteidigung zu und fordert nun ebenfalls die Überweisung des Verfahrens an den Staatsgerichtshof, was nach einigem Hin und Her schließlich im Herbst passiert und bis dahin den Angeklagten wertvolle Zeit verschafft, in der, so hoffen nicht nur sie, die Revolution vielleicht doch noch siegen könnte. Plättner war im November 1918 nur wenige Tage vor seinem Prozesstermin durch die losbrechende Revolution befreit worden.

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1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden
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Verständnis

June 11th, 2023

Diese Woche war die Große Woche der Verständigung, des Verstehens, des Verständnisses: Verständnis für die Staatsgewalt, Verständnis für das Grenzregime, Verständnis für faschistische Wahlabsichten, Verständnis für den Mann.

Verständnis für die armen Fans von Staatsgewalt und Rechtsstaat, die sich nun bloß wegen einer tagelangen brutalen Machtdemonstration öffentlich Widerworte anhören müssen. Verständnis für die armen Grünen, die unter der Verschärfung des Asylrechts offenbar am meisten leiden, ja nun gar “zerreißen” (Zitat aus hunderten Medienberichte darüber). Verständnis für die Gründe, sich inmitten des ganzen Schreckens der Welt für die zu entscheiden, die erklärtermaßen nur an sich denken wollen. Verständnis für die armen Männer um den armen Mann herum und auch für alle, die die Gelegenheit für ihre wichtigen Lieblingsthemen nutzen (Unschuldsvermutung, schon immer gewusst, was habt ihr denn gedacht, musikalische Vorlieben, Witze über sexuelle Gewalt, Kinkshaming).

Kurz: Verständnis für die, die austeilen und einschüchtern, die über Macht, Kapital und Gewaltmittel verfügen, die immer unverhohlener Vorfahrt für sich beanspruchen – und die natürlich immer nicht ganz so schlimm sind wie die anderen, auch das müssen wir alle verstehen.

Es gibt aber auch eben jene Widerworte und die Entscheidung zu Unterstützung und Hilfeleistung. Es gibt solidarische Proteste und nach wie vor immer mehr Streiks – und es gibt sehr viele Menschen, denen klar ist, dass alles anders werden muss und alles auf dem Spiel steht, die sich vom ganzen Verständnis nicht blenden lassen und nicht so miteinander umgehen wollen.

1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden

May 23rd, 2023

Am 24. Mai 1923 beginnen Erwerbslose gegen Preiserhöhungen in der Markthalle am Dresdner Antonsplatz (heute vor der Altmarkt-Galerie) zu protestieren. Sie fordern Ausschilderung und Begrenzung der Preise, sorgen bis Mittag für die Schließung aller Geschäfte. Als sie am Nachmittag wieder eröffnet werden, kontrollieren die Erwerbslosen die Preistafeln. Am nächsten Tag tun sie das in allen Markthallen der Stadt, drohen damit die Marktstände zu zerschlagen und halten im Tanzlokal ‘Kristallpalast’ in der Friedrichstadt eine Versammlung ab. Als sie im Anschluss zum Wiener Platz (Hauptbahnhof) ziehen wollen, verhindert die Polizei das Eindringen in die dortigen Markthallen.

Am Sonnabend dem 26. Mai versammeln sich erneut solche Massen in der Antons-Markthalle, dass sie geschlossen wird. Am Nachmittag greift die Polizei eine Demonstration in der Schloßstraße mit Gummiknüppeln an. Der Erwerbslosenrat Groß-Dresden fordert weitere Demonstrationen bis zur tatsächlichen Senkung der Preise. Am Sonntag ziehen 1000 Demonstrierende durch die Prager Straße zum Opernhaus, fordern Schließung der Luxusrestaurants. In der Neustadt schaffen sie es, fast alle Lokale in der Hauptstraße und Bautzner Straße zu schließen. Am Montag dem 28. Mai besetzen Protestierende schließlich ab 4 Uhr morgens die Hauptmarkthalle in Friedrichstadt und den daneben liegenden Wettiner Bahnhof (heute Bahnhof Mitte). Per Zug ankommende Lieferanten werden zurückgeschickt. Berittene Polizei greift einen Demonstrationszug auf dem Wiener Platz an, wird mit Steinen beworfen und muss sich zurückziehen. Vereinzelt werden Reichswehrsoldaten aus Straßenbahnen geholt und gewaltsam entwaffnet. Um 8 Uhr werden bei einem Angriff auf das Polizeipräsidium (heute Polizeidirektion am Pirnaischen Platz) zwei Demonstrierende durch Schüsse sowie ein Polizist durch Messerstiche und eine Bierflasche verletzt.

Die Inflationskrise erwischt Sachsen besonders schwer, Erwerbslosigkeit und Hunger greifen hier mit am stärksten um sich, den gerade noch im Vorjahr boomenden Gewerkschaften leert die Inflation die Streikkassen. Ermutigt und begünstigt von der linken Landesregierung kommt es zu immer mehr Protesten, die sich im weiteren Verlauf des Sommers besonders in Westsachsen noch erheblich intensivieren werden. Während im Mai und Juni die Bildung einer “Arbeiterregierung” aus SPD und KPD in Thüringen zunächst scheitert und die Proletarischen Hundertschaften, die Ordnungs- und Selbstschutzorgane der Arbeitskräfte, in Preußen im Mai verboten werden, folgt die von der KPD tolerierte SPD-Regierung in Sachsen weiter der Regierungserklärung ihres Ministerpräsidenten Erich Zeigner aus dem April, in der er nicht nur auf eine Überwindung der Privatwirtschaft ohne Bürokratisierung drängte, sondern auch “Abwehrmaßnahmen der Arbeiterschaft gegen putschistische Elemente” billigte.

Die Reichswehr habe sich, so Zeigner, “nicht frei gehalten … von engen Beziehungen zu diesen reaktionären faschistischen Organisationen.” Statt die Republik zu schützen, habe sich die Reichswehr “mehr und mehr zu einer Bedrohung der Republik entwickelt.” Der Reichswehr-Befehlshaber in Sachsen, General Alfred Müller, meldet daraufhin ans Gruppenkommando, die Regierung Zeigner sei “nahezu restlos an die Wünsche der Kommunistischen Partei gebunden”, sein “Werturteil” verlange eine Erwiderung des Reichswehrministers.

Reichswehr und Nazis bekommen wegen des Besatzungsgeschehens im Ruhrgebiet unterdessen Oberwasser. Die sich im Frühjahr häufenden Fälle von Gewalt und Vergewaltigung (etwa 50 Fälle sind dokumentiert) durch die Besatzungstruppen werden von der nationalistischen deutschen Propaganda vor allem marokkanischen und anderen Kolonialtruppen zugeschrieben. Frauen, die im Verdacht standen, sich freiwillig mit den Besatzern einzulassen, wurden schon seit dem Vorjahr von ‘Scherenklubs’ öffentlich gedemütigt und misshandelt.

Am 26. Mai richtet die französische Armee den vorab verurteilten Nazi-Terroristen und Veteranen der Ruhrgebietsmassaker von 1920 Albert Leo Schlageter hin. Er hatte mit Unterstützung von Reichswehr und Polizei Anschläge verübt um den passiven Widerstand in eine aktive nationalistische Erhebung zu eskalieren. (Siehe Posting zum April.) Bereits vor der Hinrichtung geht eine Welle der öffentlichen Empörung durch die deutsche Öffentlichkeit – das Vorgehen wird als Eingriff in die deutsche rechtliche Souveränität angesehen, es kommt zu Gnadengesuchen an den französischen Präsidenten, das Auswärtige Amt versucht den Vatikan einzuschalten. Doch erst nach der Hinrichtung wird Schlageter endgültig zum Märtyrer des deutschen Nationalismus.

Für die NSDAP, deren Zentralorgan bereits im Frühjahr Pläne veröffentlichte, Juden in Lager zu deportieren, und die am 1. Mai in München auf dem Theresienfeld nur dank Schutz und geborgter Waffen der Reichswehr neben einer mehr als zehnmal größeren Massenkundgebung der Gewerkschaften und der SPD posieren konnte, ohne ihr angekündigtes “Massaker” anzurichten, war der schnell einsetzende und von ihr mit Inbrunst angefachte Märtyrerkult um Schlageter vielleicht der stärkste Popularitätsschub bis dahin. Dieser Kult sollte in den folgenden Wochen vor allem in der KPD und der Komintern zu katastrophalen Fehlentscheidungen beitragen.

Durchgang zu den Markthallen am Dresdner Antonsplatz und die Front der Hauptmarkthalle am Wettiner Bahnhof.

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1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
Alle Postings zur Revolution: Revolution in Deutschland 1918-23

1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr

April 17th, 2023

Am 18. April 1923 beginnen in Mülheim an der Ruhr Erwerbslose, die für die Stadt Notstandsarbeiten verrichten, für bessere Bezahlung zu protestieren. Als ihre Demonstration das Rathaus erreicht, verbarrikadieren sich dort Beamte, weil die Stadtverwaltung Verhandlungen ablehnt und die Demonstrierenden versuchen das Gebäude zu stürmen. Zwei Tage kämpfen die Erwerbslosen, teilweise mit Waffen aus einem geplünderten Waffenladen, gegen Polizei und Bürgerwehr, es gibt Tote und Verletzte.

Unterstützt werden die Protestierenden von der syndikalistischen FAUD, die hier relativ stark ist und versucht, einen Generalstreik loszutreten und eine dauerhafte Bewaffnung der Arbeitskräfte sowie die Entwaffnung des bürgerlichen Selbstschutzes durchzusetzen. Das schlägt jedoch fehl und die FAUD wird in der Folge Hauptziel der Repression, ihr Büro wird verwüstet, viele müssen fliehen. Da sie entgegen der nationalistischen Stimmungsmache die Arbeitskräfte offen dazu aufruft, sich nicht für die Interessen der Thyssen, Klöckner, Hugenberg und Stinnes missbrauchen zu lassen, trifft die FAUD hier auch der nationale Furor, der auch in den Großgewerkschaften zunimmt – Vorwürfe werden laut, die Proteste wären von der Besatzungsmacht begünstigt worden.

Ebenfalls am 18. April steigt die Inflation nach einer vorübergehenden Stabilisierung wieder kräftig an. Schon Ende 1922 kostete ein Dollar 10 000 Mark, nach der Ruhrbesetzung stieg der Preis Anfang Februar sprungartig auf über 40 000, konnte dann bei etwa 20 000 stabilisiert werden und klettert nun wieder auf 25 000. Ende Mai werden es schon 54 000 sein. Ursprünglich von der gigantischen Kriegsverschuldung aus dem Weltkrieg angestoßen, hatte die Inflation seither stetig zugenommen und dem Großkapital erlaubt, im großen Stil Betriebe und Immobilien zusammenzukaufen, im Falle von Hugo Stinnes auch z.B. Schiffe, Landgüter, Hotels und Zeitungen. Während die Rekordinflation ab 1923 nun auch inländische Staatsschulden abgeträgt und den Großgrundbesitz entschuldet, die Regierung sich ihren “passiven Widerstand” gegen die Reparationen einiges kosten lässt (vor allem Zahlungen für von Maßnahmen der Besatzungsmächte Betroffene sowie für Kohle), sind Rentner, Kleinsparer, Erwerbslose und viele andere Unterstützungempfänger existentiell getroffen und auch immer größere Teile des Klein- und Bildungsbürgertums. Am 16. April bietet die Reichsregierung Wiederaufnahme der eingestellten Reparationsleistungen mit einer Zahlung von insgesamt 30 Milliarden Goldmark an, was als indiskutabel abgelehnt wird.

Die Ruhrkrise ist unterdessen weiter eskaliert. Am 31. März schießen französische Soldaten, die in den Krupp-Werken in Essen Fahrzeuge beschlagnahmen sollten, in eine Menge von Arbeitskräften, die sie daran hindern wollen, und töten 13 von ihnen. Bürgerliche Politik und Öffentlichkeit verurteilen das scharf, anders als vor drei Jahren bei den erheblich blutigeren österlichen Massakern der Reichswehr im Ruhrgebiet, und entdecken alles, was sie damals und während der ganzen militärischen Konterrevolution geflissentlich übersahen, nun beim alten ‘Erzfeind’. Der liberale Publizist Theodor Wolff schreibt etwa: “Den Tempel des Osterfestes hat der militaristische Gewaltgeist mit dem Blute von Menschenopfern befleckt.” Und ebenfalls anders als damals hält am 10. April der Reichstag in Anwesenheit von Reichspräsident Ebert eine Trauerfeier für die Erschossenen ab.

Die französische Militärpolizei verhaftet in Essen am 7. April Albert Leo Schlageter, der vor drei Jahren während der Reichswehr-Massaker Arbeiterwohnungen in Bottrop mit Artillerie beschießen ließ und zuvor schon im Baltikum und Oberschlesien in Freikorps kämpfte, wegen mutmaßlicher Beteiligung an einem Sprengstoffanschlag auf die Eisenbahnstrecke Dortmund-Duisburg. Schlageter ist nicht nur Teil der Organisation Heinz, die mit Unterstützung durch Polizei und Reichswehr Anschläge gegen die Besatzungsmächte im Ruhrgebiet verübt und “Verräter” ermordet, er gehört auch seit Ende 1922 zur nationalsozialistischen Bewegung. Die kann sich in Bayern vor allem im militärischen und akademischen Milieu konsolidieren, erreicht aber auch immer größere Teile des übrigen Kleinbürgertums, greift im Zuge der Ruhrkrise erstmals auch stärker in andere Teile Deutschlands über. Die NSDAP verdoppelt im Laufe des ersten Halbjahres 1923 ihre Mitgliederzahl von 20 000 auf 40 000.

Am 20. April wird Hitlers Geburtstag im Münchner Zirkus Krone erstmals öffentlich vor 8000 bis 9000 Menschen begangen, Tausende drängen sich noch vor dem Eingang. Hitler spricht zum Thema “Politik und Rasse. Warum sind wir Antisemiten?” Die “deutsche Rasse” werde erst frei sein, wenn der Versailler Vertrag außer Kraft gesetzt und der “innere Feind kaltgestellt” sei. Er hetzt gegen “internationales Finanzjudentum”, “Marxisten” und “Novemberverbrecher”. Alle Juden seien Deutschlands “Todfeinde”. Am lautesten wird er immer, wenn über Juden und Sozialdemokraten spricht. Ebenfalls am 20. April veröffentlicht Julius Streicher, Gründer der NSDAP-Ortsgruppe Nürnberg, die erste Ausgabe der Wochenzeitung “Der Stürmer”, die mit ihrer Mischung aus Gewalt und Pornographie eine der übelsten antisemitischen Propagandaschleudern aller Zeiten wird.

Am 25. April wird in Berlin das 1922 veröffentlichte satirische Mappenwerk “Ecce Homo” des Grafikers und KPD-Mitglieds George Grosz wegen “unzüchtiger Darstellungen” beschlagnahmt.

Fenster des Mülheimer Rathauses und die Tür zum Rathausturm während der Belagerung.

1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
Alle Postings zur Revolution: Revolution in Deutschland 1918-23

1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus

March 15th, 2023

Am 15. März 1923 bereiten SPD und KPD in Sachsen eine “Arbeiterregierung” vor, eine sozialdemokratische Minderheitsregierung mit kommunistischer Tolerierung, die am 21. März mit der Wahl des linken Sozialdemokraten und späteren Leipziger Oberbürgermeisters Erich Zeigner zum sächsischen Ministerpräsidenten Wirklichkeit wird.

Eine Siebener-Kommission erarbeitet “Richtlinien von SPD und KPD für die künftige Politik in Sachsen”, welche die Grundlage des Tolerierungsabkommens vom 18. März bildet. Programmatische Hauptpunkte sind die Arbeiter-Einheitsfront und bewaffnete Abwehrmaßnahmen gegen den Faschismus, Bekämpfung von Preistreiberei durch Einrichtung von Prüfstellen, Bildung von Arbeiterkammern und Amnestie für politische, Not-und Abtreibungsdelikte.

Die beiden Parteien arbeiten nun auf Regierungsebene so zusammen wie außerhalb des Parlaments, besonders in den Betriebsräten, und wollen mit “neuen Leuten” die bereits eingeleiten Reformen in Wirtschafts-, Arbeits-, Gemeinde- und Schulpolitik sowie bei der republikanischen Umgestaltung von Verwaltung, Justiz und Polizei konsequenter fortführen. Das soll auch helfen, die im Verlauf der Revolution aufgerissenen Gräben in der sächsischen Arbeiterbewegung zu überbrücken.

So wird Innenminister Richard Lipinski, der Leipzig im März 1920 ohne Not an die Reichswehr übergab, durch Hermann Liebmann ersetzt, mit seiner Mischung aus der Bodenständigkeit eines Gussformers und dem revolutionären Pathos eines LVZ-Redakteurs der “Liebling der Partei”, zu Beginn der Revolution 1918 im Leipziger Arbeiter- und Soldatenrat, seit 1922 aus der USPD zurückgekehrt und wichtige Stimme des folgenden Linksrutschs in der SPD, nun im Landtag maßgeblich an der Konstituierung der “proletarischen Mehrheit” beteiligt.

Ähnliches wie in Sachsen wird in den nächsten Monaten auch in Thüringen passieren: “Arbeiterregierung” und Bewaffnung der Arbeitskräfte. Das Interesse an revolutionärer Bewaffnung und das Interesse an antifaschistischer Bewaffnung fallen mehr und mehr zusammen. In Italien ist der Faschismus bereits an der Macht, in der “Ordnungszelle” Bayern formiert er sich rapide vor allem aus denen, die in den letzten Jahren die Revolution zusammengeschossen haben – und denen, die sie dabei anfeuerten und begünstigten. Ebenfalls am 15. März bestätigt der Staatsgerichtshof das Verbot der NSDAP in Preußen, Baden, Sachsen, Bremen und Hamburg – in Bayern wird die NSDAP hingegen nicht verboten.

Als in den Tagen nach dem Urteil die SA mobilisiert, bis einer ihrer Anführer, Gerhard Roßbach, in der Nacht vom 17. zum 18. März in Berlin verhaftet wird, demonstrieren auch sozialdemokratische Selbstschutzverbände. Die Proletarischen Hundertschaften in Sachsen wollen gegen den heraufmarschierenden Faschismus von der “Arbeiterregierung” bewaffnet werden und hoffen ihrerseits, diese Gelegenheit für einen letzten Anlauf zur Revolution nutzen zu können – auch die Komintern verfolgt jetzt diesen Kurs, auch wenn auf ihrem Kongress in Frankfurt/Main vom 18. bis 20. März das Exekutivkomittee darauf besteht, dass der aktuelle Hauptfeind der französische Imperialismus sei und nur die Kommunistischen Parteien in Frankreich und Deutschland bisher ihrer diesbezüglichen Pflicht nachgekommen seien.

Durch ein Attentat wird in Köln am 17. März Franz Joseph Smeets, Begründer und Vorsitzender der separatistischen Rheinisch-republikanischen Volkspartei, lebensgefährlich verletzt, vermutlich vom Widerstand gegen die französische Besatzungsmacht, welche den Separatismus unterstützt. Am 18. März wird ein französischer Soldat im Essener Hauptbahnhof erschossen. Die Besatzungsbehörde verhaftet daraufhin Bankdirektoren als Geiseln, schließlich erschießt ein französischer Soldat einen nichtverdächtigen Buchdruckereibesitzer.

Am gleichen Tag spricht Reichspräsident Ebert in Hamm vor Vertretern von Gewerkschaften und “Arbeitgeberverbänden” Dank für den geleisteten passiven Widerstand gegen die Besetzung des Ruhrgebiets aus. Der Parteivorstand der SPD warnt in einer Erklärung davor, “den kommunistischen Gimpelfängern zu folgen”, im Interesse “der Partei und der Einheit der Arbeiterbewegung” lehnt er “gerade jetzt entschiedener denn je ein Zusammengehen mit den Kommunisten ab.”

links: Hermann Liebmann, rechts: Erich Zeigner

1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
Alle Postings zur Revolution: Revolution in Deutschland 1918-23

Menschen, Autos, Züge und die Welt

February 18th, 2023

💻 Menschen erblicken Menschliches in anderen Tieren, überall in der Natur, in Wolken und Sternen am Himmel, noch verstärkt durch unsere ausgeprägte Fähigkeit Unbelebtes zu beleben, zu animieren, indem wir es gedanklich in Bewegung versetzen. Nun erblicken Menschen in Chatprogrammen, die von Menschen verfasstes Material anordnen, Menschliches. Und manche schreiben (bezahlt und unbezahlt) Texte, die sich glaubwürdig wie besonders seltsame ChatGPT-Sachen lesen. Oh, the humanity!

🚗 Um weniger Erprobungskosten und dadurch mehr Gewinn zu haben nutzt Tesla nicht nur die Kundschaft sondern auch alle anderen Verkehrsteilnehmenden als Versuchskaninchen für seine selbstfahrenden Autos.

🚂 Die Pointe am Zugunglück in East Palestine, Ohio ist nicht, dass die vormalige US-Regierung im Interesse der Bahnunternehmen die Sicherheitsvorkehrungen gelockert oder dass die gegenwärtige Regierung den Bahnstreik für bessere Arbeitsbedingungen Ende letztes Jahr verhindert hat, auch nicht, eine wie große Frechheit die Entschädigungsangebote an die betroffene Bevölkerung sind, sondern dass die Bahn endlich in die Hand der Gewerkschaften gehört.

☣️ In meiner sozialen Umgebung gab es in den letzten Wochen mehrere Corona-Fälle, ich bin weiter vorsichtig, war selbst bisher noch nicht infiziert.

🌐 Ich habe keine Außenpolitik, keinen Staat, keine Verfügung über die gesellschaftlichen Produktionsmittel. Ich kann niemandem Waffen verkaufen, weil ich keine habe. Wenn ich Waffen hätte und jemand bräuchte sie dringend, würde ich sie nicht verkaufen sondern einfach geben. Ich kann die Arbeitskräfte in Russland nicht dazu bewegen den Krieg zu beenden.

🚩 Was ich tun kann, ist weiter für das zu werben, was gegen Krieg, Klimawandel, Ausbeutung und Diskriminierung am wahrscheinlichsten hilft: dass sich überall immer mehr Arbeitskräfte selbst zusammenschließen, mit immer mehr anderen, über Grenzen und Ausschlüsse hinweg, dass sie in und mit ihren Organisationen ihre Interessen durchsetzen und sich Mittel verschaffen um ihre reale Mehrheit zur Geltung zu bringen.

1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet

January 11th, 2023

Am 11. Januar 1923 marschieren zur direkten Entnahme von ausgebliebenen Reparationsleistungen nach dem Versailler Vertrag eine belgische und zwei französische Armeekolonnen aus der Umgebung von Düsseldorf und Duisburg ins Ruhrgebiet ein, das sie im Laufe von drei Tagen bis auf Dortmund besetzen. Es gibt spontane nationalistische Proteste dagegen, bei denen Studierende “Die Wacht am Rhein” singen, doch zunächst fällt kein Schuss.

In den kommenden Tagen wächst die Besatzung auf eine Truppenstärke von insgesamt etwa 100.000. Am 15. Januar feuert die Mannschaft eines französischen Militärpostens in Bochum “blinde” Warnschüsse in eine nationalistische Gruppe, die “Siegreich wollen wir Frankreich schlagen” singt – mindestens einer der Soldaten schießt jedoch scharf und tötet einen Jugendlichen, es gibt zwei Verletzte.

Anders als bei den militärischen Polizeieinsätzen der Jahre zuvor, als Reichspräsident Ebert es war, der ins Ruhrgebiet und anderswo schwerbewaffnet einmarschieren und Proteste niederschießen ließ, sendet er nun zur öffentlichen Beerdigung des Jugendlichen ein Beileidstelegramm und kümmert sich um Hilfe für die Angehörigen. Seit November 1922 gibt es eine Reichsregierung ganz ohne Eberts SPD, doch ihr Zentralorgan Vorwärts schreibt staatstragend vom Blut an den Händen der französischen Politik, betont den kriegerischen Charakter des Einmarschs und will keine Notwehr erkennen.

Das war in den Jahren zuvor anders: Als etwa am 6. April 1920 mindestens elf Arbeiter aus Essen und Mülheim, die ihre Waffen bereits Tage zuvor abgegeben hatten, nach “Standgerichten” des Freikorps Roßbach erschossen und verstümmelt wurden, bezeichnete der Vorwärts am gleichen Tag das Vorgehen der schon seit Tagen mordenden Regierungstruppen als „Polizeiaktion“. Ebenfalls an diesem Tag besetzten französische Truppen als Reaktion auf die Verletzung der neutralen Zone durch die aufstandsbekämpfende Reichswehr wie angedroht Frankfurt, Hanau, Darmstadt und Homburg – der Vormarsch der Reichswehr ins Ruhrgebiet wurde jedoch nicht gestoppt, immer noch war es der SPD-geführten Regierung wichtiger, die aufständischen Arbeiter zusammenschießen zu lassen, als einen neuen Krieg mit Frankreich zu vermeiden.

Nun ruft ab dem 13. Januar 1923 die bürgerliche Regierung Cuno zum “passiven Widerstand” auf, sie stellt die nationale Interessenlage offen dem Klassenkampf gegenüber und kann ihn teilweise erfolgreich für sich einspannen. Kooperation mit den Besatzungstruppen wird vor Ort verweigert, es kommt zu Protesten und Streiks, dabei erschießen Soldaten mehrmals Protestierende.

Auch Dortmund wird besetzt, einige nationalistische Lieder werden von der Besatzungsmacht verboten, es wird zum Teil gegen Beleidigung der Truppen vorgegangen, Soldaten begehen sexuelle Übergriffe. Von alldem angetrieben weiten sich Proteste und Streiks zügig aus. Aus dem Interessenkonflikt zwischen deutscher, französischer und belgischer Regierung ist eine ständige Konfrontation von Soldaten und Zivilbevölkerung geworden.

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Übersicht zu den Postings über die Revolution in Deutschland 1918-23.

1923 beginnt: Was bisher geschah

January 7th, 2023

Nach dem letzten offenen Aufstand im Mitteldeutschen Industriegebiet, in Hamburg, im Ruhrgebiet und im Südwesten im März 1921 befinden sich Hunderte auf der Flucht im Untergrund, von denen einige sich bis zu Karl Plättners Verhaftung Anfang 1922 (wenige noch weiter bis 1924) mit Raubüberfällen durchzuschlagen versuchen. Weitaus mehr Beteiligte der revolutionären Kämpfe, soweit sie nicht wie Tausende unmittelbar erschossen wurden, sind nach harten Urteilen dem bereits stark faschistisch geprägten Strafvollzug ausgeliefert, in dem sie Folter und Misshandlungen erleiden müssen, was viele nicht überleben. Die erst 1921 gegründete Rote Hilfe liefert Rechtsbeistand und Unterstützung für Gefangene, Opfer und Angehörige aller Parteien.

Die Konterrevolutionäre haben sich in der “OrdnungszelleBayern konsolidieren können, wo paramilitärische Verbände sowie anderswo verbotene völkisch-antisemitische Gruppen fortbestehen und revolutionären Regungen im Keim erstickt werden. Die NSDAP findet vor allem im Norden Bayerns erstmals eine breitere Basis, vor allem nachdem sie beim “Deutschen Tag” am 14./15. Oktober in Coburg martialisch aufmarschiert und sich Straßenschlachten mit Gegenprotesten liefert.

Im Rest des Reiches verüben nationalistisch-konterrevolutionäre Organisationen Terroranschläge, die im Mai 1922 auch Hamburg erreichen, wo sie trotz ihrer Ausmaße von der SPD-Stadtregierung wenig Aufmerksamkeit bekommen. Erst nach der Ermordung des Außenministers Walther Rathenau am 24. Juni findet sich die SPD-Führung reichsweit zu gemeinsamen öffentlichen Erklärungen mit der KPD bereit, nutzt die Situation jedoch sofort aus um mit dem “Republikschutzgesetz” vom Juli gegen “rechts und links” vorgehen zu können. Schon zwei Tage nach Rathenaus Ermordung hatte die SPD-geführte Sicherheitspolizei von Hamburg das Feuer auf eine Streikkundgebung am Heiligengeistfeld eröffnet.

In der KPD vertieft sich in dieser Situation der Widerspruch zwischen Einheitsfront-Taktik und sozialistisch-revolutionärer Orientierung, während die Partei sich stärker am sowjetischen Vorbild ausrichtet, nachdem die Bolschewiki 1921 den Bürgerkrieg für sich entscheiden konnten. Gleichzeitig strömen die Reste der USPD in die SPD zurück, was zur Neukonstituierung als Vereinigte SPD (VSPD) auf dem Parteitag von Nürnberg am 24. September führt (siehe Bild) und die neue Partei deutlich nach links von der bisherigen SPD treibt. Das begünstigt das Zusammengehen mit der KPD in Sachsen und Thüringen im Laufe des Jahres 1923.

Die anarchistisch-syndikalistische FAUD erreicht 1922 ihren organisatorischen Höhepunkt mit über 100.000 Mitgliedern und ruft zu Weihnachten bei einem Kongress in Berlin als Gegenstück zur kommunistischen Roten Gewerkschafts-Internationale (RGI) die Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA) ins Leben, die ihrem Selbstverständnis nach an die Erste Internationale von 1864-76 anknüpfen will.

Am 14. November bittet die Reichsregierung Wirth um Zahlungsaufschub für die Reparationen aus dem Versailler Vertrag, am 24. November wiederholt nach Wirths Rücktritt der von Ebert neu ernannte Cuno, ein “Mann der Wirtschaft” (Ullrich), diese Bitte. Am 27. November antwortet die französische Regierung mit der Drohung, Teile des Ruhrgebiets zur direkten Entnahme der Reparationen zu besetzen, und beschließt am selben Tag die unmittelbare Vorbereitung des Einmarschs.

Während die deutsche Seite ihre eigene Einschätzung ihrer ökonomischen Situation zum Maßstab für die Reparationen nimmt, die Realität der von vierjähriger deutscher Besatzung verheerten Gebiete nicht zur Kenntnis nehmen will und in der nationalistischen Deutung abwegige Vergleiche zu anderen Friedensverträgen zieht, gehen besonders Frankreich und Belgien als Hauptbetroffene der Besatzung vom angerichteten Schaden und seinen aktuellen ökonomischen Folgen aus. Dieser Konflikt wird sich schon im Januar 1923 drastisch zuspitzen.

Zu den häufigsten Erzählungen über den Aufstieg des Nationalsozialismus gehört, ihn Versailles und der Weltwirtschaftskrise zuzuschreiben – das ist im Kern eine der Lieblingserzählungen der Nazis über sich selbst. (Empfehlenswertes kurzes Video dazu von TimeGhost History: “Versailles Treaty ≠ Hitler’s Rise to Power”)

Es wird hingegen noch mal genau hinzuschauen sein, wer im letzten Revolutionsjahr 1923 in welcher Reihenfolge genau was tut.

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Übersicht zu den Postings über die Revolution in Deutschland 1918-23.

Viele

December 30th, 2022

Viele sind alt, viele sind tot. Manche der Jüngeren sagen viel Richtiges. Bis vor ein, zwei Jahren hätte es heißen müssen: Es wird nicht besser, wenn wir es nicht besser machen. Jetzt wohl: Es wird nicht weniger schlimm, wenn wir es nicht viel besser machen. Und natürlich geht es damit los uns selbst und gegenseitig freundlich und bestimmt die Ausreden zu zerstören, die uns davon abhalten.

Sachsen

November 23rd, 2022

Nebenbei für nächstes Jahr weiter in die Geschichte von 1923 einlesen…

(Ullrich, Deutschland 1923, S. 142)

Drama

November 4th, 2022

Aus “Brechts Versuch zur Getreidespekulation” in der aktuellen Ausgabe der “Wildcat”:

dav

Clickbait-Megakrise!

August 2nd, 2022

Unablässig knattert die Schlagzeilenmaschine: Niemand will mehr arbeiten, junge Leute sind zu gepampert und spinnen rum, überall “fehlen” mysteriöserweise Arbeitskräfte, öffentliche Infrastruktur ist eh rettungslos hinüber, Autos und private Versorgung sind viel aufregender, nur unser aktuelles Schnäppchen schützt sie vor Inflation und Bolschewismus, Pandemieschutz ist sinnlos oder gleich kontraproduktiv, Masken sind Freiheitsberaubung und alle sehen das so, vielleicht stimmt das mit dem Klima doch nicht und die Unwetter kommen von den Grünen, Atomkraftwerke sind vielleicht doch nicht so schlimm und Windkraftwerke die eigentliche Umweltzerstörung, veganes Essen und Kiffen zerfressen vielleicht Körper und Geist, die Nazis waren ein geheimnisvoller Schadenszauber gegen die deutsche Nation, die arme Polizei kriegt immer alles ab und überall lauern doch aber Bedrohungen, Arme sind faul und stellen Ansprüche, Reiche sind großzügig und visionär, Steuern und jegliche Beschränkung des Geschäfts sind DDR 2.0, aus anderen Ländern kommen die Probleme, Fremde sind kriminell und betrügen, echte Einheimische treudoof und tüchtig, Trans ist nur Einbildung und Gendern reine Schikane, die sollen sich alle nicht so haben und sexuelle Ausbeutung ist schon auch irgendwie geil, Männer und Frauen sind nun mal so und so und waren es auch schon immer, Minderheiten tragen mindestens Mitschuld an ihrer Diskriminierung – und immer wieder das vereinnahmende “Wir”, “wir” können uns dieses oder jenes nicht mehr leisten, “wir” sind eh viel wohlhabender als gedacht, sind alle gleichermaßen verantwortlich und müssen bei uns selbst anfangen, müssen uns fragen, was wir fürs Kapital tun können, we’ll never walk alone and we are the champions, einer trage des anderen Boot.

Social Media hat das sicherlich weiter eskaliert, die Strickmuster sind aber viel älter: Einzelfälle aufblasen, reale Mehrheiten verschleiern, Geschichte und Zeitgeschichte auf wenige Personen herunterbrechen, Wissenschaft über- oder gleich komplett fehlinterpretieren, die Interessen von Staat und Kapital naturalisieren, Arbeitskräfte zum Bekenntnis für diese oder jene Kapitalfraktion nötigen und sie entlang aller denkbaren Unterschiede gegeneinander aufhetzen, die Hetze verharmlosen – das alles gern als Frage, Zweifel, mutiger Tabubruch, scharfzüngiger kabarettistischer Heroismus der Meinungsfreiheit.

Und das ist gar nicht unbedingt manipulativ im Sinne von Entscheidungen, die getroffen werden, es ist schlicht profitabel im doppelten Sinne: einerseits direkt durch mehr Clicks und damit Werbeeinnahmen, andererseits aber auch vermittelt durch allgemeine Verstärkung der herrschaftlichen Diskurshegemonie und der Abhängigkeit von dieser Art öffentlicher Kommunikation. Es fördert die Konkurrenz der Arbeitskräfte und untergräbt ihren Zusammenschluss.

Das Erstaunliche ist, wie schlecht das trotz all der Mittel, trotz des ganzen Aufwands und trotz der Hegemonie verfängt, bei wie vielen Themen es weiterhin stabile Mehrheiten in die Gegenrichtung gibt, wie viele Leute auch in den scheinbar verlorensten Winkeln deutlich widersprechen. Und wiederum erstaunlich ist aber, dass sich diese realen Mehrheiten kaum organisiert bekommen, dass sie sich immer wieder von der politischen Repräsentationsebene verschaukeln lassen und sich bei allem, was sie an Hetze erkennbar durchschauen, dennoch einreden lassen, sie wären nicht die Mehrheit und könnten das, was sie für richtig halten, deshalb nicht durchsetzen.

Geben wir dem Quatsch doch den letzten Schubs: Widersprechen, die Widersprüche betonen, das Richtige trotzdem sagen und tun, die Konkurrenz überwinden, uns zusammentun und die Produktionsmittel übernehmen!

Chemnitzer Blutbad vom 8. August 1919

July 18th, 2022

Während meines Aufenthalts beim Antifaschistischen Jugendkongress endlich dazu gekommen, das Denkmal für die Toten des “Chemnitzer Blutbads” bzw. der Chemnitzer Augustkämpfe des Jahres 1919 direkt am Hauptbahnhof zu fotografieren.

errichtet 1977, Bildhauer Hand Dittrich

Ab Juli 1919 hatte es in der Stadt Proteste gegen Lebensmittelnot gegeben, ab Anfang August wurden diese aus bürgerlicher Richtung teilweise antisemitisch gegen jüdische Geschäfte aufgeladen. Die sozialistische Presse verurteilte das scharf, Räte und Arbeiterparteien versuchten mit der Stadtverwaltung zu verhandeln und die Ergebnisse bei einer öffentlichen Versammlung am 8. August auf dem heutigen Theaterplatz zu berichten.

Ausschnitt aus der damaligen Berichterstattung in der “Chemnitzer Volkszeitung” der USPD, entnommen aus “Das Chemnitzer Blutbad” von Arno Bruchardt (Leipzig 1919), komplett hier.

Regierung und Garnison untersagten diese Versammlung durch Verschärfung des Belagerungszustands ausdrücklich, die zusammengezogene Reichswehr griff sie mit Schusswaffen an. Die Demonstrierenden strömten daraufhin zum Hauptbahnhof und konnten die Soldaten teilweise entwaffnen. Die folgenden stundenlangen Kämpfe forderten 36 Tote, davon 22 Soldaten und 14 Zivilisten, mehr als 100 wurden verletzt.

Die Reichswehr musste abziehen, konnte aber durch spätere Besetzung der Stadt die Lage wieder unter ihre Kontrolle bringen. Aus Sicht der Regierungs-SPD war hier ein “kommunistisch provozierter” Aufstand niedergeschlagen worden.

Posting zur Gesamtlage

July 10th, 2022

Ich bin auch nicht besser als andere darin abzuschätzen, wann welche Auswirkungen welcher der laufenden oder kommenden Katastrophen wo mit welcher Intensität ankommen, wer dann wie in der Lage und bereit ist, was genau zu tun und wo es dann zu größeren Radikalisierungen in erfreulichere oder unerfreulichere Richtungen kommt. Ja, der ökonomische und politische Kollaps Sri Lankas war lange abzusehen, aber die Welt ist voller absehbarem Kollaps.

Ganz gute Zusammenfassung des Zustandekommens der Lage in Sri Lanka von vor etwa einem Monat: “Why Sri Lanka is Collapsing

In jeder denkbaren Situation ist es besser, wenn die Arbeitskräfte überall besser selbst organisiert sind, über ihre Organisationen mehr Kontrolle haben, ihre Kämpfe sichtbar machen und verbinden können. Und das heißt auch: die ganze Klasse organisieren bzw. ihr dabei helfen, allen Arbeitskräften mit ihren jeweiligen spezifischen Bedürfnissen und Lebenslagen, nicht nur (vermeintlich) passende Ausschnitte der Klasse, die bestimmten Vorstellungen von Arbeiterklasse(TM) entsprechen, eigene reaktionäre Auffassungen über Geschlecht, Ernährung, Herkunft usw. zu teilen scheinen oder zumindest dafür reklamiert werden können, oder die andersherum mit Themen wie Pflegenotstand, Fleischproduktion usw. in Verbindung stehen.

Es liegt nahe und kann auch ein guter Einstieg sein, besonders krasse Missstände zu skandalisieren, aber es muss immer die Verbindung zu anderen Kämpfen in Gegenwart und Geschichte, in der Nähe und Ferne gesucht werden um nicht maximal als kurzfristige “Chefsache” steckenzubleiben. Wir müssen uns besser kennen und dazu wie dadurch die schillernde Vielfalt der (meist ebenso vielfältig forcierten) Klassenspaltungen, in der Bedürfnisse gegeneinander ausspielt werden, überwinden.

Und wir haben leider keine Zeit. Vor 30 Jahren war die Sache mit dem Treibhauseffekt eigentlich klar, es gab Pophits darüber, Frank Drebin war der Umweltpolizist, wir hatten es mehrfach im Schulunterricht – und dann wurde 30 Jahre lang immer noch mehr Zeug verbrannt und wurden immer noch mehr Autos produziert, damit reiche Leute noch reicher werden konnten. Und jetzt ist es halt zu spät für langsam und geduldig, und das kriegen ja auch die meisten mit. Jetzt überfällt eine Supermacht ein anderes großes Land, nicht zuletzt um es als Konkurrenz im Verkauf von Erdgas auszuschalten. Und jetzt gibt es immer heftigere Unwetter und Dürren, jetzt steht die größte Hungerkatastrophe aller Zeiten bevor. Und jetzt gibt es aber auch Massenproteste, die schon 2018ff. beträchtliche Ausmaße erreicht hatten (Chile, Indien, FFF, Gilets Jaunes, BLM), sich aber noch zu wenig verbinden konnten.

Jegliches Warten auf geschichtliche Momente hat sich ohnehin erledigt, und jegliche Anrufung irgendwelcher höherer Mächte aus Geschichte und Religion war schon immer zu bescheiden – wir, die Arbeitskräfte, sind die höchste Macht, die wir anrufen können. Nur wir können unser aller Bedürfnisse erfüllen und hoffentlich gerade noch so verhindern, dass weite Teile des Planeten unbewohnbar werden – niemand sonst.

Neuer Vortrag auf dem Pfingstcamp (II)

June 1st, 2022

REVOLUTION IN SACHSEN 1918-23

Als der Arbeiter- und Soldatenrat von Dresden im November 1918 die Macht vom sächsischen König (‘Dann macht doch euern Dreck alleene!’) übernimmt, stellt er in seiner ersten Regierungserklärung den Freistaat in den Rahmen der ‘Epoche des Übergangs von der kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaftsordnung’ – Daniel Kulla erinnert mit viel Bild und Ton an Sachsen als einen der Hauptschauplätze der deutschen Arbeiter*innenbewegung und der Revolution von 1918-23, deren Niederschlagung den Weg in den Nationalsozialismus ebnete.”

Erstmals dieses Wochenende auf dem Pfingstcamp der Linksjugend Sachsen in Doksy.

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