Auftritte 2024

January 25th, 2024

• Do, 14.03.2024, Berlin-Lichtenberg, Egon-Erwin-Kisch-Bibliothek, 19 Uhr: Vortrag “Revolution in Deutschland 1918-23” (FB-Event, Ankündigung)
• Mi, 01.05.2024, Leipzig, Demmering 74: Vortrag “Die Hüftbewegung – Was uns zu Menschen machte” (in Planung)
• Sa/So, 18./19.05.2024, Doksy (Č), Pfingstcamp: Vortrag zur Thüringer Landtagswahl 1924 und Vortrag Unite the Science! Wissenschaft(sgeschichte) von unten (in Planung)
• Do, 08.08.2024, Eisenach, RosaLuxx: Vortrag zur Thüringer Landtagswahl 1924

Schon beschlossen, aber noch ohne konkreten Termin sind weitere Veranstaltungen zur Revolution vor hundert Jahren (u.a. in Zwickau und Saarbrücken), Pläne gibt’s für Nordhausen (“Entschwörungstheorie”), Rothenburg (“Sin Patrón”) und Speyer (“Identität”). In Vorbereitung sind außerdem die Themen “Victoria 3 (Paradox) – 100 Jahre globale Klassenkampfgeschichte als Computerspiel” und “Was Linke richtig machen”.

Wer noch mehr aushecken will oder sich daheim die Slides und Materialien anschauen, findet hier mein aktuelles Programm, das laufend weiter aktualisiert wird.

Landtagswahl ’24 in Thüringen

February 9th, 2024

Staatsgewalt drückt „Ordnungsbund“ an die Macht, Tolerierung durch antisemitische „Vereinigte Völkische Liste“

Am 10. Februar 1924 wird die Liste “Ordnungsbund”, eine gegen die ‘Arbeiterregierung’ aus SPD, USPD und KPD gerichtete Wahlallianz des gesamten bürgerlich-nationalistischen Spektrums (DVP, DNVP, DDP, Mittelstandspartei, Landbund, Zentrum, Vaterländische Verbände), die stärkste Kraft bei der Landtagswahl in Thüringen.

Obwohl die Reichswehr, die das Land seit ihrem Einmarsch Anfang November unter Besatzung und im militärischen Ausnahmezustand hält, alle Register zieht um den Machtwechsel in der letzten Hochburg der Revolution zu forcieren, und obwohl sich die Widersprüche zwischen den roten Parteien im Zuge der militärischen Repression verschärft haben, erreichen diese immer noch fast 42 Prozent der Stimmen, so dass es für den Ordnungsbund nicht zur Regierungsmehrheit reicht. Die neue Landesregierung des Juristen Richard Leutheußer (DVP) lässt sich von der “Vereinigten Völkische Liste” bzw. dem “Völkisch-Sozialen Block“ unter dem bekannten Antisemiten Artur Dinter tolerieren, diese Wahlverbindung fungiert auch als Front für die verbotene NSDAP.

Der Ordnungsbund ist zum Jahreswechsel gegründet worden, um “die sozialistisch-kommunistische Mehrheit im Landtag gründlich zu brechen”, das fragmentierte bürgerlich-agrarische Lager im Stile der Wahlbündnisse gegen die Sozialdemokratie im Kaiserreich zu vereinen und die Wählerschaft durch nationalistische Propaganda zu mobilisieren. Wahlkampfkosten trägt der Verband der Mitteldeutschen Industrie.

Die Reichswehr unter General Paul Hasse und die ihm unterstellte Thüringer Landespolizei unter Polizeioberst Hermann Müller-Brandenburg (ab 1926 Landesführer im “Werwolf”, später in der Führung des NS-Reichsarbeitsdienstes) erklären ausdrücklich ihre Unterstützung, helfen handgreiflich durch die Fortsetzung der flächendeckenden Repression gegen sozialistisch und republikanisch gesinnte Personen, gegen Strukturen und Basis der ‘Arbeiterregierung’, und organisieren indirekte Wahlkampfspektakel, deren Höhepunkt die Truppenparade zum Jahrestag der Reichsgründung 1871 in Versailles am 18. Januar bildet. Stundenlang marschieren Reichswehr und Kriegervereine durch Weimar, General Hasse gibt in seiner Rede den Takt vor und erklärt, dass für jeden wahren Deutschen der 18. Januar der höchste nationale Feiertag sein müsste. Während “die Väter” in Versailles das Deutsche Reich geschmiedet hätten, unterschrieben “Männer unserer Zeit” dort den “Schandfrieden” von 1919. Mit entschlossenem Blick in die Zukunft ruft Hasse aus: “Wenn das Schicksal das deutsche Volk noch einmal nach Versailles führen sollte, dann darf es dort nicht so stehen, wie das letztemal, sondern nur so, wie unsere Väter und Vorväter dort standen.”

Es wird überdeutlich, dass sich hier Kaiserreich und Republik gegenüberstehen. Das Bürgertum, das fünf Jahre lang versucht hat, die Revolution rückgängig zu machen, muss angesichts der letzten Welle der Revolution 1923 seine Putschpläne aufgeben und zähneknirschend die Republik akzeptieren um an der Macht zu bleiben. Die Errungenschaften der Revolution werden nun nach und nach kassiert, der Achtstundentag ist schon gefallen. Auch in Thüringen wird dieser Rollback begleitet von einem Kulturkampf zwischen Deutschlandlied und Internationale, Reichsfarben und roter Fahne, Prügelstrafe und säkularer Volksbildung (Max Greil). Entsprechend wird der Tag von Versailles begangen und die gesetzlichen Feiertage zum 1. Mai und zum 9. November werden abgeschafft.

Überhaupt sollen in Thüringen “keine halben Sachen wie in Sachsen” gemacht werden, wo die SPD zumindest in einer Koalition mit bürgerlichen Parteien weiter regieren kann. Thüringen, wo entscheidende sozialistische Parteigründungen stattfanden (in Eisenach die SDAP 1869, in Gotha die SAPD 1875 und die USPD 1917) und wo die Revolution fünf Jahre lang eine ihrer Hochburgen hatte, soll umgedreht werden wie Bayern nach der Niederschlagung der Räterepublik ab April/Mai 1919, Thüringen soll die neue “Ordnungszelle” werden.

Das Bodensperrgesetz wird aufgehoben, der “freie Grundstücksverkehr” wiederhergestellt. Örtliche Selbstverwaltung wird zugunsten von Bürokratie und Exekutive umgebaut, Amtsträger erhalten ihre alten Titel zurück. Verdächtige Beamte werden entlassen. Das Züchtigungsverbot in den Schulen wird teilweise wieder aufgehoben, die von Volksbildungsminister Greil gegen Widerstände aus der Universitätsleitung in Jena gestützte Erziehungswissenschaftliche Abteilung der Philosophischen Fakultät wird 1. März aufgelöst. Bauhaus, eins der Lieblingsziele der konterrevolutionären Propaganda, wird am 1. April aus Weimar nach Dessau vertrieben.

Für die SPD-Landtagsfraktion wird 1926 das Wirken der Regierung bis dahin “in einer
rücksichtslosen Durchsetzung der Interessen der besitzenden Klassen auf dem Gebiet der Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik gegen die Bedürfnisse der arbeitenden, schwer notleidenden, besitzlosen Volkskreise”
bestanden haben: “Die wirtschaftliche Ausbeutung, die der Ordnungsbund mit Hilfe der Gesetzgebung betrieb, wurde durch eine an Skandalen reiche Kulturreaktion im Bildungs- und Rechtsleben ergänzt, der ganze Staatsapparat unter Vernichtung aller demokratischen Entwicklungen zu einem Machtinstrument der Bürokratie und Polizei gegen das Volk und vor allem zur Unterdrückung der Arbeiter umgestaltet.”

Aber nicht nur das: Artur Dinter kann sich mit der Forderung durchsetzen, dass in der Regierung nur “deutschblütige, nichtmarxistische Männer” sitzen dürfen. Als in der Folge jüdische Regierungs- und Verwaltungsbeamte entlassen werden, tritt die DDP aus dem Ordnungsbund aus, dem sie mit zur Macht verholfen hat. Gleich im März 1924 erwirkt Dinter auch die Aufhebung des Verbots der NSDAP und anderer Gruppen in Thüringen, wodurch sich die neue “Ordnungszelle” nach Bayern zum zweiten großen Aufmarschgebiet der Nazis entwickeln kann. Hitler ernennt Dinter zum Dank noch aus der Festungshaft in Landsberg zum NSDAP-Gauleiter Thüringen. Nach den Landtagswahlen im Dezember 1929 wird die NSDAP in Thüringen erstmals Teil einer Landesregierung zusammen mit DVP, DNVP, der Mittelstandspartei und dem Landbund.

Die Revolution ist vorbei und der totale Sieg der Konterrevolution wird vorbereitet.

Ministerpräsident Leutheußer, Anführer der Vereinigten Völkischen Liste Artur Dinter
und die Beflaggung der Reichswehr seit 1921

***

Am 8. August spreche ich in Eisenach über diese Landtagswahl.

Bei der Landtagswahl 2024 bezieht sich die Vorsitzende der “Bürger für Thüringen” explizit auf die Wahl von 1924: “Die Geschichte hat gelehrt, dass ein solches Bündnis erfolgreich sein kann, wie vor 100 Jahren der Thüringer Ordnungsbund…”

Mehr zur Thüringer Arbeiterregierung und ihrem Ende bei Mario Hesselbarth, dessen Veröffentlichung aus dem September 2023 ich viel Material für dieses Posting entnehmen konnte.

Alle Postings zur Revolution: Revolution in Deutschland 1918-23

Was heißt hier Demokratie?

January 25th, 2024

Zur Vorgeschichte von Revolution und Konterrevolution, Antisozialismus und Antisemitismus in Sachsen und Deutschland von der Reichseinigung bis zum Ersten Weltkrieg

Arbeitskräfte (und generell Bevölkerungsmehrheiten) können ihre Interessen am besten durchsetzen, wenn möglichst viele von ihnen wählen und politisch mitbestimmen, und letztlich ist es nur von ihrem Interessenbewusstsein (Klassenbewusstsein) abhängig, ob sie sich dafür auch einsetzen. Das Ausmaß der Zustimmung des Bürgertums (und generell der herrschenden und besitzenden Klassen) zu Demokratie und allgemeinem Wahlrecht war hingegen stets davon abhängig, inwieweit sie als Minderheiten, die von der Ausbeutung der Mehrheit leben, Wahlverfahren und Ergebnisse (durch Geld und Gewalt) so beeinflussen konnten, dass ihre Verfügung über Eigentum und Gewaltmittel so wenig wie möglich angetastet werden.

Dieser Konflikt begleitet den Aufstieg der Arbeitskräfte-Massenbewegungen ab dem 19. Jahrhundert, besonders eng im Falle der deutschen Sozialdemokratie, wie der kanadische Historiker James Retallack in seiner umfangreichen und detaillierten Untersuchung über Wahlrecht und Wahlkampf im Kaiserreich nachzeichnet. “Das rote Sachsen” ist kein direkter Beitrag zur Sozialgeschichte der Anfänge der sozialistischen Arbeitskräfte-Selbstorganisation, aber aus den ausgebreiteten Zahlen, Ereignissen und Debatten wird deutlich, wie sich zentrale Konflikte aufgrund der frühen und flächendeckenden Industrialisierung zuerst in Sachsen entfalteten und zuspitzten. Es ist mitzuverfolgen, wie sich viele der ersten Mitgliedschafts- und Wahl-Hochburgen der (revolutionären) Sozialdemokratie in den am stärksten industrialisierten Regionen bildeten, besonders in Westsachsen, der Gegend um Zwickau, vielleicht nirgendwo so rapide wie in Crimmitschau; wie sehr also diese spätere reichsweite Massenbewegung (die in Sachsen nach der Revolution so viele Mitglieder haben wird wie in Frankreich und Italien zusammen) ihren Grundstock in den überarbeiteten Lohnabhängigen hatte, die um sich herum einen bis dahin ungekannten Wohlstand blühen sahen, der auf ihrer Ausbeutung beruhte und an dem sie ohne Gegenwehr nicht teilhaben sollten; schließlich auch, wie sehr diese Bewegung sowohl sozialistisch als auch demokratisch war.

“Doch das deutsche Bürgertum wertete Leistung, Bildung und Kultur so sehr, dass es den Idealen der sozialen Gleichheit und der politischen Inklusion wenig Beachtung schenkte”, schreibt Retallack. Er zeigt ausführlich, wie die heftigen Konflikte innerhalb der besitzenden Klassen, zwischen Bürgertum und Grundbesitzern, Groß- und Kleinbürgertum, Konservativen, Links- und Nationalliberalen durch die Formierung einer antisozialistischen Front (vor allem zur Aufstellung von gemeinsamen Gegenkandidaten) überwunden oder zumindest vorübergehend ruhiggestellt werden konnten. Die ideologische Klammer für diese taktischen Allianzen, die (wie jede wirksame Form von Ideologie) die Feindbilder der verschiedenen Interessengruppen (vor allem Liberalismus, Demokratie, Sozialismus) zusammenfasste, bildeten ein immer stärker völkisch aufgeladener Nationalismus und schließlich die erste Synthese des modernen Antisemitismus, der hinter allen Bedrohungen nun “den Juden” walten sah. So gewann nach dem sozialdemokratischen Wahlsieg in Pirna 1903 der gemeinsame bürgerliche Kandidat, der Kaufmann Otto Hanisch, den Wahlkreis für eine antisemitische Wahlvereinigung zurück, bis er 1912 vom Sozialdemokraten Otto Rühle abgelöst werden konnte.

Diese erste Synthese bereitete die zweite im 1919/20 von Hitler während seiner Tätigkeit als Reichswehrbibliothekar entwickelten Nationalsozialismus vor, als sich die “Retter der alten Ordnung” nicht mehr nur dem Klassenkampf, sondern der ausgewachsenen Revolution gegenübersahen und nun versuchten, sich ihres reaktionären Erscheinungsbildes zu entledigen, ihre antidemokratische Grundhaltung als die eigentliche deutsche Demokratie hinstellten und (unter Rückgriff auf den nationalistisch und konterrevolutionär gewendeten “Sozialismus” in der SPD-Führung) ihren völkischen Nationalismus, ihren Antisemitismus und Antisozialismus als die eigentliche sozialistische Revolution. Diese Umdeklaration ist uns bis heute erhalten geblieben, und ihre Rolle dabei, den Charakter des deutschen Faschismus zu verwischen und seine Verbrechen nach vermeintlich links auszulagern, ist längst in weiten Teilen des konservativ-bürgerlichen Lagers verinnerlicht, wie zuletzt an massenweise Fans von Elon Musk und Ben Shapiro zu sehen war, die anlässlich von deren Besuch in Auschwitz nicht müde wurden zu betonen, dass der Holocaust von “Sozialisten” begangen wurde.

Vieles, was Retallack an Material über die hoheitliche Einwirkung auf Wahlen in der Zeit des Kaiserreichs aufführt (Behinderung des Wahlkampfs, erklärte Parteilichkeit von Verwaltung und Staatsgewalt), weist denn auch auf die konterrevolutionäre Praxis ab 1918: von der Manipulation der Zusammensetzung der Räteversammlung am 10. November 1918 über die “Ordnungszelle” Bayern bis zur gewaltsamen Absetzung sozialistischer und antifaschistischer Landesregierungen in Sachsen und Thüringen im Herbst 1923 durch die Reichswehr, schließlich der weiteren Besetzung Thüringens und Unterdrückung der sozialistischen Parteien bis zur Landtagswahl am 10. Februar 1924, die mit einem Wahlsieg des Ordnungsbunds aus Bürgertum und Grundbesitzenden endete und zur Tolerierung durch die Vereinigte Völkische Liste bzw. des Völkisch-Sozialen Blocks des radikalen Antisemiten Artur Dinter führte, welchen die verbotene NSDAP für ihre Rehabilitierung nutzte – dazu mehr in einem Posting zum 100. Jahrestag der Wahl.

“Das rote Sachsen” ist kostenfrei (ggf. zzgl. Bereitstellungspauschale) bei der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung bestellbar.

Wissenschaft(sgeschichte) von unten

January 16th, 2024

“Unite behind the science”, der Zusammenschluss hinter der Wissenschaft, war und ist strömungsübergreifend eine der wichtigsten Forderungen der Klimabewegung das Beharren auf der prinzipiellen wissenschaftlichen Erklärbarkeit der Welt und auf der überwältigenden Evidenz für den menschengemachten Anteil an der rapiden globalen Klimaveränderung, das Zurückweisen aller Versuche derjenigen, die ihre Interessen in den relevanten Kapitalsektoren verfolgen, die wissenschaftlichen Erklärungen zu untergraben und ihre praktische Umsetzung zu hintertreiben.

Ganz ähnlich wie für den Klimaschutz gilt das auch für den Pandemieschutz, wenn auch weniger in Form einer großen Massenbewegung. In beiden Fällen ist jedoch die Tendenz zu beobachten, einerseits die Interessen hinter und innerhalb der Wissenschaft selbst auszublenden und andererseits einem Konzept von Wissenschaft zu folgen, in dem ihre Voraussetzungen, Widersprüche und Konflikte mindestens in den Hintergrund treten wenn nicht komplett verschwinden.

Das schlägt sich sowohl auf die Wahl der Mittel und Zielrichtung der politischen Kampagnen durch als auch auf die begleitende populäre Wissenschaftsvermittlung. Da Staat und Kapital zumindest teilweise auf der eigenen Seite zu stehen scheinen, werden grundsätzliche, klassenbasierte Strategien gegen sie vernachlässigt und es wird vieles von ihrer jeweiligen PR geteilt und weitergegeben, darunter die Neigung, ideologisch motivierte Auffassungen als Dummheit zu behandeln und die meisten Menschen zu unterschätzen, wissenschaftliche Inhalte entsprechend stark zu vereinfachen und zuzuspitzen, Erkenntnisprozesse auf ihre (vorläufigen) Resultate und wenige prominente Beteiligte runterzubrechen, oft in einer Weise, die von der jeweils bekämpften Propaganda kaum zu unterscheiden ist.

Der Wissenschaftshistoriker Clifford D. Conner hat hier mit seinem 2005 erschienenen Buch “A People’s History of Science: Miners, Midwives, and Low Mechanicks” eine riesige Bresche geschlagen, die bisher zu wenig Beachtung gefunden hat. Er trägt darin für verschiedene Zeiträume, Schauplätze und Wissensgebiete Material zusammen, das zeigt, wie viele Menschen im Laufe der Geschichte wissenschaftliche Entdeckungen und Erklärungsansätze aus praktischen Fragestellungen der Arbeits- und Alltagswelt beim Jagen und Sammeln, beim Ackerbau, in Seefahrt, Bergbau, Handwerk und Heilkunde, aus der direkten und ständigen Auseinandersetzung mit Natur, Körper, den Elementen und den gesellschaftlichen Widersprüchen entwickelten. Gleichzeitig verfolgt Conner, wie die Institutionalisierung von Wissenschaft nicht nur als Kollateraleffekt, sondern ganz absichtlich zur Herrschaftssicherung diese Art von “people’s science” abgewertet und zurückgedrängt und damit viele Erkenntnisse teilweise lange verschleppt hat.

Zum Beispiel wurden zentrale technische Grundlagen der Industrialisierung nicht nur abseits der Universitäten, sondern im Widerspruch zu den dort vorherrschenden Erklärungsmodellen geschaffen, die erst in der Folge nach und nach angepasst wurden. Auch entstand in den Jahrzehnten vor Darwins berühmten Veröffentlichungen bereits ein Konzept von natürlicher Evolution, von dem in der heutigen Vermittlung praktisch nur der leise Spott über Lamarck und seine Widerlegung durch Darwin übriggeblieben sind. Anfänge von Umweltwissenschaften finden sich im engen Zusammenspiel mit der Französischen Revolution und prallen wie andere im Kontext egalitärer Bewegungen entstehende Konzepte einer verbundenen, kooperativen Natur (im deutschsprachigen Raum ist etwa der Mitbegründer des Bundes der Kommunisten Wilhelm Weitling ein Beispiel hierfür) am Dogma der Akademien ab, die den analytischen ‘esprit systématique’ gegen den sozialrevolutionären ‘esprit de système’ ausspielen. Immer wieder wird in der Folge die Durchsetzung der Kapitalherrschaft von der Setzung einer hierarchischen Objektivität begleitet, so wird Darwin zur Begründung für allmähliche soziale Revolution, schließlich zur Rechtfertigung für Konterrevolution gegen sprunghafte “Entartung”.

Ich bin vorsichtig mit diesem Buch, weil es mir viel zu sehr in den Kram passt, viele meiner eigenen Überlegungen unterfüttert und mir die Grundrichtung nicht nur einleuchtet, sondern politisch sehr nahe ist. Wegen der geringen Aufmerksamkeit für dieses Buch (und ähnliche Ansätze) habe ich bisher wenig Hilfe dabei gefunden, die Materialien und Beispiele abzuklopfen und nicht in die potentielle Falle zu tappen, nun theoretische Wissenschaft und Spezialisierung quasi im Gegenzug abzuwerten. Denn ohne Zweifel ist es sinnvoll, wenn sich Einzelne zur Reflexion zurückziehen können und es spezialisierte Forschungsbereiche gibt diese Reflexion und diese Forschungsbedingungen sollten nur allen offenstehen, die Zugänge sollten proaktiv nivelliert werden, und es sollte immer klar sein, dass all diese Reflexion und Spezialisierung auf der Arbeit von so vielen anderen aufsetzt.

Spätestens wenn es im Buch um die Entstehung von Geologie und Paläontologie aus dem Bergbau geht und auch nicht einfach aus der gelehrten Betrachtung von Gruben und Schächten, sondern aus der Vorarbeit der Bergleute selbst, mit Schwerpunkten in Sachsen und im Harz, habe ich als begeisterter Waldgänger mit großer Faszination für Hinweise auf Arbeit und Leben im Wald ernsthafte Probleme mit meiner Parteilichkeit.

Aber auch im weiteren Sinn hatte und habe ich ein gebrochenes Verhältnis zur Wissenschaft: ich hatte zwar immer zahlreiche Berührung mit dem akademischen Betrieb, gehörte aber nie wirklich dazu; mein familiärer und sozialer Hintergrund liegt ähnlich widersprüchlich zwischen Walzwerk, POS und Uni; ich komme aus einem sozialistischen Land, in dem einerseits die historischen Kämpfe um die Wissenschaft Thema waren und auf wissenschaftliche Allgemeinbildung großer Wert gelegt wurde, in dem es andererseits aber immer diesen halben Klassenkompromiss der strukturell bürgerlichen Parteiherrschaft mit dem Wissenschaftsbürgertum gab; mein öffentliches Wirken zielt stark auf die Vermittlung zwischen Uni und Nicht-Uni, auf die Ermunterung zum Wissensaustausch zwischen den Sphären, auf das Brechtsche “Lob des Lernens”, auf die Auflösung der bürgerlichen Distinktionen bei den Arbeitskräften im akademischen Betrieb; für diese Priorisierungen habe ich immer wieder einen hohen persönlichen Preis bezahlen müssen.

Im Laufe der Zeit bestand ein immer größerer Teil dieses Wirkens daraus, wissenschaftliche Erklärungen zu erweitern und zu ergänzen, zu vertiefen und zu systematisieren, die Blindstellen in der Wissenschaft zu erhellen, ideologisch motivierte Begrenzungen und Verdrehungen sowie ganz allgemein die Unterordnung unter die Interessen von Staat und Kapital anzugreifen, das Interesse der Arbeitskräfte und einer von ihnen getragenen gesellschaftlichen Umwälzung an Wissenschaft herauszustreichen, Ansätze und Modelle zusammenzufassen und zusammenzuführen (wie Conner so eindrücklich in Erinnerung ruft, stehe ich damit ganz in der Tradition egalitärer Wissenschaft).

Das habe ich am längsten mit Ideologie (“Entschwörungstheorie”) und den überall verstreut vorliegenden Konzepten und Forschungsergebnissen zum Rausch getan (“Leben im Rausch”), ähnlich habe ich es für die Lust zumindest begonnen (“Lust, Rausch und Zweifel”) und für die evolutionäre und historische Anthropologie versucht (“Die Hüftbewegung”). Im geschichtswissenschaftlichen Bereich habe ich mich auf verschiedene m.E. besonders relevante Abschnitte konzentriert, darunter vor allem die revolutionären Auf- und Umbrüche hierzulande um 1500 und um 1900 (auch um den um 1990), dabei versucht, durch große Quellenvielfalt so viel wie möglich der ideologischen Erzählungen herauszurechnen und die dahinter/darunter verborgene soziale Wirklichkeit so gut wie möglich freizulegen wie in der Einleitung zur “Entschwörungstheorie” die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was die meisten Menschen die meiste Zeit über tun.

Fortlaufend unternehme ich eine verdichtete Zusammenschau dessen, was ich weiß, und dessen, was ich mir vorstellen kann, um über weitere Untersuchung und Tätigkeit zu entscheiden. Und in der gleichen Weise möchte ich dazu anstiften, sich über das eigene Wissen und dessen Herkunft Rechenschaft abzulegen und sich die Welt so vollständig wie möglich zu erklären, zur Spekulation anzuregen um Richtungen möglicher Forschung und Überprüfung zu gewinnen und damit mögliche Veränderungen von Arbeit, Leben, des ganzen Horizonts.

Aus Sicht der stark akademisierten Linken, die sich an eine Parteilichkeit für den Wissenschaftsbetrieb und den Staat (und weniger eingestanden für als kleinere Übel schöngequatschte Kapitalfraktionen) gegen den “Mob” gewöhnt hat, stellt sich das Problem nun so dar, dass Wissenschaft nur schwer zu kritisieren ist, ohne den überall blühenden reaktionären, wissenschaftsfeindlichen Diskursen Tür und Tor zu öffnen. Dagegen halte ich, dass eine konsequente Klassenposition dieses Problem vom Kopf auf die Füße stellen kann, die herrschaftlichen Interessen hinter Ideologie aufdecken, das Interesse der überwältigenden Mehrzahl der Menschen an wissenschaftlicher Erkenntnis und ihrer Umsetzung begründen, den Klassenkonflikt innerhalb der Wissenschaft sichtbar machen, sich der innerakademischen Konkurrenz und der Polarisierung entlang rivalisierender Kapitalinteressen entziehen, allgemein dem Geniekult, dem Expertentum und der Konkurrenz die egalitäre Kooperation und Solidarität der Klasse entgegensetzen, klarmachen, wie Teile der vorherrschenden Wissenschaftsvermittlung selbst Tür und Tor für die Reaktion öffnet.

Conners historische Zusammenschau kann vielleicht dabei helfen, die Scheu vor dieser Auseinandersetzung zu verlieren und dazu ermutigen, bestehende Ansätze zur Arbeitskräfte-Organisierung an den Unis (unterbau, TVStud) und zur Einführung dort vernachlässigter Themen und Ansätze (Kritische Einführungswochen, Offene Uni) zu vertiefen und zu schärfen. Sie könnte es erleichtern, sich von liberalen Hegemoniekämpfen und Bekenntnispolitik zu lösen und stattdessen eigene Standpunkte aus der Formulierung von zulässigen Vereinfachungen und aus der Bildung von dynamischen Gegenidentitäten zu beziehen. Sie könnte die unter Linken verbreitete Distanz zu den Naturwissenschaften verringern helfen und allgemein zum Kampf gegen die herrschaftliche Unterwerfung der Wissenschaft und zur (Wieder-)Aneignung ihrer Ergebnisse anregen, die etwa in Fragen der Geschlechterpolitik, der menschlichen Evolution oder der Entstehungsgeschichte von Herrschaft von größtem Nutzen sein dürften.

Auch könnte die Lektüre dieses Buches den Blick dafür schärfen, dass reaktionäre Wendungen innerhalb der Linken bzw. Übertritte ins andere Lager nicht nur historisch auf spezifischen Aneignungen von Wissenschaft fußen (Darwinismus/Rassismus, wissenschaftliches Management wie im Taylorismus der Bolschewiki, dann Stalins “Taylorismus von unten”, generell die Fetischisierung von Theorie™, orthodoxer Zettelkasten-Marxismus wie bei Ebert, Verengung auf Psychoanalyse bis zur völligen Blindheit für die Bewusstseinsforschung). Auch wer heute nach rechts abbiegt, macht das oft auf der Grundlage einer “Wissenschaftskritik” an Gender, Klima, Covid oder an der “etablierten Archäologie” verbiegt sich erkenntnismethodische Ansätze wie Dialektik oder Kritische Theorie zu einseitiger Rechtfertigungsgymnastik, argumentiert für vermeintlich volkstümliche, handgreifliche “Wahrheit”, als hätten Arbeitskräfte keine Instrumente, keine Computer und könnten keine Wahrscheinlichkeiten ermitteln.

Schließlich könnten einige von Conners Beispielen eine wirksamere, radikalere Wissenschaftsvermittlung im Sinne von Polytechnik, Inklusion und Klassenkampf nahelegen mehr Mut zur zulässigen Vereinfachung und zur Einladung in die Wissenschaft!

Kurz, nicht nur “Unite behind the science”, sondern auch und vor allem “Unite the science”: den Teil der Wissenschaft, den Staat und Kapital für ihre Zwecke vereinnahmt und monopolisiert haben, aus seinem goldenen Käfig befreien, und mit dem Teil vereinen, der systematisch marginalisiert und ausgehungert wird. Daran wirke ich auch weiterhin gerne nach Kräften mit.

1923 – Rückblick auf das letzte Jahr der Revolution

December 28th, 2023

Nach dem letzten offenen Aufstand im Mitteldeutschen Industriegebiet, in Hamburg, im Ruhrgebiet und im Südwesten im März 1921 befinden sich Hunderte auf der Flucht im Untergrund, von denen einige sich bis zu Karl Plättners Verhaftung Anfang 1922 (wenige noch weiter bis 1924) mit Raubüberfällen durchzuschlagen versuchen. Weitaus mehr Beteiligte der revolutionären Kämpfe, soweit sie nicht wie Tausende unmittelbar erschossen wurden, sind nach harten Urteilen dem bereits stark faschistisch geprägten Strafvollzug ausgeliefert, in dem sie Folter und Misshandlungen erleiden müssen, was viele nicht überleben. Die erst 1921 gegründete Rote Hilfe liefert Rechtsbeistand und Unterstützung für Gefangene, Opfer und Angehörige aller Parteien.
1923 beginnt: Was bisher geschah

Nun ruft ab dem 13. Januar 1923 die bürgerliche Regierung Cuno zum “passiven Widerstand” auf, sie stellt die nationale Interessenlage offen dem Klassenkampf gegenüber und kann ihn teilweise erfolgreich für sich einspannen. … Aus dem Interessenkonflikt zwischen deutscher, französischer und belgischer Regierung ist eine ständige Konfrontation von Soldaten und Zivilbevölkerung geworden.
1923 beginnt: 11. Januar – Französisch-belgischer Einmarsch ins Ruhrgebiet

Ähnliches wie in Sachsen wird in den nächsten Monaten auch in Thüringen passieren: “Arbeiterregierung” und Bewaffnung der Arbeitskräfte. Das Interesse an revolutionärer Bewaffnung und das Interesse an antifaschistischer Bewaffnung fallen mehr und mehr zusammen. In Italien ist der Faschismus bereits an der Macht, in der “Ordnungszelle” Bayern formiert er sich rapide vor allem aus denen, die in den letzten Jahren die Revolution zusammengeschossen haben – und denen, die sie dabei anfeuerten und begünstigten.
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, ‘Arbeiterregierung’ gegen den Faschismus

Ursprünglich von der gigantischen Kriegsverschuldung aus dem Weltkrieg angestoßen, hatte die Inflation seither stetig zugenommen und dem Großkapital erlaubt, im großen Stil Betriebe und Immobilien zusammenzukaufen, im Falle von Hugo Stinnes auch z.B. Schiffe, Landgüter, Hotels und Zeitungen. Während die Rekordinflation ab 1923 nun auch inländische Staatsschulden abgeträgt und den Großgrundbesitz entschuldet, die Regierung sich ihren “passiven Widerstand” gegen die Reparationen einiges kosten lässt (vor allem Zahlungen für von Maßnahmen der Besatzungsmächte Betroffene sowie für Kohle), sind Rentner, Kleinsparer, Erwerbslose und viele andere Unterstützungempfänger existentiell getroffen und auch immer größere Teile des Klein- und Bildungsbürgertums.
1923 beginnt: 8. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr

Reichswehr und Nazis bekommen wegen des Besatzungsgeschehens im Ruhrgebiet unterdessen Oberwasser. Die sich im Frühjahr häufenden Fälle von Gewalt und Vergewaltigung (etwa 50 Fälle sind dokumentiert) durch die Besatzungstruppen werden von der nationalistischen deutschen Propaganda vor allem marokkanischen und anderen Kolonialtruppen zugeschrieben. Frauen, die im Verdacht standen, sich freiwillig mit den Besatzern einzulassen, wurden schon seit dem Vorjahr von ‘Scherenklubs’ öffentlich gedemütigt und misshandelt.
1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden

Zetkin, deren Rede als eine der frühesten theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Faschismus überhaupt und insbesondere als “erste Analyse des italienischen Faschismus” (Schütrumpf) gilt, bezeichnet ihn als Strafe dafür, die Revolution nicht weitergeführt zu haben, nennt ihn einen “bunt zusammengewürfelten Gewalthaufen”, der als außerlegale, außerstaatliche Machtorganisation für den bürgerlichen Staat fungiert, aber anders als andere Formationen der Konterrevolution weit in alle Teile der Gesellschaft und auch bis ins Proletariat hineinreicht. … Selbstschutz gegen den Faschismus, wie er sich in den Betriebshundertschaften bildet, sieht sie als ständig gebotene Notwehr und ebenso als Weg in die Einheitsfront.
In Westsachsen, im Zwickauer Revier und im Erzgebirge, zeigen sich die veränderten sächsischen Verhältnisse, in denen die Proletarischen Hundertschaften als Ordnungskräfte teilweise die reguläre Polizei verdrängen können, durch immer selbstbewussteres Auftreten der Arbeitskräfte, die entgegen der Haltung der Großgewerkschaften, angesichts der durch Inflation geleerten Streikkassen auf Stillhalten und “Partnerschaft” mit dem Kapital zu setzen, zu Tausenden in Streik treten.

1923 Juni: Komintern debattiert Faschismus, Streiks in Sachsen, Prozess gegen Plättner in Halle

Am 29. Juli 1923 findet in Deutschland der erste ‘Antifaschistentag’ statt, in Sachsen und Thüringen sind 150.000 überwiegend sozialdemokratische und kommunistische Arbeitskräfte auf der Straße, trotz Verboten in Berlin etwa 200.000, im Bezirk Halle-Merseburg 30.000, in Nordbayern 18.000, anderswo wird auf geschlossene Räume oder Ausflugslokale ausgewichen. Hauptforderungen sind die Entwaffnung faschistischer Gruppen und der Rücktritt der bürgerlichen Reichsregierung.
1923 Juli: ‘Antifaschistentag’, Streiks, militante Lohneintreibungen

Am 10. August 1923 beginnt eine Streikwelle, die nach zwei Tagen mit 3,5 Millionen Streikenden an der Schwelle zum Generalstreik steht und zum Rücktritt der ohnehin angeschlagenen bürgerlichen Reichsregierung führt. Inmitten von ohrenbetäubendem Nationalismus, allgegenwärtigem konterrevolutionärem Militär, aufsteigendem Faschismus, galoppierender Inflation und immer noch fortwährend sich umwälzender Gesellschaft und Kultur kommen noch mal Millionen von Arbeitskräften zu sich, streiken zum dritten Mal in fünf Jahren die Regierung aus dem Amt, wollen die Revolution vollenden, die Republik verteidigen und mit ihren Räten die Sozialisierung von unten durchsetzen.
1923 August: Millionenstreik erzwingt Rücktritt der Regierung

Am 26. September 1923 ernennt der bayerische Ministerpräsident Eugen von Knilling seinen Amtsvorgänger Gustav Ritter von Kahr zum Generalstaatskommissar mit diktatorischen Vollmachten. Dieser war im Zuge des Kapp-Lüttwitz-Putsches im März 1920 durch einen eigenen ‘kalten Putsch’ ins Amt gelangt, hatte Bayern zum Rückzugsraum für konterrevolutionäre Verbände gemacht (von den Massenmördern der Marinebrigade Ehrhardt über die terroristische Organisation Consul bis zur NSDAP), antisemitische Hetze betrieben und den Freistaat in einen autoritären Modellstaat geformt, den er die ‘Ordnungszelle’ nannte.
26. September 1923: Zweiter ‘kalter Putsch’ in Bayern – völkisch-antisemitische Diktatur

Da sich Ministerpräsident Zeigner weigert, seine Regierung aufzulösen, und erklärt, nur der sächsische Landtag könne das (die Hundertschaften seien außerdem zur Abwehr der “schwarzen Reichswehr” erforderlich, weil die Reichswehr nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch nicht demokratisiert wurde), erlässt Reichspräsident Ebert am 29.10. eine Notverordnung, die im Rahmen der “Reichsexekution” die notfalls gewaltsame Absetzung der Landesregierung (seiner eigenen Partei!) erlaubt. (Im Grundgesetz der BRD ist das übrigens Artikel 37, der “Bundeszwang”.) Die Reichswehr, seit Tagen schon mit mittlerweile 60.000 Mann in Stellung gegangen, vertreibt Minister aus dem Staatsministerium, besetzt den Landtag und räumt ihn schließlich, setzt Zeigner fest, der am nächsten Tag seinen Rücktritt erklärt. Die neue Regierung wird schon wenige Tage später gegen die “Reichsexekution” klagen, aber die Tatsachen sind geschaffen.
10. Oktober 1923: SPD-KPD-Regierung in Sachsen

Am 2. November 1923 marschiert die Reichswehr in Zwickau und Chemnitz ein, nachdem sie in den Tagen zuvor das “rote Herz” Westsachsen von Dresden, Leipzig und Plauen her eingekreist hatte. Hier war in Städten wie Crimmitschau in den 1860er Jahren die revolutionäre Sozialdemokratie mit ihren sozialistischen Bildungsvereinen und Zeitungen entstanden, wurde die erste Industriegewerkschaft gegründet, die sogleich auch Frauen offenstand. Später klärte der erbitterte Crimmitschauer Textilstreik von 1903/04 die Fronten im Klassenkampf – hier die landesweite und teilweise internationale Solidarität mit dem Kampf um den Zehnstundentag, dort die Einheitsfront aus Staat, Kirche und Bürgertum, schon bald ergänzt um den vom Kanzler des Jahres 1923 Stresemann gegründeten Verband Sächsischer Industrieller.
Ab 5. November beginnen Einheiten der Reichswehr mit dem Einmarsch in den benachbarten Osten von Thüringen, zunächst unter dem schon während des Vormarschs durch Sachsen üblichen Vorwands gegen Streiks oder Plünderungen (bzw. Beschlagnahmungsaktionen von Lebensmitteln zur Verteilung an Hungernde) einschreiten zu müssen.
Der Thüringer VSPD-Abgeordnete Hermann Brill nennt es kurz darauf einen “indirekten Staatsstreich”, die “faktische Entmachtung der Landesregierung” unter “Ausnutzung des Ausnahmezustands”, spricht von gut abgestimmtem Vorgehen der Reichswehr mit der Allianz aus Bürgerparteien und Landbund, die sich im Februar 1924 mit Stimmen der NSDAP (Vereinigte Völkische Liste) zur nächsten Thüringer Regierung wählen lassen wird.
2. November 1923: Reichswehr in Zwickau und Chemnitz

Die Revolution war jedoch nicht erfolg- und folgenlos, ihr Beispiel könnte immer noch Ansporn sein: am stärksten war die Revolution in den Momenten der Massenstreiks und der kollektiven Selbstermächtigung, dann konnte sie den Weltkrieg beenden, die Monarchie stürzen, ein bis dahin ungekanntes Niveau an Arbeitsrechten und politischer Beteiligung durchsetzen, Mittel und Zugänge nach unten umverteilen, 1920 einen frühen faschistischen Putsch vereiteln und schließlich 1923 sogar Teile des Großbürgertums zum vorübergehenden Bekenntnis zur Republik nötigen. Unverändert bleiben auch heute die stärksten Waffen der Arbeitskräfte ihr massenhafter egalitärer Zusammenschluss, ihre organisierte Verweigerung und Selbstaufklärung. Vor 100 Jahren war die Revolution zu Ende, und dieses Ende hat bis heute nicht aufgehört.
Dezember 1923: Revolution zu Ende – Bürgertum und Militär gewinnen

Weihnachtsbotschaft der Leipziger Volkszeitung zum Hunger-Weihnachten 1923: “Die Welt birgt ungeheure Massen von Weizen, Baumwolle, von Fleisch und Fett. Es kommt zuletzt nur darauf an, eine andere Verteilung herbeizuführen. Die kann aber nur im schärfsten Kampfe gegen die Besitzenden herbeigeführt werden… Wir befinden uns inmitten einer Krise der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Sie wird zugrunde gehen… Dann wird Weihnachten sein für alle Menschen.”

Dezember 1923: Revolution zu Ende

December 1st, 2023

Vor 100 Jahren, im Dezember 1923, ist die Revolution nach fünf Jahren zu Ende – alle Versuche, die Produktionsmittel zu vergesellschaften und das Militär zu demokratisieren, die Kriegsverantwortlichen aus Großbürgertum und Offizierskorps zu entmachten, sind niedergeschlagen oder vereitelt. Tausende Aufständische, Streikende und Köpfe der Selbstorganisation sind ermordet, viele Tausend mehr in Gefängnissen, Zuchthäusern und Internierungslagern Misshandlungen ausgesetzt, der militärische Ausnahmezustand dauert noch bis Ende Februar an, der zivile bis Oktober.

Justiz und Staatsgewalt haben schon ihre legendäre selektive Härte gegen links und unten bei Milde gegen rechts und oben entwickelt, nicht zuletzt der Kontrast zwischen dem Vorgehen gegen die “roten” Freistaaten Sachsen und Thüringen und gegen die “Ordnungszelle” Bayern macht das deutlich, zwischen einerseits der Verhaftung von sozialistisch und republikanisch gesinnten Ministern und Bürgermeistern und andererseits dem Gewährenlassen der bayerischen völkisch-antisemitischen Diktatur, aber auch zwischen den langjährigen Zuchthausstrafen gegen Karl Plättners Leute für bloße Gewaltandrohungen und der nicht mal einjährigen Luxushaft für Hitler bei Freispruch für Ludendorff nach einem bewaffneten Putschversuch mit dem Programm des späteren NS-Staats. Während die Rote Hilfe, sofern legalistische Erwägungen aus der KPD sie nicht daran hindern, tut, was sie kann, ist die Option eines revolutionären Untergrunds mit der Verurteilung und Haft von Plättners Bandenstruktur erledigt. Unterdessen zieht die Reichswehr immer noch straflos im Regierungsauftrag ihre Blutspur durch Sachsen und Thüringen. Die neue konterrevolutionäre Landesregierung des Bürgertums und Grundbesitzes, die durch den militärischen Terror in Thüringen an die Macht geschoben wird, gewinnt die Wahlen im Februar auch mit Stimmen der NSDAP (Vereinte Völkische Liste). Sie hetzt u.a. gegen Bauhaus, worin sie allen “undeutschen Sittenverfall” konzentriert sieht, und wird es Ende 1924 aus Weimar vertreiben.

Die sächsische SPD, die sich Anfang Dezember auf ihrem Parteitag noch für eine erneute Beteiligung der KPD und “mit aller Entschiedenheit gegen die barbarischen Willkürakte … des militärischen Terrors” ausspricht, kann sich in der Folge nur in einer Koalition mit DDP und DVP an der Regierung halten, auf Reichsebene wird weiter bürgerlich durchregiert, nun ganz ohne SPD. Neuer Kanzler nach Stresemann ist seit Monatswechsel der Richter Wilhelm Marx von der katholischen Zentrumspartei, der mit drastischen Maßnahmen die am 15. November eingeführte Rentenmark zu stabilisieren sucht: Kürzungen öffentlicher Ausgaben, Kürzung der Gehälter der öffentlich Beschäftigten unter Vorkriegsniveau, Entlassung eines Viertels von ihnen (400.000 Beamte, Angestellte, Arbeiter), Soforteintreibung ausstehender Steuern in neuer Währung auf Grundlage von Daten aus dem Vorjahr (was Inflationsgewinne ausnimmt), Erhöhung der Wochenarbeitszeit im öffentlichen Dienst und als direkter Angriff auf die Errungenschaften der Revolution die Abschaffung des Achtstundentags. Dagegen streiken bis Januar Hunderttausende, können aber nichts mehr durchsetzen und werden massenhaft ausgesperrt. Zum Jahreswechsel beziehen 5,7 Millionen Arbeitslosenunterstützung, davon 3,5 Millionen Vollerwerbslose. Das Bürgertum war mit seiner Inflationspolitik bis an die Grenzen gegangen und lässt nun alle anderen die Rechnung bezahlen. Stinnes fädelt einen letzten großen Deal mit Frankreich ein, der zwar Reparationszahlungen enthält, welche die Zechenbesitzer jedoch größtenteils abwälzen können.

Nicht nur belässt die neue Regierung die Zustände in Bayern, der neue Reichsjustizminister Erich Emminger ist aus Kahrs und Knillings Bayerischer Volkspartei und setzt im Januar 1924 auf der Grundlage des geltenden Ermächtigungsgesetzes Verordnungen zur kostensparenden Verfahrensbeschleunigung durch, darunter die Abschaffung des Geschworenengerichts, die grundsätzlich bis heute noch gilt.

Und schließlich sagt immer noch der Reichspräsident, wann Demokratie ist, welche Wahlen und Regierungsbildungen anerkannt werden, wann die Armee einmarschiert und wann nicht, und auch wann das Parlament widersprechen kann – als am 13. März die Anträge von SPD, KPD und den Deutschnationalen gegen die Kürzungspolitik beraten werden sollen, löst Ebert den Reichstag auf, was Neuwahlen bedeutet, gerade wenige Wochen vor Ende der Legislaturperiode.

In der Sowjetunion sind die Ereignisse in Deutschland ein wesentlicher Teil des Machtkampfs um Lenins Nachfolge. Die Kominternführung legt wenige Tage vor Lenins Tod am 21. Januar eine verbindliche Lesart fest, welche die Geschichte der Revolution umschreibt und die Verantwortung für das Scheitern ihrer Intervention (‘Deutscher Oktober’), deren Planung wie auch Beendigung eng mit Komintern und KPdSU abgestimmt, weitgehend von ihr bestimmt worden waren, den Konstrukten eines zögerlichen Reformismus (Brandler) und eines revolutionären Abenteurertums (Radek) zuschiebt, zwischen denen sich Stalins Troika schließlich als die vernünftige Mittelposition inszenieren kann, die sich gegen den “Block der Rechten und Trotzkisten” durchsetzt und nun “Stabilisierung” treiben und diplomatische Beziehungen zum Westen aufbauen kann. In der KPD werden erst jetzt die an der Sowjetunion orientierten Kräfte tonangebend, die sich vom Programm der Revolution (Demokratie, Entmilitarisierung, Sozialisierung von unten) entfernen und die Partei als Vorhutorganisation nach bolschewistischem Vorbild zentralisieren und militarisieren werden (da ist nun der Bolschewismus, vor dem uns Ebert schon vorher gerettet haben will und dessen Aufstieg er mit seiner Terrorpolitik begünstigt hat) – diese neue Parteiführung wird bis auf Thälmann in den folgenden Jahren von der Stalinisierung verdrängt werden, die sie so selbst mit auf den Weg bringt.

Ohne das Korrektiv generalstreikender und aufständischer Massen kippt die deutsche Gesellschaft in der Folge weiter in den völkischen Nationalismus der alten herrschenden Klassen, verbleiben öffentlicher Raum und Wohnviertel immer vollständiger unter polizeilicher und kommerzieller Kontrolle, re-militarisiert sich der politische Diskurs. 1924 organisieren erst SPD, Zentrum und DDP ihre Weltkriegsveteranen im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, dann die KPD die ihren im Roten Frontkämpferbund. 1925 wird Hindenburg zum Reichspräsidenten gewählt.

Die eintretende ökonomische Stabilisierung beruht maßgeblich auf US-amerikanischen Interventionen in die Reparationsverhandlungen, der folgende Aufschwung basiert, wie in Frankreich und Großbritannien, auf US-Krediten, und endet wie dort mit dem Ausbruch der großen Krise 1929. Kurz davor ist die SPD noch mal an der Regierung, bis sie über eine geringfügige Erhöhung des Arbeitslosengeldes stürzt und das Bürgertum endlich beginnen kann, die parlamentarische Demokratie wieder auseinanderzunehmen. Mit der Machtübernahme der Nazis kommt 1933 schließlich die militärische Konterrevolution selbst an die Macht, wiederholt, was sie zuvor im Regierungsauftrag getan hatte, und weitet es in die ganze Gesellschaft und schließlich in weite Teile der Welt aus. Den Jahrestag der Revolution überschreiben sie mit dem Jahrestag ihres konterrevolutionären Putschversuchs, auf brutalste Weise am 9. November 1938. Ihr Weltkrieg gegen die “jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung” soll bis zuletzt die Revolution rückgängig machen, Hitler will “den deutschen Arbeiter für die Nation” zurückgewinnen, sieht hinter sich “ein Volk” marschieren, “und zwar ein anderes als das vom Jahre 1918”.

Mark Jones sieht wie viele andere in der endgültigen Niederschlagung der Revolution und der Ebnung des Weges zur Macht für die militärische Konterrevolution den “Sieg der Demokraten”, weil so das Bild von der “gegen links wie rechts wehrhaften Weimarer Demokratie” gerettet werden kann. Bis heute dominiert die politische Auswahl zwischen Ebert oder Lenin, während die Stinnes, Kahr und Hitler stets parat stehen.

Die Revolution war jedoch nicht erfolg- und folgenlos, ihr Beispiel könnte immer noch Ansporn sein: am stärksten war die Revolution in den Momenten der Massenstreiks und der kollektiven Selbstermächtigung, dann konnte sie den Weltkrieg beenden, die Monarchie stürzen, ein bis dahin ungekanntes Niveau an Arbeitsrechten und politischer Beteiligung durchsetzen, Mittel und Zugänge nach unten umverteilen, 1920 einen frühen faschistischen Putsch vereiteln und schließlich 1923 sogar Teile des Großbürgertums zum vorübergehenden Bekenntnis zur Republik nötigen. Unverändert bleiben auch heute die stärksten Waffen der Arbeitskräfte ihr massenhafter egalitärer Zusammenschluss, ihre organisierte Verweigerung und Selbstaufklärung.

Vor 100 Jahren war die Revolution zu Ende, und dieses Ende hat bis heute nicht aufgehört.

Die Bildcollage aus zwei Zeichnungen von George Grosz in “Das Gesicht der herrschenden Klasse” (1921) zeigt die Sieger – Tucholsky: “das meisterlichste Bildwerk der Nachkriegszeit” – Grosz und Heartfield werden im Februar 1924 für “Ecce Homo” auf Grundlage des Unzuchtsparagrafen (§ 184 StGB “Angriff auf die öffentliche Moral”) zu Geldstrafen verurteilt, Grafiken werden konfisziert, Vorlagen zerstört

***

• 1923 beginnt: Was bisher geschah
• 1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
• 1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
• 1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
• 1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden
• 1923 Juni: Komintern debattiert Faschismus, Streiks in Sachsen, Prozess gegen Plättner in Halle
• 1923 Juli: ‘Antifaschistentag’, Streiks, militante Lohneintreibungen
• 1923 August: Millionenstreik erzwingt Rücktritt der Regierung
• 26. September 1923: Zweiter ‘kalter Putsch’ in Bayern
• 10. Oktober 1923: SPD-KPD-Regierung in Sachsen
• 2. November 1923: Reichswehr in Zwickau und Chemnitz

Alle Postings zur Revolution: Revolution in Deutschland 1918-23

2. November 1923: Reichswehr in Zwickau und Chemnitz

November 2nd, 2023

Am 2. November 1923 marschiert die Reichswehr in Zwickau und Chemnitz ein, nachdem sie in den Tagen zuvor das “rote Herz” Westsachsen von Dresden, Leipzig und Plauen her eingekreist hatte. Hier war in Städten wie Crimmitschau in den 1860er Jahren die revolutionäre Sozialdemokratie mit ihren sozialistischen Bildungsvereinen und Zeitungen entstanden, wurde die erste Industriegewerkschaft gegründet, die sogleich auch Frauen offenstand. Später klärte der erbitterte Crimmitschauer Textilstreik von 1903/04 die Fronten im Klassenkampf – hier die landesweite und teilweise internationale Solidarität mit dem Kampf um den Zehnstundentag, dort die Einheitsfront aus Staat, Kirche und Bürgertum, schon bald ergänzt um den vom Kanzler des Jahres 1923 Stresemann gegründeten Verband Sächsischer Industrieller.

Wieder rückt die Reichswehr aus mehreren Richtungen gleichzeitig in die Städte vor, in Chemnitz gegen 10 Uhr von 5 Seiten je ein Bataillon konzentrisch zum Heumarkt, Polizeitruppen haben nachts bereits wichtige Gebäude besetzt, dann folgt das Programm der letzten beiden Wochen: Abschreckung und Überrumpelung, Verhaftungen und Willkür. In Zwickau wird das Sächsische Volksblatt besetzt und verboten, die Besatzung der Stadt dauert bis in den Dezember.

Während in Berlin alle Minister der SPD aus Stresemanns Regierung austreten, weil dieser den Abzug der Reichswehr aus Sachsen und jedes Vorgehen gegen Bayern verweigert, entwickelt die militärische Konterrevolution ein weiteres Mal ihre Eigendynamik. Ab 5. November beginnen Einheiten der Reichswehr mit dem Einmarsch in den benachbarten Osten von Thüringen, zunächst unter dem schon während des Vormarschs durch Sachsen üblichen Vorwands gegen Streiks oder Plünderungen (bzw. Beschlagnahmungsaktionen von Lebensmitteln zur Verteilung an Hungernde) einschreiten zu müssen. Notfalls werden Vorwände erzeugt: Waffenfunde, die zur Thüringer Polizei gehören, werden den Hundertschaften zugeordnet und als nachträgliche Bestätigung des Einmarsches herangezogen.

In Eisenberg wird der SPD-Bürgermeister verhaftet, in Wasungen läuft der Besitzer der Brauerei mit den Truppen durch den Ort und sagt ihnen, wen sie verhaften sollen, oft unterstrichen von Schlägen gegen die Betroffenen. Hier wird noch deutlicher sichtbar als zuvor, dass ein erheblicher Teil der Reichswehr eine eigene Agenda verfolgt und im wesentlichen das Modell Bayern durchzusetzen versucht: es werden so viele Abgeordnete und Amtsträger verhaftet, dass die linken Lokalverwaltungen handlungsunfähig werden, die rote politische Mehrheit untergraben wird. Dabei sind Revolution und Republik praktisch synonyme Vorwürfe. Der Thüringer VSPD-Abgeordnete Hermann Brill nennt es kurz darauf einen “indirekten Staatsstreich”, die “faktische Entmachtung der Landesregierung” unter “Ausnutzung des Ausnahmezustands”, spricht von gut abgestimmtem Vorgehen der Reichswehr mit der Allianz aus Bürgerparteien und Landbund, die sich im Februar 1924 mit Stimmen der NSDAP (Vereinigte Völkische Liste) zur nächsten Thüringer Regierung wählen lassen wird.

Die Reichswehr bewegt sich auf breiter Front immer tiefer nach Thüringen hinein, unterstellt sich am 6. November die Landespolizei und rückt aus westlicher Richtung in Gotha ein. Nachdem am 8. November Weimar besetzt ist (Hausdurchsuchung auch bei Bauhaus-Direktor Walter Gropius) und in Jena die Zuflucht der im August in Preußen und Ende September reichsweit verbotenen Betriebsrätebewegung erreicht wird, versucht die Arbeiterregierung der vollen “Reichsexekution” wie in Sachsen durch den Austritt der KPD-Minister am 12. November zuvorzukommen. Am 14. November wird der Landtag suspendiert, am 23. die KPD reichsweit verboten, Anfang Dezember tritt Ministerpräsident Frölich offiziell zurück. In heutigen Darstellungen dieses ganzen Vorgangs heißt es, die Thüringer Landesregierung habe sich “freiwillig aufgelöst”.

Wikipedia, das Deutsche Historische Museum und leider auch die RLS

Ab dem 2. November kommt es in Berlin zu einer Häufung von Plünderungen, besonders betroffen sind Bäckereien im osteuropäisch-jüdisch geprägten Scheunenviertel, das schon zuvor wiederholt sowohl von Pogromen wie von Polizeirazzien heimgesucht wurde. Als am 5. November die Auszahlung der Arbeitslosenunterstützung in der Gormannstraße wegen Geldmangels eingestellt wird, streuen Unbekannte antisemitische Gerüchte über Geldhortung und mobilisieren von dort eine Menge von Hunderten, die bald auf mehrere Tausend anwächst, ins benachbarte Scheunenviertel, wo es zu Angriffen auf Geschäfte und Personen kommt, die als jüdisch identifiziert werden. In der angrenzenden Friedrichstadt sind es NSDAPler aus der Universität, die ihnen jüdisch erscheinende Menschen auf der Straße verprügeln und bedrohen.

Jüdische Kriegsveteranen, bislang auf ihre Distinktion gegenüber den armen jüdischen Neuzugewanderten bedacht, kommen umgehend zu Hilfe, können Schlimmeres verhindern, indem sie vor der Volksbühne die Angriffe auf sich ziehen – die Polizei, die auffällig spät auftaucht, nimmt sie genauso mit wie etwa 200 andere jüdische Angegriffene. Einige von ihnen werden in der Haft so schwer misshandelt, dass die Beamten verurteilt und entlassen werden – auch damals ein seltener Vorgang.
Die SPD veranstaltet in den folgenden Tagen 12 Demonstrationen gegen die Gefahr des Antisemitismus – die Reichsregierung, aus der sie gerade ausgetreten ist, lässt die antisemitische Diktatur in Bayern unterdessen gewähren.

Als Hitler und Ludendorff am Vorabend des Revolutionsjubiläums ihre nationale Gegenrevolution ausrufen, um am 9. November von München ihren “Marsch auf Berlin” anzutreten und endlich den “Novemberverrat” zu tilgen, mit den “Novemberverbrechern abzurechnen”, sieht Diktator Gustav von Kahr mit der Zerschlagung der roten Regierungen in Sachsen und Thüringen, mit der “Ausräucherung” ihrer Basis und mit der weiteren Aussicht auf eine rechtsbürgerliche Reichsregierung, die gegen die “Ordnungszelle Bayern” nicht viel unternimmt, das für den Moment Mögliche soweit getan und möchte sich daher in kein aussichtsloses Abenteuer hineinziehen lassen. Schon gar nicht von denen, die seine Fußtruppen hatten sein sollen! Der heute immer noch oft drei Nummern zu groß “Novemberputsch” genannte Aufmarsch wird von den Gewehren der Polizei gestoppt. In einem kurzen Schusswechsel auf dem Odeonsplatz sterben 4 Polizisten und 13 der Hitlerleute.

Mit der gegen Hitler danach vor Gericht geübten relativen Milde können Karl Plättner und ein Dutzend derer, mit denen er nach der Niederschlagung des Mitteldeutschen Aufstands 1921 “revolutionären Bandenkampf” versuchte, nicht rechnen. Obwohl der Staatsgerichtshof in Leipzig, vor den die Angeklagten ihren vormals als Strafsache in Halle angesetzten Prozess nun als politischen haben bringen können, anerkennt, dass die Gewalt nur aus ihrer Drohung bestand und die Motivation nicht in Zweifel steht, werden bei der Verurteilung am 30. November gegen fast alle mehrjährige Gefängnisstrafen ausgesprochen, die Hälfte von ihnen kommt ins Zuchthaus. Obwohl sie in der langen Untersuchungshaft bereits erfahren mussten, wieviel Rachebedürfnis gegen ihresgleichen im Strafvollzug herrscht, belasten sie sich nicht gegenseitig und stehen zu ihren Taten. Plättner wird Anfang 1924 versuchen, seine sterbende Mutter in Thale zu besuchen, schließlich wenigstens an ihrer Beerdigung teilzunehmen, beides wird ihm kommentarlos verwehrt – die preußische KPD-Landtagsfraktion schreibt ihm, er solle sich keine Hoffnungen machen: “Ja, wenn du Hitler wärst oder zu dieser Gilde gehörtest, dann wäre das etwas anderes.”

Während Hitler im Februar und März 1924 das Volksgericht in München als Bühne benutzen kann und nicht vor den Staatsgerichtshof in Leipzig muss, lässt dieser anders als zuvor das Schwurgericht in Halle keine längere Verteidigungsrede Plättners zu. Er kommentiert die Verlesung der Strafanträge mit “Da pfeifen wir drauf!” und ruft nach der Urteilsverkündung laut in den Saal: “Lebt wohl, Genossen! Die Internationale wird die Menschheit sein!” Aus dem Zuschauerraum kommen Hochrufe zurück.

Reichswehr besetzt die “Neue Zeitung” der KPD in Jena, 11. November 1923

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1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden
1923 Juni: Komintern debattiert Faschismus, Streiks in Sachsen, Prozess gegen Plättner in Halle
1923 Juli: ‘Antifaschistentag’, Streiks, militante Lohneintreibungen
1923 August: Millionenstreik erzwingt Rücktritt der Regierung
26. September 1923: Zweiter ‘kalter Putsch’ in Bayern
10. Oktober 1923: SPD-KPD-Regierung in Sachsen
Alle Postings zur Revolution: Revolution in Deutschland 1918-23

10. Oktober 1923: SPD-KPD-Regierung in Sachsen

October 10th, 2023

Am 10. Oktober 1923 tritt die KPD in die sächsische SPD-Landesregierung unter Erich Zeigner ein, mit der sie bereits seit März auf Grundlage eines Tolerierungsabkommens kooperiert. Mit diesem Schritt folgt die KPD-Führung gegen besseres Wissen dem Revolutionsplan der Komintern (“Deutscher Oktober”), obwohl die darin vorgesehenen Wirkungen – deutlich bessere Bewaffnung der gemeinsamen proletarischen Hundertschaften und Zugriff auf die reguläre Staatsgewalt – weder zu erwarten sind noch eintreten. Paul Böttcher wird Finanzminister, Fritz Heckert Wirtschaftsminister, KPD-Vorsitzender Heinrich Brandler der Leiter der Staatskanzlei.

Auch wenn bürgerliche Presse und zuständige Ministerien schon vorm Regierungseintritt auf militärisches Eingreifen in Sachsen drängen, machen es die offene Koalitionsbildung und ein am gleichen Tag im KPD-Zentralorgan “Die Rote Fahne” veröffentlichter Brief Stalins (“Die kommende Revolution in Deutschland ist das wichtigste Weltereignis unserer Tage. Der Sieg der Revolution in Deutschland wird für das Proletariat in Europa und Amerika eine größere Bedeutung haben als der Sieg der russischen Revolution vor sechs Jahren.”) dem großbürgerlichen Kanzler Stresemann noch leichter, Bayern sozusagen rechts liegen zu lassen und gegen “Sowjetsachsen” vorzugehen.

Dabei hilft auch das am 13.10. beschlossene Reichs-Ermächtigungsgesetz, das der Regierung erlaubt Maßnahmen zu ergreifen, bei denen “von den Grundrechten der Reichsverfassung abgewichen” wird, allerdings sind Arbeitszeiten und Sozialleistungen davon ausgenommen – über diese Einschränkung war Stresemanns erstes Kabinett noch am 3.10. zerbrochen, weil der ADGB interveniert hatte, ein letzter Sieg der Arbeitskräfte. Nun soll das Gesetz neben notfalls erzwungener bürgerlicher Regierung auch staatlichen Zugriff auf Nahrungsmittel ermöglichen, während Sachsen und Thüringen faktisch weiter ausgehungert werden.

Auch in Thüringen bilden SPD und KPD am 16.10. eine Koalitionsregierung unter August Frölich, in der Karl Korsch Justizminister und Albin Tenner Wirtschaftsminister werden. Die Hundertschaften werden als “republikanische Notwehren” zum Schutz der Verfassung deklariert. Die Landesregierung sieht ihre “besondere Aufgabe … dadurch bestimmt, daß Thüringen das Grenzland ist desjenigen deutschen Gliedstaates, in dem die Gegner der Republik faktisch die Staatsgewalt bestimmen“. Hier wird die Reichswehr erst Anfang November einmarschieren, wenn sie mit Westsachsen fertig ist.

An der Basis dominiert die verzweifelte Realität einer völlig grotesken Geldentwertung (der Brotpreis verzehnfacht sich gerade innerhalb einer Woche auf 500 Millionen), der Massenarbeitslosigkeit (in vielen Gegenden die Mehrheit der Erwerbsfähigen, besonders verheerend in Sachsen), von Hunger und monatelanger Unterernährung. Die mangelhafte Bewaffnung der Hundertschaften ist offenkundig, sie verstehen sich selbst als lokale Gegen-Ordnungsmacht von unten, und die direkte Auseinandersetzung mit faschistischen Verbänden aus Bayern wird nur im Zusammenwirken mit Teilen der Reichswehr für realistisch gehalten.

Ein beträchtlicher Teil der KPD-Führung verbringt jedoch die Wochen der “Revolutionsvorbereitung” fernab dieser Realitäten bei der Komintern in Moskau, wo die Revolutionspläne auch zum Gegenstand interner Machtkämpfe sowohl der KPdSU wie der KPD werden. Nicht nur wird von dort aus die Lage in Deutschland verkannt (immer noch Millionen sozialistisch gesinnter Arbeitskräfte, aber so gut wie keine Waffen und paralysierende Lage, kein Mandat für Herrschaft einer Avantgardepartei), auch werden die Möglichkeiten der Sowjetunion völlig überschätzt, in Mitteleuropa militärisch einzugreifen – oder nennenswert ökonomisch durch die anlaufenden Getreidelieferungen, die dennoch einigen Hunger stillen.

Ab 21. Oktober marschieren Reichswehr und illegale “Schwarze Reichswehr” in Divisionsstärke, ausgestattet mit Minenwerfern, Kavallerie, Maschinengewehren und Panzerwagen, in Nord- und Ostsachsen ein. Truppentransporte gelangen reibungslos nach Sachsen, weil Bahnarbeitskräfte glauben (sollen), die Reichswehr werde gegen Bayern eingesetzt. Der Auftrag lautet jedoch Zerschlagung der seit Ende September verbotenen Hundertschaften. In die wichtigsten Städte wird still eingerückt, oft in der Nacht, und dann werden sie blitzartig besetzt (“Straße frei, es wird geschossen!”): Verhaftungen mit vorbereiteten Listen (vier Jahre konterrevolutionäre Erfahrung zahlt sich aus), Misshandlungen, Durchsuchungen, Internierungen Tausender, Zerstörung, Willkür.

Es kommt vereinzelt zu Widerstandshandlungen, die jedoch erbarmungslos unterbunden werden. In Meißen wird eine Protestkundgebung mit Säbeln und Gewehrkolben auseinandergejagt. In Borna werden in den Morgenstunden 60 Verhaftungen vorgenommen, dann wird die Gemeinderatssitzung gestürmt und verprügelt. In Pirna schießt am 23.10. das II. Bataillon des 10. Reichswehr-Infanterieregiments aus Bautzen auf eine Menge, die am Marktplatz für ihre Erwerbslosenunterstützung Schlange steht und den heranfahrenden Panzerwagen begrüßt: “Da ist der neue Brotwagen, schmeißt ihn um!” Als sich die Menge nicht schnell genug zerstreut, lässt Hauptmann von Friesen feuern, der 18jährige Arthur Müller stirbt, weitere sechs Erwerbslose werden von hinten schwer angeschossen. Das schlimmste Massaker passiert am 27.10. in Freiberg, als die Reichswehr auf eine Protestkundgebung schießt: 23 Tote.

Am Tag des Einmarschs entscheidet die in Chemnitz einberufene Betriebsrätekonferenz, angesichts der Übermacht keinen Generalstreik auszurufen – die KPD zieht in Abstimmung mit der Komintern ihren Generalstreikaufruf zurück und gibt den Aufstandsplan auf. Unklar ist, ob den Anwesenden bewusst ist, wie endgültig diese Entscheidung sein wird. Ein gemeinsamer Generalstreikaufruf, der am 30.10. in der sozialdemokratischen Presse erscheinen soll, kann kaum verbreitet und so gut wie nicht befolgt werden.

In Hamburg geht die dortige KPD unter Ernst Thälmann zum Aufstand über, am Morgen des 23.10. bewaffnen sich mehrere Hundert Aufständische aus 24 Polizeiwachen und können sich in einigen Arbeitervierteln bis zum nächsten Tag gegen Reichswehr und Polizei halten. Obwohl die Barrikaden schließlich aufgegeben werden und sich geordnet (durch die Kanalisation) zurückgezogen werden kann, fordert der Aufstand über 100 Tote, darunter viele Unbeteiligte.

Die Diktatur in Bayern weist ab 17.10. Dutzende jüdische Familien aus, die Ausweisungsbefehle unterschreibt Gustav von Kahr selbst, darunter sind Rückführungen nach Polen. Bis Ende des Monats trainieren bayerische Truppen im Rahmen der “Herbstübung 1923” Aufstandsbekämpfung. Hitler will hingegen nicht abwarten, “wie es in Sachsen geht” und gleich auf Berlin marschieren – Mussolinis Marsch auf Rom jährt sich vom 27.-31. Oktober zum ersten Mal.

Da sich Ministerpräsident Zeigner weigert, seine Regierung aufzulösen, und erklärt, nur der sächsische Landtag könne das (die Hundertschaften seien außerdem zur Abwehr der “schwarzen Reichswehr” erforderlich, weil die Reichswehr nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch nicht demokratisiert wurde), erlässt Reichspräsident Ebert am 29.10. eine Notverordnung, die im Rahmen der “Reichsexekution” die notfalls gewaltsame Absetzung der Landesregierung (seiner eigenen Partei!) erlaubt. (Im Grundgesetz der BRD ist das übrigens Artikel 37, der “Bundeszwang”.) Die Reichswehr, seit Tagen schon mit mittlerweile 60.000 Mann in Stellung gegangen, vertreibt Minister aus dem Staatsministerium, besetzt den Landtag und räumt ihn schließlich, setzt Zeigner fest, der am nächsten Tag seinen Rücktritt erklärt. Die neue Regierung wird schon wenige Tage später gegen die “Reichsexekution” klagen, aber die Tatsachen sind geschaffen.

Am 31. Oktober ist ein Brot mehrere Milliarden wert, die Arbeitslosenquote liegt bei 19,4%, Menschen ziehen aus den Städten aufs Land und plündern Lebensmittel, und die Revolution hat verloren.

Die Reichswehr besetzt Freiberg.

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1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden
1923 Juni: Komintern debattiert Faschismus, Streiks in Sachsen, Prozess gegen Plättner in Halle
1923 Juli: ‘Antifaschistentag’, Streiks, militante Lohneintreibungen
1923 August: Millionenstreik erzwingt Rücktritt der Regierung
26. September 1923: Zweiter ‘kalter Putsch’ in Bayern
Alle Postings zur Revolution: Revolution in Deutschland 1918-23

Vorbeugende Richtigstellungen

October 2nd, 2023

Bisher hab ich dieses Jahr über die Ereignisse vor 100 Jahren weitgehend exklusiv berichten können/müssen, wenige Jahrestage wurden anderswo aufgerufen, nur da und dort wurden die Scheinwerfer auf lokale Geschichte oder die Talking Points der großen Gesamterzählungen gerichtet (Inflation, Ruhrbesetzung, der große Staatsmann Stresemann, Eberts Bauchschmerzen beim Geflüchtete abweisen, äh, beim Streikende erschießen lassen usw.)

Deshalb sind gerade die Ereignisse im Frühjahr und Sommer 1923 so besonders unsichtbar – weil sie in die großen Erzählungen nicht hineinpassen: linke, sozialistische parlamentarische Mehrheiten und sogar Regierungen, eine immer noch stark sozialistisch orientierte SPD-Parteibasis, eine noch längst nicht im sowjetischen Modell aufgegangene KPD, die gemeinsamen proletarischen Hundertschaften, das schon recht klare Verständnis von der faschistischen Reaktion und die offene Mobilisierung dagegen, der letztmalig erfolgreiche Massenstreik und Fast-Generalstreik im August, der die Regierung zum Rücktritt zwingt und Teile des Großbürgertums zum Bekenntnis zur Republik nötigt.

Nun kommen einerseits die hegemonialen Narrative zum Oktober und November um die Ecke, in denen meist eine gewisse Unausweichlichkeit konstruiert wird, mit der die Sozialdemokratie ein weiteres Mal mit der “bürgerlichen Mitte” gegen den drohenden Bolschewismus zusammenstehen muss und auch in Bayern Schlimmeres verhindert werden kann. Dass in Bayern ab Ende September bereits eine antisemitische Diktatur herrschte, deren Ausgreifen auf den Rest des Reiches nur durch den eigenen Einmarsch der Regierungstruppen in Sachsen und Thüringen aufgeschoben und schließlich durch den grotesken Putschversuch Hitler-Ludendorff vereitelt wurde – das passt alles nicht ins Bild.

Andererseits gibt es die linken Parteierzählungen, in denen je nach Richtung die KPD schon vollständig bolschewisiert und auch schon fast seit Beginn der Revolution federführend war, die Geschichte des Antifaschismus erst 1932 losgeht, die ‘Arbeiterregierungen’ erst im Oktober starten (statt mit dem sächsischen Tolerierungsabkommen im März) und versuchsweise mit heutigen grundverschiedenen Koalitionen gleichgesetzt werden, der “Deutsche Oktober” als eine reale Revolution behandelt oder eben auf die Planung des “Verschwörerstücks” (Arthur Rosenberg) durch die Komintern reduziert wird, die KPD wegen der kurzen Phase des ‘Schlageter-Kurses’ als antisemitische Organisation behandelt wird, sich Formulierungen finden, wie dass der Funke des Hamburger Aufstands nicht mehr übergesprungen ist – während gerade Zehntausende Soldaten in lauter Gebiete einmarschierten, die den ganzen Sommer über im Aufstand waren und die auch sonst kaum jemals irgendwo auftauchen.

Ich befürchte, dass ich nur wenig dazu kommen werde, all diesen Erzählungen, die die Revolutionsgeschichte nur als Steinbruch für den heutigen Lieblingsfilm verwenden, konkret zu widersprechen – ich werde mich weiter darauf konzentrieren, soweit mir das möglich ist die Ereignisse zu rekonstruieren und euch damit Material in die Hand zu geben um die Erzählungen zu durchschauen und auch zu verstehen, warum sie so aussehen.

26. September 1923: Zweiter ‘kalter Putsch’ in Bayern

September 26th, 2023

Am 26. September 1923 ernennt der bayerische Ministerpräsident Eugen von Knilling seinen Amtsvorgänger Gustav Ritter von Kahr zum Generalstaatskommissar mit diktatorischen Vollmachten. Dieser war im Zuge des Kapp-Lüttwitz-Putsches im März 1920 durch einen eigenen ‘kalten Putsch’ ins Amt gelangt, hatte Bayern zum Rückzugsraum für konterrevolutionäre Verbände gemacht (von den Massenmördern der Marinebrigade Ehrhardt über die terroristische Organisation Consul bis zur NSDAP), antisemitische Hetze betrieben und den Freistaat in einen autoritären Modellstaat geformt, den er die ‘Ordnungszelle’ nannte.

Nachdem die Reichsregierung unter Gustav Stresemann am 23. September den ‘passiven Widerstand’ gegen die französisch-belgische Besatzung offiziell beendet hatte, rief von Knilling umgehend den Ausnahmezustand für Bayern aus. Die Diktatur verschärft nun die ohnehin stark militarisierte und repressive Situation. Von Kahr verbietet die KPD und den Selbstschutz der SPD, veranlasst Razzien im Gewerkschaftshaus und bei der sozialdemokratischen Münchener Post, bereitet judenfeindliche Maßnahmen vor und plant einen ‘Marsch auf Berlin’ (nach dem Vorbild von Mussolinis ‘Marsch auf Rom’ im Jahr zuvor) um die ‘Ordnungszelle’ auf das ganze Reich auszuweiten.

Dabei sollen neben der Armee auch die kleinbürgerlich-faschistischen Fußtruppen, die sich Anfang September beim Deutschen Tag in Nürnberg um Hitler und Ludendorff zum ‘Deutschen Kampfbund’ zusammengeschlossen haben, zum Einsatz kommen. Hitler schwört sie bereits darauf ein, im Kampf zu fallen, und orakelt ganz im Sinne der oberen Etagen: “Was sich heute anbahnt, wird größer sein als der Weltkrieg! Es wird ausgefochten werden auf deutschem Boden für die ganze Welt!” (Jones 2022:269)

Großindustrielle wie Hugo Stinnes und führende Militärs wie der Chef der Heeresleitung Hans von Seeckt formulieren Ende September ihre Regierungsentwürfe, die sich um Abschaffung des Parlaments, Wiederausweitung des Arbeitstages, Aufgabe aller Sozialisierungsvorhaben, Auflösung oder korporatistische Vereinnahmung der Gewerkschaften und Zerschlagung sämtlicher sozialistischer Organisationen drehen – es geht darum, die Revolution rückgängig zu machen und den Kaiser durch einen Diktator oder ein Direktorium zu ersetzen.

Die offene Zuspitzung in Bayern beschleunigt zusammen mit der umgehenden Verhängung des reichsweiten Ausnahmezustands durch Friedrich Ebert noch mal den Zulauf zur KPD, die Ende September 295.000 Mtglieder zählt, und zu den ‘gemeinsamen proletarischen Hundertschaften’ aus etwa 50.000 sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeitskräften, die sich als Verteidigung der Republik gegen Konterrevolution und Faschismus begreifen und gegen die bayerische Diktatur eine norddeutsche Gegenmacht mit Kern in Sachsen und Thüringen bilden wollen.

Während schnell klar wird, dass die Reichswehr nicht gegen die verfassungswidrigen Zustände in Bayern eingesetzt wird, werden die Rufe aus Bürgertum und Militär nach einem Einmarsch in Sachsen und Thüringen zu direkten Forderungen. Dort haben SPD und KPD zusammen legale Mehrheiten und führen Verhandlungen über Koalitionsregierungen. Unternehmer, die den tendenziellen Verlust ihrer Privilegien und die Eindämmung ihrer Willkür als Unrecht ansehen und eine Rückkehr zum “lutherischen Hausvaterverständnis”, die Überwindung des Klassenkampfs durch eine korporatistische “Werksgemeinschaft” (Pohl 2022:152) anstreben, sammeln sich um Stresemanns Verband Sächsischer Industrieller, dessen permanente Gräuelpropaganda über ‘Sowjetsachsen’ seit Anfang September auch von Adolf Hitler aufgegriffen wird. Im Unterschied zu Kahr sieht er die ‘Bolschewisierung’ Norddeutschlands nicht erst noch bevorstehen, sondern hält sie für längst passiert.

Soweit sich Teile der KPD-Führung an die Linie der Komintern gebunden sehen, versuchen sie deren parallele Strategie umzusetzen, offen für die ‘Arbeiterregierungen’ einzutreten und gleichzeitig versteckt einen revolutionären Putsch nach bolschewistischem Vorbild vorzubereiten, am besten zum Jahrestag der Oktoberrevolution. Das kostet nicht nur wertvolle Zeit, missachtet die für ein derartiges Abenteuer völlig unzureichende Bewaffnung der Hundertschaften und stößt entsprechend auf wenig Zuspruch, es übergeht auch das recht eindeutige Mandat der kommunistischen wie linkssozialdemokratischen Basis für Massenproteste (‘Antifaschistentag’ Ende Juli) und Generalstreik (Cuno-Streiks im August) zur Verteidigung der Republik gegen die immer offener faschistische Konterrevolution und zur Vollendung der Revolution, zur Demokratisierung der Wirtschaft und der bewaffneten Organe – wofür mit dem Ende des ‘passiven Widerstands’ nun mit dem jedem Tag mehr die ökonomischen und politischen Grundlagen schwinden.

Unterdessen herrscht weiter Hunger in weiten Teilen des Reiches, während sich einige ordentlich die Taschen vollmachen. Friedrich Flick verlegt im September 1923 seinen Firmensitz nach Berlin und nutzt weiter Inflation und Krise um sich in Oberschlesien passende Unternehmen für seinen wachsenden Stahlkonzern zusammenzukaufen: die Bismarckhütte, die Kattowitzer AG (Kohle) und die Oberschlesische Eisenindustrie AG.

Links: Gustav von Kahr (ca. 1921), rechts: kommunistisches Erklärflugblatt zur Mobilisierung der Hundertschaften gegen die faschistische Reaktion (ca. Monatswechsel September/Oktober 1923)

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1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden
1923 Juni: Komintern debattiert Faschismus, Streiks in Sachsen, Prozess gegen Plättner in Halle
1923 Juli: ‘Antifaschistentag’, Streiks, militante Lohneintreibungen
1923 August: Millionenstreik erzwingt Rücktritt der Regierung
Alle Postings zur Revolution: Revolution in Deutschland 1918-23

Die Topmeldungen jedes Tages

September 20th, 2023

– Reiche tun Dinge um noch reicher zu werden – wir haben dazu einige Reiche befragt

– Um so ziemlich alles andere steht’s schlecht, daran sind aber hauptsächlich ärmere Leute wie Sie schuld (und diese ganz besonderen bösen Reichen, Sie wissen schon)

Dieses oder jenes könnte getan werden, aber dann müssten auch die Reichen mal bezahlen, und hahaha das geht natürlich nicht hahaha so lustig krankes linksextremes Hirngespinst wir wissen ja wo das hinführt

– Außerdem haben Polizei und Ordnungsamt genau aufgepasst, es hat alles seine Richtigkeit

– Die Wissenschaft sagt, dass Erholung, Vorsorge und Pflege gut tun – das ist aber natürlich Ihr ganz persönliches Problem!

– Zum Schluss das Wetter: weltweit Fluten, Dürren, Brände, hier aber mit der richtigen Kleidung, Ausrüstung, Einstellung und Versicherung ganz nett eigentlich – schönen Abend Ihnen noch!

August 1923: Millionenstreik erzwingt Rücktritt der Regierung

August 10th, 2023

Am 10. August 1923 beginnt eine Streikwelle, die nach zwei Tagen mit 3,5 Millionen Streikenden an der Schwelle zum Generalstreik steht und zum Rücktritt der ohnehin angeschlagenen bürgerlichen Reichsregierung führt.

Inmitten von ohrenbetäubendem Nationalismus, allgegenwärtigem konterrevolutionärem Militär, aufsteigendem Faschismus, galoppierender Inflation und immer noch fortwährend sich umwälzender Gesellschaft und Kultur kommen noch mal Millionen von Arbeitskräften zu sich, streiken zum dritten Mal in fünf Jahren die Regierung aus dem Amt, wollen die Revolution vollenden, die Republik verteidigen und mit ihren Räten die Sozialisierung von unten durchsetzen.

Auslöser ist ein Arbeitskampf im Berliner Druckgewerbe, der auch die Reichsdruckerei und damit die Notenpresse des Reiches stilllegt, es kommt zu einem Mangel an Papiergeld, andere Arbeitskräfte (Elektrizitätswerke, Bau, Verkehrsbetriebe) schließen sich dem Streik an. Am Abend des 10. August tagt die Kommission der Berliner Gewerkschaften, linke Sozialdemokraten unterstützen den von der KPD vorgeschlagenen dreitägigen Generalstreik und die Bildung einer reichsweiten ‘Arbeiterregierung’, die SPD-Parteiführung votiert dagegen. Die KPD stellt im Reichstag ein Misstrauensvotum gegen die Regierung Cuno und beruft für den nächsten Tag, Samstag den 11. August 1923, eine Vollversammlung der revolutionären Betriebsräte von Groß-Berlin ein, die zum Generalstreik bis zum Sturz der Regierung Cuno aufruft.

Wegen der Ausnahmeverordnung, mit der Reichspräsident Ebert tags zuvor Verbote von Presseorganen erlaubt, “die zur gewaltsamen Beseitigung oder Änderung der Staatsform des Reiches oder der Länder auffordern”, wird auch “Die Rote Fahne”, das Zentralorgan der KPD, nach Abdruck des Generalstreik-Aufrufs verboten. Unter dem Titel “An die arbeitenden Klassen Deutschlands” wird darin der Rücktritt der Regierung, die Beschlagnahme von Lebensmitteln und die Einführung einer gleitenden Lohnskala, die automatische Anpassung der Löhne an die Inflation, gefordert und an alle appelliert, “sofort eine gemeinsame Aktion zur Bildung einer Arbeiterregierung einzuleiten”.

Auch wenn die Verbreitung des Aufrufs durch das Verbot behindert wird, breiten sich die Streiks und die Forderungen in Berlin weiter aus und greifen auf andere Städte und Regionen über, vor allem Hamburg, die Lausitz, die preußische Provinz Sachsen sowie die ‘roten’ Freistaaten Sachsen und Thüringen. Im Ruhrgebiet besetzen kommunistische und syndikalistische Arbeitskräfte Fabriken und verjagen die Betriebsleitungen. Auf dem Höhepunkt der Mobilisierung streiken 3,5 Millionen – gerade erst waren die wochenlangen Streiks der Hochseefischer (Streiks und Krawalle auf den Hamburger Werften, Lotsenstreik auf der Unterelbe) und im Kohlebergbau in Westsachsen zu Ende gegangen.

Streikkundgebungen und Demonstrationen werden überall im Reich von der Polizei angegriffen, mindestens 30 Protestierende werden dabei erschossen, Hunderte verletzt, so in Merseburg, Wilhelmsburg, Senftenberg, Leipzig. In Köln werden 15 Menschen angeschossen, als sie das Polizeipräsidium stürmen. In Zeitz wird am 11. August das Gefängnis gestürmt, ein Streikkomittee und eine Arbeiterwehr bilden sich. Die Schutzpolizei greift an, es gibt Tote und Verletzte. Zwei Tage später demonstrieren etwa 10 000 Bergleute von Theißen nach Zeitz. An der Auebrücke treffen sie auf die Schutzpolizei und rufen ihnen zu, sie sollen die Waffen wegwerfen und mitdemonstrieren. Die Polizei eröffnet das Feuer, 9 Bergleute sterben sofort, 2 erliegen später am Tag ihren Verletzungen, mehr als 30 Verletzte sind zu beklagen.

In vielen anderen Städten kommt es zu Unruhen und Plünderungen, aber auch zu Angriffen durch reaktionäre Organisationen (am 12. August lynchen NSDAPler den Metzger Peter Stengel am Rande ihres Aufmarschs zum “Deutschen Tag” in Kulmbach zu Tode). Auch die militanten Lohneintreibungen und Preiskontrollen, die besonders in Westsachsen unter der Deckung der erstarkenden Betriebshundertschaften seit Mai zugenommen hatten, gehen unterdessen weiter, so am 7. August in Limbach und am 16. August in Hermsdorf.

Für einen kurzen Moment sieht es am 12. August 1923 so aus, als würde die Republik der Arbeitskräfte endlich Wirklichkeit – wie schon in den Generalstreik-Situationen am 9. November 1918, am 3. März 1919 und am 18. März 1920. Doch wie jedes Mal zuvor ist es im entscheidenden Moment die Bereitschaft Eberts und der SPD-Führung, sich mit Bürgertum und Militär gegen die eigenen Leute zusammenzutun, die das letztlich verhindert. Dazu muss diesmal auch der bislang überwiegend monarchistisch-autoritär gesinnte Großteil des Bürgertums plötzlich sein Herz für eine Republik entdecken, in der er den Hut aufbehalten kann.

Als klar wird, dass für Montag den 13. August ein Generalstreik bevorsteht, an dem sich auch die sozialdemokratische Basis in Massen beteiligen wird, fordert nun auch die SPD den Rücktritt von Reichskanzler Cuno, der am Abend des 12. August seine Demission einreicht. Reichspräsident Ebert beauftragt mit der Regierungsneubildung unverzüglich den Industriellen Gustav Stresemann, im Weltkrieg einer der lautesten Kriegstreiber bis zum Schluss, danach bis gerade eben noch wie die meisten Bürgerlichen aus seiner DVP (und der DNVP) gegen die Republik und für “die alten Zeiten”, in denen die Arbeitskräfte noch gespurt haben. Wie August Thalheimer hinterher schreibt, hat das Bürgertum hier wie meist mit dem Rechenschieber Politik gemacht: “Von einem bestimmten Punkt ab mußte die Inflation nicht mehr als Exportprämie wirken, sondern umgekehrt. Die Bourgeoisie hat die Inflationskonjunktur ganz kühl bis zu Ende ausgenützt. Sie ist bis zu dem Punkt gegangen, zu dem man überhaupt gehen konnte, und hat erst dann ganz Schluß gemacht, als die Inflationskonjunktur in die Inflationskrise umzuschlagen begann”, als ihnen also von den Arbeitskräften die Rechnung präsentiert wurde.

Die SPD-Führung ist, anders als die Parteilinke und große Teil der Basis, nun zu einer “großen Koalition” bereit (damals so genannt wegen der Breite des politischen Spektrums von SPD über Zentrum und DDP bis zur DVP). In der nunmehr achten Reichsregierung seit Beginn der parlamentarischen Republik übernimmt Kanzler Stresemann auch das Außenministerium, fünf Minister gehören der SPD an.

Millionen streiken weiter, bis Stresemann in seiner Regierungserklärung am 14. August die Forderung nach “Wertbeständigkeit der Entlohnung”, also nach gleitender Lohnskala, berechtigt nennt, natürlich nicht ohne klarzustellen, wie sehr ihm das eigentlich gegen den Strich geht. Er verurteilt die Streiks als unverantwortlich und ruft der KPD zu: “Wer Streiks in der Erntezeit veranlasst, versündigt sich am deutschen Volke.” 239 der 342 anwesenden Reichstagsabgeordeneten stimmen für die neue Regierung, 76 mit Nein, 24 enthalten sich. Die SPD-Abgeordneten aus Sachsen und die meisten ehemaligen USPDler bleiben der Abstimmung fern. Auch einige DVP-Abgeordnete um Reinhold Quaatz verlassen den Saal vor der Abstimmung.

Am selben Tag beschließt die Vollversammmlung der Betriebsräte Groß-Berlins den Abbruch des Generalstreiks. Die Zentrale der KPD und der Reichsausschuss der Betriebsräte schließen sich an. Obwohl die Gesamtsituation weiterhin angespannt ist, Maßnahmen zur Währungsstabilisierung durch Verteuerung der deutschen Waren auf dem Weltmarkt die Arbeitslosigkeit weiter steigen lassen, der Dollarkurs Ende August 11 Millionen Mark erreicht und der “passive Widerstand” gegen die (Beteiligung der Bourgeoisie an den) Raparationsleistungen weitergeht, setzt die Revolution leider nicht direkt nach.

Die Streiks veranlassen die Komintern, direkt ins Geschehen einzugreifen und die KPD auf einen Aktionsplan festzulegen, der als “Deutscher Oktober” nach sowjetischem Vorbild erst im Herbst losschlagen soll und auf einer völligen Verkennung der Situation beruht: angesichts des geringen Bewaffnungs- und hohen Organisationsgrads ist die generalstabsmäßige Planung einer militärischen Operation so fehl am Platze wie überwiegend unbeliebt. Trotzki lädt deutsche Kommunisten am 15. August auf die Krim ein, um mit ihnen die Chancen einer Revolution in Deutschland zu diskutieren, als diese gerade ihre vielleicht beste, definitiv letzte Gelegenheit verstreichen lässt.

Am 16. August verbietet der preußische Innenminister den Reichsausschuss der deutschen Betriebsräte, der von Jena im ‘roten’ Thüringen aus halblegal weiterwirkt. Der Verband Sächsischer Industrieller, einst 1902 von Stresemann für den Klassenkampf von oben gegründet, verlangt immer lauter nach dem Einmarsch der Reichswehr in Sachsen.

Reichspräsident Ebert, der neue Reichskanzler Stresemann
und der Gedenkstein für die von der Polizei erschossenen Bergleute in Zeitz.

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1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden
1923 Juni: Komintern debattiert Faschismus, Streiks in Sachsen, Prozess gegen Plättner in Halle
1923 Juli: ‘Antifaschistentag’, Streiks, militante Lohneintreibungen
Alle Postings zur Revolution: Revolution in Deutschland 1918-23

Juli 1923: ‘Antifaschistentag’, Streiks und militante Lohneintreibungen

July 28th, 2023

Am 29. Juli 1923 findet in Deutschland der erste ‘Antifaschistentag’ statt, in Sachsen und Thüringen sind 150.000 überwiegend sozialdemokratische und kommunistische Arbeitskräfte auf der Straße, trotz Verboten in Berlin etwa 200.000, im Bezirk Halle-Merseburg 30.000, in Nordbayern 18.000, anderswo wird auf geschlossene Räume oder Ausflugslokale ausgewichen. Hauptforderungen sind die Entwaffnung faschistischer Gruppen und der Rücktritt der bürgerlichen Reichsregierung.

In Rosenheim stürmen Konterrevolutionäre (Bund Bayern und Reich, Blücherbund, Bund Oberland, NSDAP) das Gewerkschaftshaus, prügeln auf die Versammelten ein und erstechen den Schlosser und sozialdemokratischen Gewerkschafter Georg Ott. Während 4000 Menschen seiner Beerdigung beiwohnen, nehmen Presse und Justiz die ‘Notpolizei’ in Schutz, es wird kein Verfahren eröffnet. Vielerorts gab es bereits im Vorfeld Repression, so wurden in München Plakatierende verhaftet.

Der martialische Ton des ursprünglichen Aufrufs vom 11. Juli (“Der Faschistenaufstand kann nur niedergeworfen werden, wenn dem weißen Terror der Rote Terror entgegengestellt wird”) war in der Mobilisierung und bei vorbereitenden Kundgebungen wie etwa in Solingen am 24. Juli einer klassenbewussten Abwehrposition gewichen, die die Macht der organisierten Arbeitskräfte der nur besser bewaffneten konterrevolutionären Minderheit gegenüberstellte. Plakate zeigten u.a. die zuvor mit dem Gedicht ‘Faschistenruf’ von Oskar Kanehl (“Wir hassen Juden und Proleten und werden sie zertreten”) in der Presse veröffentlichte Grafik von John Heartfield und George Grosz.

Von den Länderregierungen (Ausnahme: Baden und die ‘Arbeiterregierungen’ in Sachsen und Thüringen) wird der Tag angesichts der zugespitzten ökonomischen Lage als Aufstandsszenario behandelt, weshalb alle öffentlichen Versammlungen verboten werden. Um eine allgemeine Konfrontation mit Polizei und reaktionären Verbänden zu vermeiden, empfiehlt auch die KPD-Zentrale auf Drängen der Komintern eine Orientierung auf Veranstaltungen in geschlossenen Räumen. Die dennoch rege Beteiligung und die intensive Mobilisierung zeigen, wie realitätsfern die Vorstöße von Radek sind, mindestens taktisch auch um nationalistisch und faschistisch Gesinnte zu werben und sich mit ihrer Männlichkeit zu verbünden (‘Schlageter-Kurs’) – auch in Moskau gibt es diesbezüglich Dissens, Sinowjew schreibt an Thalheimer und Brandler, Radek mache den Fehler, “dass er nur eine Seite sieht: Zerlegung [Zerschlagung] der Faschisten durch Propaganda à la seine Rede über Schlageter. Er vergißt aber, dass ein guter Faustschlag am besten den Faschismus zerlegen [zerschlagen] würde.”

KPD-Linke suchen durch Übertreibung die Absurdität der Schlageter-Linie herauszustreichen, was zur grotesken Situation führt, dass Ruth Fischer, selbst wie Radek im Zentrum antisemitischer Propaganda über den “jüdischen Bolschewismus”, in einer Diskussion mit Studenten in einem Berliner Gymnasium diese damit herausfordert, ob sie statt nur die “Judenkapitalisten” an die Laterne zu hängen, das auch mit Stinnes, Klöckner usw. tun würden. Es ist unklar, ob Fischer sich hier wirklich kurzzeitig die Schlageter-Linie zueigen gemacht hat oder, wie bis unmittelbar vorher, sie (in krasser Unterschätzung des gesellschaftlichen Antisemitismus) durch Übertreibung bloßzustellen suchte. Im Ergebnis werden ihre Zitate im ‘Vorwärts’ unter der Überschrift “Ruth Fischer als Antisemitin” abgedruckt, und dienen als weiterer Beleg für alle in der SPD, die gegen ein Zusammengehen mit der KPD sind.

Doch an der Basis scheint es für den Augenblick eher, als würden die ökonomische Krise und die reale Bedrohung durch zur Macht drängende faschistische Organisationen die Basis der Arbeiterparteien gleichzeitig zusammenbringen und radikalisieren, weniger im Sinne einer sowjetischen Parteiherrschaft und mehr zur Verteidigung der Republik, vielerorts nach wie vor mit der Hoffnung auf eine “Sozialisierung von unten”.

Der massenhafte Zulauf zur KPD hält auch im Juli an, Dutzende kommunistische Betriebsgruppen gründen sich, die Betriebsrätebewegung nimmt an Stärke zu und es kommt – entgegen der Haltung von SPD- und Gewerkschaftsführung – zu einer weiteren Welle von Streiks (6. bis 12. Juli mehr als 130.000 Arbeiter der Metall-, Bau- und Holzindustrie, ab 25. Juli Kohlestreik im gesamten Zwickauer und Oelsnitz-Lugauer Revier). Regional sind die Gewerkschaften nun kommunistisch geführt, besonders in der Metall- und der Textilindustrie. Für den Stichtag 28.7. meldet ein interner KPD-Bericht 900 Proletarische Hundertschaften, von denen 182 kommunistisch und die übrigen gemischt sind. Besonders in Bayern, Sachsen und Thüringen sind viele der Hundertschaften sozialdemokratisch geführt. Bereits am 4. Juli beantragt die KPD-Reichstagsfraktion die “Erfassung der Sachwerte durch eine zu bildende Arbeiterregierung”, also eine “Zwangssyndizierung” um die ökonomische, währungspolitische und soziale Katastrophe abzuwenden.

Während weiterhin wie seit dem Frühjahr teilweise militante Preiskontrollen durch Betriebs- und Erwerbslosenräte in den Markthallen durchgeführt werden (etwa am 11. Juli in Potsdam und am 20. Juli in Breslau, wo die Polizei 6 Protestierende tötet), nehmen auch die Lohnforderungen offensiveren Charakter an. Besonders in Westsachsen und im Erzgebirge, wo Hundertschaften und KPD stark sind, werden Werksdirektoren direkt bedrängt und bedroht, Inflationsausgleich wird auf diese Weise unmittelbar durchgesetzt, so zum Beispiel am 18. Juli in Aue, in den folgenden Wochen in Zwickau, Lauter, Schneeberg, Limbach und Hermsdorf bei Burgstädt.

Nach dem Antifaschistentag gehen Streiks und Proteste weiter, neue flammen auf. Ab 31. Juli kommt es zu einer Streik- und Mobilisierungswelle mit den Zentren Ruhrgebiet, Mitteldeutschland und Hamburg/Wasserkante. In Neuruppin kämpfen Arbeiter am 31. Juli gegen Bismarck-Jugend (DNVP-Jugend) und Grundbesitzer, 1 Toter, 6 Verletzte. Am 1. August in Berlin Kommunisten gegen Bismarck-Jugend. Ebenfalls am 1. August in Oberhausen Arbeiter gegen Polizei, 2 Tote, 8 Verwundete. Betriebsdelegationen zum Reichstag fordern den Rücktritt der Regierung Cuno. Unterdessen fordert auch eine außerordentliche Konferenz der SPD-Linken am 29./30. Juli in Weimar mit 30 Reichstagsabgeordneten der SPD (Levi, Dissmann u. a.) den Rücktritt der Regierung und opponiert gegen die Politik des Parteivorstands. Am 30. Juli spricht schließlich auch die ADGB-Führung dem Reichskanzler das Vertrauen der deutschen Gewerkschaftsbewegung ab.

Eglantyne Jebb, Gründerin der britischen Wohltätigkeitsorganisation “Save the Children”, bringt angesichts des Schreckens der hungernden Kinder in Deutschland die “Erklärung für die Rechte des Kindes” beim Völkerbund in Genf ein, die 1924 angenommen und später Bestandteil der Grundsätze der Vereinten Nationen werden.

Der Kurs des US-Dollar überschreitet Ende Juli eine Million Mark.

Die bürgerliche Regierung scheint am Ende, immer größere Massen sammeln sich für die “Arbeiter- und Bauernrepublik”, es herrscht “Novemberstimmung”. Reichswehr, Reaktionäre und Faschismus wetzen die Säbel.


Morgen am 29.7.2023 veranstaltet die Geschichtswerkstatt Rosenheim einen antifaschistischen Stadtrundgang im Gedenken an Georg Ott. Und es gibt antifaschistische Proteste gegen die AfD in Magdeburg und gegen die Identitären in Wien.

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Verwendete Literatur:

Bayerlein u.a. (Hg.): Deutscher Oktober, 2003 (S. 85ff.)
Karl Heinrich Pohl: Sachsen 1923, 2022 (S. 192f.)
Sebastian Zehetmair: Im Hinterland der Gegenrevolution, 2022 (S. 383ff.)
Mark Jones: 1923, 2022 (S. 206, 228f.)
Volker Ullrich: Deutschland 1923, 2022 (S. 64)
Ralf Hoffrogge: Der kurze Sommer des Nationalbolschewismus, in: Sozial.Geschichte Online, Heft 20/2017 (S. 99–146)
Günther Gerstenberg: Wer am Abgrund tanzt – Notizen zu den Münchner Jahren zwischen Raterepublik und Hitler-Putsch 1919 bis 1923, 2023 (S. 123)

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1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden
1923 Juni: Komintern debattiert Faschismus, Streiks in Sachsen, Prozess gegen Plättner in Halle
Alle Postings zur Revolution: Revolution in Deutschland 1918-23

Juni 1923: Komintern debattiert Faschismus, Streiks in Sachsen, Prozess gegen Plättner in Halle

June 22nd, 2023

Am 20. Juni 1923 sprechen Clara Zetkin und Karl Radek vorm Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationalen über den Faschismus. Zetkin, deren Rede als eine der frühesten theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Faschismus überhaupt und insbesondere als “erste Analyse des italienischen Faschismus” (Schütrumpf) gilt, bezeichnet ihn als Strafe dafür, die Revolution nicht weitergeführt zu haben, nennt ihn einen “bunt zusammengewürfelten Gewalthaufen”, der als außerlegale, außerstaatliche Machtorganisation für den bürgerlichen Staat fungiert, aber anders als andere Formationen der Konterrevolution weit in alle Teile der Gesellschaft und auch bis ins Proletariat hineinreicht. Die fatale Einmischungspolitik der Komintern in Italien übergehend, verweist Zetkin darauf, dass der italienische Staat den Faschismus 1921 hätte niederschlagen können, ihn aber dem Sozialismus vorzog. Diesen Erfolg in Italien hält sie für wichtiger für den Aufstieg des deutschen Faschismus als Versailles und Ruhrbesetzung.

Selbstschutz gegen den Faschismus, wie er sich in den Betriebshundertschaften bildet, sieht sie als ständig gebotene Notwehr und ebenso als Weg in die Einheitsfront. Jedem einzelnen Arbeiter müsse klargemacht werden: “Auf mich kommt es auch an. Ohne mich geht es nicht. …. Jeder einzelne Proletarier muß fühlen, daß er mehr ist als ein Lohnsklave, mit dem die Wolken und Winde des Kapitalismus der herrschenden Gewalten spielen. Er muß fühlen, klar darüber sein, daß er ein Glied der revolutionären Klasse ist, die den alten Staat der Besitzenden umhämmert in den Staat der Räteordnung.” Die KPD müsse jedoch „den Kampf aufnehmen nicht nur um die Seelen der Proletarier, die dem Faschismus verfallen sind, sondern auch um die Seelen der Klein- und Mittelbürger“. Sie fordert nun eine Ansprache, die auch andere soziale Gruppen als die Industriearbeiterschaft in ihrer Lebenswirklichkeit erreicht: „Wir brauchen eine besondere Literatur für die Agitation unter den Bauern, wir brauchen eine besondere Literatur für die Beamten, Angestellten, Klein- und Mittelbürger jeder Art und wieder eine eigene Literatur für die Arbeit unter den Intellektuellen“.

Während hier besonders am Ende der wertvollen Einschätzungen zum Faschismus schon die immer engere Anlehnung ans sowjetische Vorbild erkennbar ist (Zetkin hatte 1922 in der Sowjetunion in einem Schauprozess gegen Sozialrevolutionäre die Anklage vertreten und für die Todesstrafe plädiert), die sich von der politischen Realität der deutschen ‘Arbeiterregierungen’, der lokalen und regionalen Bündnisse mit der linken Sozialdemokratie und der Orientierung auf eine Zweikammerrepublik, in der Parlament und Räte nebeneinanderstehen, weiter und weiter entfernt, ist die sich anschließende Rede von Karl Radek gleich eine offene und dreiste Intervention – mit vorübergehend katastrophalen Folgen.

Radek meint, dass während der “Rede unserer greisen Führerin” (Zetkin trägt schwerkrank ihre Rede im Sitzen vor) der Name des von der französischen Besatzungsmacht hingerichteten Nazi-Terroristen und vormaligen Freikorps-Offiziers Schlageter ständig ins Bild getreten sei. Er entwickelt nun eine neue Parteilinie (‘Schlageter-Linie’), mit der über Zetkin hinausgehend “die große Mehrheit der national empfindenden Massen” direkt angesprochen werden soll, die seiner Einschätzung nach “nicht in das Lager des Kapitals, sondern in das Lager der Arbeit gehört”. In Anpassung an die sowjetische Strategie, Bündnisse und vor allem Handelsbeziehungen zu kapitalistischen Staaten zu suchen, sollen in den fraglichen Staaten Mehrheiten über die Arbeiterorganisationen hinaus gesucht werden, was vor allem das aktive Werben ums Kleinbürgertum mit Elementen seiner nationalistischen Auffassungen beinhaltet, teilweise Brückenschläge in den faschistischen und antisemitischen Diskurs.

Das ist auch gerade angesichts der Arbeiter-Mehrheiten in Sachsen und Thüringen sowie des allgemeinen Massen-Zulaufs zur KPD abenteuerlich und fußt auf falschen Einschätzungen der Veränderung der Mehrheitsverhältnisse durch die “Proletarisierung” des Kleinbürgertums, geht der deutschen nationalistischen Propaganda und ihrem Schlageter-Kult gewissermaßen auf den Leim. Ohne die konterrevolutionären Gewalttaten Schlageters und seinesgleichen zu übergehen, will Radek sie dennoch für die Revolution gewinnen: “Wir wollen und wir werden zu diesen Massen den Weg suchen und den Weg finden. Wir werden alles tun, daß Männer wie Schlageter, die bereit waren, für eine allgemeine Sache in den Tod zu gehen, nicht Wanderer ins Nichts, sondern Wanderer in eine bessere Zukunft der gesamten Menschheit werden, daß sie ihr heißes, uneigennütziges Blut nicht verspritzen um die Profite der Kohlen- und Eisenbarone, sondern um die Sache des großen arbeitenden deutschen Volkes, das ein Glied ist in der Familie der um ihre Befreiung kämpfenden Völker.”

Die Schlageter-Linie wird zwar bereits im September wieder aufgegeben und führt nirgendwo zu tatsächlicher Zusammenarbeit mit nationalistischen und faschistischen Organisationen, richtet aber in der Zwischenzeit mit ihren öffentlichen Vorstößen erheblichen politischen Schaden an. Besonders in der SPD finden Gegner eines Zusammengehens mit der KPD darin Bestätigung und schlachten sie entsprechend (bis heute) aus.

Radek hatte, ab Februar 1919 für ein Jahr wegen “Beihilfe zum Spartakusputsch, Aufreizung und Geheimbündelei” in Berlin-Moabit inhaftiert, durch sein Gefängnis-Treffen mit dem nationalliberalen AEG-Präsidenten Walter Rathenau den Vertrag von Rapallo vorbereitet (16. April 1922, ratifiziert am 31.1.1923), mit dem Deutschland und die Sowjetunion alle territorialen und finanziellen Ansprüche gegeneinander widerriefen, eine diplomatische Deckung für militärische Zusammenarbeit schufen und so ihre internationale Isolation aufbrechen wollten. Deutschland versuchte damit zudem seine Stellung gegenüber den Raparationsforderungen zu verbessern, trug aber eher zum Einmarsch ins Ruhrgebiet bei.

Am 24. Juni 1922 war Rathenau in Berlin-Grunewald von Angehörigen der Organisation Consul mit Schüssen aus einer Maschinenpistole auf sein Auto ermordet worden. Rathenau, als einer der Hauptorganisatoren der deutschen Kriegswirtschaft im Weltkrieg auch einer der lautesten Kriegstreiber, für Zwangsarbeit und Zeppelinbomben, gegen Waffenstillstand bis zum Schluss, galt den völkisch-antisemitischen Attentätern wegen seiner Rolle in der “Novemberrepublik” (seit Januar 1922 Außenminister, vorher Wiederaufbauminister) und wegen seines jüdischen Hintergrunds als Teil der Verschwörung gegen das Reich, gegen die sie sich verschwören zu müssen meinen.

Der sächsische Ministerpräsident Erich Zeigner spricht sich erneut für eine bedingungslose Aufgabe des ‘passiven Widerstands’ im Ruhrgebiet aus. Er fordert wie schon seit April, für den Ausgleich mit Frankreich auch die Besitzenden entsprechend zur Kasse zu bitten. Für die bürgerliche Opposition im sächsischen Landtag ist das “Provokation” und macht Zeigner für sie endgültig zum “Landesverräter” – ein Misstrauensantrag gegen Zeigner scheitert am 28. Juni, weil die Parteien der ‘Arbeiterregierung’ geschlossen dagegen stimmen.

In Westsachsen, im Zwickauer Revier und im Erzgebirge, zeigen sich die veränderten sächsischen Verhältnisse, in denen die Proletarischen Hundertschaften als Ordnungskräfte teilweise die reguläre Polizei verdrängen können, durch immer selbstbewussteres Auftreten der Arbeitskräfte, die entgegen der Haltung der Großgewerkschaften, angesichts der durch Inflation geleerten Streikkassen auf Stillhalten und “Partnerschaft” mit dem Kapital zu setzen, zu Tausenden in Streik treten. Der Widerspruch zwischen einerseits der Gewerkschaftsführung und der fomalen Parteilichkeit von SPD und KPD für sie und andererseits der sich radikalisierenden Basis beider Parteien gerade in Gegenden, die seit Generationen zu den entschlossenen Kernen der Arbeiterbewegung gehören, wird sich im weiteren Verlauf des Sommers noch zuspitzen.

Vor dem Schwurgericht in Halle beginnt unterdessen am 25. Juni die Hauptverhandlung gegen Karl Plättner und einige Mitwirkende des “revolutionären Bandenkampfs” nach der Niederschlagung des Mitteldeutschen Aufstands. Die Polizei hatte wegen zuvor eingehender Drohungen strenge Sicherheitsvorkehrungen getroffen, Tausende Einsatzkräfte waren aus allen Teilen des Reiches zusammengezogen worden und besetzten für mehrere Tage mit gepanzerten Fahrzeugen und einem Dutzend Wasserwerfern einen großen Teil der Stadt… Oh, sorry, verwechselt, das war in Leipzig, in der Gegenwart, gerade erst… In Halle 1923 wird lediglich eine bewaffnete Postenkette vors Gerichtsgebäude gestellt. Nicht nur die bürgerliche Presse skandalisiert genüsslich den “größten Banditenführer” Mitteldeutschlands, “den berüchtigten kommunistischen Wanderredner und Bandenführer”, auch kommunistische Zeitungen grenzen sich scharf von den “Verzweiflungsakten geistig verwirrter Proletarier” ab, zeigen lediglich wie Wilhelm Pieck in der ‘Roten Fahne’ Verständnis für die “Enttäuschungen über den schleichenden Gang der Revolution”. Plättners Anwalt Hegewisch, der hauptsächlich für die Rote Hilfe arbeitet, fragt sich gegenüber Pieck, “ob ich es noch mit meinem Schamgefühl vereinbaren kann, weiter einer Partei anzugehören, deren Centralorgan in so überhörter Weise revolutionären Kämpfern in den Rücken fällt.”

Plättner hält an drei Verhandlungstagen eine insgesamt 18 Stunden lange Verteidigungsrede ohne Manuskript, kritisiert die Haftbedingungen, erklärt ausführlich und mit lauter Marx-Zitaten seine Stellung zur Revolution, gibt reuelos seine Taten zu und besteht auf einem politischen Verfahren, für das dieses Gericht nicht zuständig ist. Auch die anderen Angeklagten bekennen sich entschieden zu ihren Taten, distanzieren sich nicht von Plättner, sagen nicht gegeneinander aus. Die Hallenser KPD-Zeitung “Klassenkampf” erkennt an, dass es sich hier um Menschen handelt, “die ihrer Anschauung gemäß den Versuch unternahmen, aus der bestehenden Unordnung der kapitalistischen Verhältnisse geordnete Verhältnisse zu schaffen”.

Am 28. Juni verliest das Gericht selbst Plättners Schrift “Der organisierte rote Schrecken!” und bereitet so die Sensation vor: am 3. Juli stimmt der Staatsanwalt der Verteidigung zu und fordert nun ebenfalls die Überweisung des Verfahrens an den Staatsgerichtshof, was nach einigem Hin und Her schließlich im Herbst passiert und bis dahin den Angeklagten wertvolle Zeit verschafft, in der, so hoffen nicht nur sie, die Revolution vielleicht doch noch siegen könnte. Plättner war im November 1918 nur wenige Tage vor seinem Prozesstermin durch die losbrechende Revolution befreit worden.

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1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden
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Verständnis

June 11th, 2023

Diese Woche war die Große Woche der Verständigung, des Verstehens, des Verständnisses: Verständnis für die Staatsgewalt, Verständnis für das Grenzregime, Verständnis für faschistische Wahlabsichten, Verständnis für den Mann.

Verständnis für die armen Fans von Staatsgewalt und Rechtsstaat, die sich nun bloß wegen einer tagelangen brutalen Machtdemonstration öffentlich Widerworte anhören müssen. Verständnis für die armen Grünen, die unter der Verschärfung des Asylrechts offenbar am meisten leiden, ja nun gar “zerreißen” (Zitat aus hunderten Medienberichte darüber). Verständnis für die Gründe, sich inmitten des ganzen Schreckens der Welt für die zu entscheiden, die erklärtermaßen nur an sich denken wollen. Verständnis für die armen Männer um den armen Mann herum und auch für alle, die die Gelegenheit für ihre wichtigen Lieblingsthemen nutzen (Unschuldsvermutung, schon immer gewusst, was habt ihr denn gedacht, musikalische Vorlieben, Witze über sexuelle Gewalt, Kinkshaming).

Kurz: Verständnis für die, die austeilen und einschüchtern, die über Macht, Kapital und Gewaltmittel verfügen, die immer unverhohlener Vorfahrt für sich beanspruchen – und die natürlich immer nicht ganz so schlimm sind wie die anderen, auch das müssen wir alle verstehen.

Es gibt aber auch eben jene Widerworte und die Entscheidung zu Unterstützung und Hilfeleistung. Es gibt solidarische Proteste und nach wie vor immer mehr Streiks – und es gibt sehr viele Menschen, denen klar ist, dass alles anders werden muss und alles auf dem Spiel steht, die sich vom ganzen Verständnis nicht blenden lassen und nicht so miteinander umgehen wollen.

1923 beginnt: 24. Mai – Erwerbslose kontrollieren Preise, mehrtägige Hungerproteste in Dresden

May 23rd, 2023

Am 24. Mai 1923 beginnen Erwerbslose gegen Preiserhöhungen in der Markthalle am Dresdner Antonsplatz (heute vor der Altmarkt-Galerie) zu protestieren. Sie fordern Ausschilderung und Begrenzung der Preise, sorgen bis Mittag für die Schließung aller Geschäfte. Als sie am Nachmittag wieder eröffnet werden, kontrollieren die Erwerbslosen die Preistafeln. Am nächsten Tag tun sie das in allen Markthallen der Stadt, drohen damit die Marktstände zu zerschlagen und halten im Tanzlokal ‘Kristallpalast’ in der Friedrichstadt eine Versammlung ab. Als sie im Anschluss zum Wiener Platz (Hauptbahnhof) ziehen wollen, verhindert die Polizei das Eindringen in die dortigen Markthallen.

Am Sonnabend dem 26. Mai versammeln sich erneut solche Massen in der Antons-Markthalle, dass sie geschlossen wird. Am Nachmittag greift die Polizei eine Demonstration in der Schloßstraße mit Gummiknüppeln an. Der Erwerbslosenrat Groß-Dresden fordert weitere Demonstrationen bis zur tatsächlichen Senkung der Preise. Am Sonntag ziehen 1000 Demonstrierende durch die Prager Straße zum Opernhaus, fordern Schließung der Luxusrestaurants. In der Neustadt schaffen sie es, fast alle Lokale in der Hauptstraße und Bautzner Straße zu schließen. Am Montag dem 28. Mai besetzen Protestierende schließlich ab 4 Uhr morgens die Hauptmarkthalle in Friedrichstadt und den daneben liegenden Wettiner Bahnhof (heute Bahnhof Mitte). Per Zug ankommende Lieferanten werden zurückgeschickt. Berittene Polizei greift einen Demonstrationszug auf dem Wiener Platz an, wird mit Steinen beworfen und muss sich zurückziehen. Vereinzelt werden Reichswehrsoldaten aus Straßenbahnen geholt und gewaltsam entwaffnet. Um 8 Uhr werden bei einem Angriff auf das Polizeipräsidium (heute Polizeidirektion am Pirnaischen Platz) zwei Demonstrierende durch Schüsse sowie ein Polizist durch Messerstiche und eine Bierflasche verletzt.

Die Inflationskrise erwischt Sachsen besonders schwer, Erwerbslosigkeit und Hunger greifen hier mit am stärksten um sich, den gerade noch im Vorjahr boomenden Gewerkschaften leert die Inflation die Streikkassen. Ermutigt und begünstigt von der linken Landesregierung kommt es zu immer mehr Protesten, die sich im weiteren Verlauf des Sommers besonders in Westsachsen noch erheblich intensivieren werden. Während im Mai und Juni die Bildung einer “Arbeiterregierung” aus SPD und KPD in Thüringen zunächst scheitert und die Proletarischen Hundertschaften, die Ordnungs- und Selbstschutzorgane der Arbeitskräfte, in Preußen im Mai verboten werden, folgt die von der KPD tolerierte SPD-Regierung in Sachsen weiter der Regierungserklärung ihres Ministerpräsidenten Erich Zeigner aus dem April, in der er nicht nur auf eine Überwindung der Privatwirtschaft ohne Bürokratisierung drängte, sondern auch “Abwehrmaßnahmen der Arbeiterschaft gegen putschistische Elemente” billigte.

Die Reichswehr habe sich, so Zeigner, “nicht frei gehalten … von engen Beziehungen zu diesen reaktionären faschistischen Organisationen.” Statt die Republik zu schützen, habe sich die Reichswehr “mehr und mehr zu einer Bedrohung der Republik entwickelt.” Der Reichswehr-Befehlshaber in Sachsen, General Alfred Müller, meldet daraufhin ans Gruppenkommando, die Regierung Zeigner sei “nahezu restlos an die Wünsche der Kommunistischen Partei gebunden”, sein “Werturteil” verlange eine Erwiderung des Reichswehrministers.

Reichswehr und Nazis bekommen wegen des Besatzungsgeschehens im Ruhrgebiet unterdessen Oberwasser. Die sich im Frühjahr häufenden Fälle von Gewalt und Vergewaltigung (etwa 50 Fälle sind dokumentiert) durch die Besatzungstruppen werden von der nationalistischen deutschen Propaganda vor allem marokkanischen und anderen Kolonialtruppen zugeschrieben. Frauen, die im Verdacht standen, sich freiwillig mit den Besatzern einzulassen, wurden schon seit dem Vorjahr von ‘Scherenklubs’ öffentlich gedemütigt und misshandelt.

Am 26. Mai richtet die französische Armee den vorab verurteilten Nazi-Terroristen und Veteranen der Ruhrgebietsmassaker von 1920 Albert Leo Schlageter hin. Er hatte mit Unterstützung von Reichswehr und Polizei Anschläge verübt um den passiven Widerstand in eine aktive nationalistische Erhebung zu eskalieren. (Siehe Posting zum April.) Bereits vor der Hinrichtung geht eine Welle der öffentlichen Empörung durch die deutsche Öffentlichkeit – das Vorgehen wird als Eingriff in die deutsche rechtliche Souveränität angesehen, es kommt zu Gnadengesuchen an den französischen Präsidenten, das Auswärtige Amt versucht den Vatikan einzuschalten. Doch erst nach der Hinrichtung wird Schlageter endgültig zum Märtyrer des deutschen Nationalismus.

Für die NSDAP, deren Zentralorgan bereits im Frühjahr Pläne veröffentlichte, Juden in Lager zu deportieren, und die am 1. Mai in München auf dem Theresienfeld nur dank Schutz und geborgter Waffen der Reichswehr neben einer mehr als zehnmal größeren Massenkundgebung der Gewerkschaften und der SPD posieren konnte, ohne ihr angekündigtes “Massaker” anzurichten, war der schnell einsetzende und von ihr mit Inbrunst angefachte Märtyrerkult um Schlageter vielleicht der stärkste Popularitätsschub bis dahin. Dieser Kult sollte in den folgenden Wochen vor allem in der KPD und der Komintern zu katastrophalen Fehlentscheidungen beitragen.

Durchgang zu den Markthallen am Dresdner Antonsplatz und die Front der Hauptmarkthalle am Wettiner Bahnhof.

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1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr
Alle Postings zur Revolution: Revolution in Deutschland 1918-23

1923 beginnt: 18. April – Erwerbslose belagern Rathaus von Mülheim/Ruhr

April 17th, 2023

Am 18. April 1923 beginnen in Mülheim an der Ruhr Erwerbslose, die für die Stadt Notstandsarbeiten verrichten, für bessere Bezahlung zu protestieren. Als ihre Demonstration das Rathaus erreicht, verbarrikadieren sich dort Beamte, weil die Stadtverwaltung Verhandlungen ablehnt und die Demonstrierenden versuchen das Gebäude zu stürmen. Zwei Tage kämpfen die Erwerbslosen, teilweise mit Waffen aus einem geplünderten Waffenladen, gegen Polizei und Bürgerwehr, es gibt Tote und Verletzte.

Unterstützt werden die Protestierenden von der syndikalistischen FAUD, die hier relativ stark ist und versucht, einen Generalstreik loszutreten und eine dauerhafte Bewaffnung der Arbeitskräfte sowie die Entwaffnung des bürgerlichen Selbstschutzes durchzusetzen. Das schlägt jedoch fehl und die FAUD wird in der Folge Hauptziel der Repression, ihr Büro wird verwüstet, viele müssen fliehen. Da sie entgegen der nationalistischen Stimmungsmache die Arbeitskräfte offen dazu aufruft, sich nicht für die Interessen der Thyssen, Klöckner, Hugenberg und Stinnes missbrauchen zu lassen, trifft die FAUD hier auch der nationale Furor, der auch in den Großgewerkschaften zunimmt – Vorwürfe werden laut, die Proteste wären von der Besatzungsmacht begünstigt worden.

Ebenfalls am 18. April steigt die Inflation nach einer vorübergehenden Stabilisierung wieder kräftig an. Schon Ende 1922 kostete ein Dollar 10 000 Mark, nach der Ruhrbesetzung stieg der Preis Anfang Februar sprungartig auf über 40 000, konnte dann bei etwa 20 000 stabilisiert werden und klettert nun wieder auf 25 000. Ende Mai werden es schon 54 000 sein. Ursprünglich von der gigantischen Kriegsverschuldung aus dem Weltkrieg angestoßen, hatte die Inflation seither stetig zugenommen und dem Großkapital erlaubt, im großen Stil Betriebe und Immobilien zusammenzukaufen, im Falle von Hugo Stinnes auch z.B. Schiffe, Landgüter, Hotels und Zeitungen. Während die Rekordinflation ab 1923 nun auch inländische Staatsschulden abgeträgt und den Großgrundbesitz entschuldet, die Regierung sich ihren “passiven Widerstand” gegen die Reparationen einiges kosten lässt (vor allem Zahlungen für von Maßnahmen der Besatzungsmächte Betroffene sowie für Kohle), sind Rentner, Kleinsparer, Erwerbslose und viele andere Unterstützungempfänger existentiell getroffen und auch immer größere Teile des Klein- und Bildungsbürgertums. Am 16. April bietet die Reichsregierung Wiederaufnahme der eingestellten Reparationsleistungen mit einer Zahlung von insgesamt 30 Milliarden Goldmark an, was als indiskutabel abgelehnt wird.

Die Ruhrkrise ist unterdessen weiter eskaliert. Am 31. März schießen französische Soldaten, die in den Krupp-Werken in Essen Fahrzeuge beschlagnahmen sollten, in eine Menge von Arbeitskräften, die sie daran hindern wollen, und töten 13 von ihnen. Bürgerliche Politik und Öffentlichkeit verurteilen das scharf, anders als vor drei Jahren bei den erheblich blutigeren österlichen Massakern der Reichswehr im Ruhrgebiet, und entdecken alles, was sie damals und während der ganzen militärischen Konterrevolution geflissentlich übersahen, nun beim alten ‘Erzfeind’. Der liberale Publizist Theodor Wolff schreibt etwa: “Den Tempel des Osterfestes hat der militaristische Gewaltgeist mit dem Blute von Menschenopfern befleckt.” Und ebenfalls anders als damals hält am 10. April der Reichstag in Anwesenheit von Reichspräsident Ebert eine Trauerfeier für die Erschossenen ab.

Die französische Militärpolizei verhaftet in Essen am 7. April Albert Leo Schlageter, der vor drei Jahren während der Reichswehr-Massaker Arbeiterwohnungen in Bottrop mit Artillerie beschießen ließ und zuvor schon im Baltikum und Oberschlesien in Freikorps kämpfte, wegen mutmaßlicher Beteiligung an einem Sprengstoffanschlag auf die Eisenbahnstrecke Dortmund-Duisburg. Schlageter ist nicht nur Teil der Organisation Heinz, die mit Unterstützung durch Polizei und Reichswehr Anschläge gegen die Besatzungsmächte im Ruhrgebiet verübt und “Verräter” ermordet, er gehört auch seit Ende 1922 zur nationalsozialistischen Bewegung. Die kann sich in Bayern vor allem im militärischen und akademischen Milieu konsolidieren, erreicht aber auch immer größere Teile des übrigen Kleinbürgertums, greift im Zuge der Ruhrkrise erstmals auch stärker in andere Teile Deutschlands über. Die NSDAP verdoppelt im Laufe des ersten Halbjahres 1923 ihre Mitgliederzahl von 20 000 auf 40 000.

Am 20. April wird Hitlers Geburtstag im Münchner Zirkus Krone erstmals öffentlich vor 8000 bis 9000 Menschen begangen, Tausende drängen sich noch vor dem Eingang. Hitler spricht zum Thema “Politik und Rasse. Warum sind wir Antisemiten?” Die “deutsche Rasse” werde erst frei sein, wenn der Versailler Vertrag außer Kraft gesetzt und der “innere Feind kaltgestellt” sei. Er hetzt gegen “internationales Finanzjudentum”, “Marxisten” und “Novemberverbrecher”. Alle Juden seien Deutschlands “Todfeinde”. Am lautesten wird er immer, wenn über Juden und Sozialdemokraten spricht. Ebenfalls am 20. April veröffentlicht Julius Streicher, Gründer der NSDAP-Ortsgruppe Nürnberg, die erste Ausgabe der Wochenzeitung “Der Stürmer”, die mit ihrer Mischung aus Gewalt und Pornographie eine der übelsten antisemitischen Propagandaschleudern aller Zeiten wird.

Am 25. April wird in Berlin das 1922 veröffentlichte satirische Mappenwerk “Ecce Homo” des Grafikers und KPD-Mitglieds George Grosz wegen “unzüchtiger Darstellungen” beschlagnahmt.

Fenster des Mülheimer Rathauses und die Tür zum Rathausturm während der Belagerung.

1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus
Alle Postings zur Revolution: Revolution in Deutschland 1918-23

1923 beginnt: 15. März – Linksrutsch in Sachsen, “Arbeiterregierung” gegen den Faschismus

March 15th, 2023

Am 15. März 1923 bereiten SPD und KPD in Sachsen eine “Arbeiterregierung” vor, eine sozialdemokratische Minderheitsregierung mit kommunistischer Tolerierung, die am 21. März mit der Wahl des linken Sozialdemokraten und späteren Leipziger Oberbürgermeisters Erich Zeigner zum sächsischen Ministerpräsidenten Wirklichkeit wird.

Eine Siebener-Kommission erarbeitet “Richtlinien von SPD und KPD für die künftige Politik in Sachsen”, welche die Grundlage des Tolerierungsabkommens vom 18. März bildet. Programmatische Hauptpunkte sind die Arbeiter-Einheitsfront und bewaffnete Abwehrmaßnahmen gegen den Faschismus, Bekämpfung von Preistreiberei durch Einrichtung von Prüfstellen, Bildung von Arbeiterkammern und Amnestie für politische, Not-und Abtreibungsdelikte.

Die beiden Parteien arbeiten nun auf Regierungsebene so zusammen wie außerhalb des Parlaments, besonders in den Betriebsräten, und wollen mit “neuen Leuten” die bereits eingeleiten Reformen in Wirtschafts-, Arbeits-, Gemeinde- und Schulpolitik sowie bei der republikanischen Umgestaltung von Verwaltung, Justiz und Polizei konsequenter fortführen. Das soll auch helfen, die im Verlauf der Revolution aufgerissenen Gräben in der sächsischen Arbeiterbewegung zu überbrücken.

So wird Innenminister Richard Lipinski, der Leipzig im März 1920 ohne Not an die Reichswehr übergab, durch Hermann Liebmann ersetzt, mit seiner Mischung aus der Bodenständigkeit eines Gussformers und dem revolutionären Pathos eines LVZ-Redakteurs der “Liebling der Partei”, zu Beginn der Revolution 1918 im Leipziger Arbeiter- und Soldatenrat, seit 1922 aus der USPD zurückgekehrt und wichtige Stimme des folgenden Linksrutschs in der SPD, nun im Landtag maßgeblich an der Konstituierung der “proletarischen Mehrheit” beteiligt.

Ähnliches wie in Sachsen wird in den nächsten Monaten auch in Thüringen passieren: “Arbeiterregierung” und Bewaffnung der Arbeitskräfte. Das Interesse an revolutionärer Bewaffnung und das Interesse an antifaschistischer Bewaffnung fallen mehr und mehr zusammen. In Italien ist der Faschismus bereits an der Macht, in der “Ordnungszelle” Bayern formiert er sich rapide vor allem aus denen, die in den letzten Jahren die Revolution zusammengeschossen haben – und denen, die sie dabei anfeuerten und begünstigten. Ebenfalls am 15. März bestätigt der Staatsgerichtshof das Verbot der NSDAP in Preußen, Baden, Sachsen, Bremen und Hamburg – in Bayern wird die NSDAP hingegen nicht verboten.

Als in den Tagen nach dem Urteil die SA mobilisiert, bis einer ihrer Anführer, Gerhard Roßbach, in der Nacht vom 17. zum 18. März in Berlin verhaftet wird, demonstrieren auch sozialdemokratische Selbstschutzverbände. Die Proletarischen Hundertschaften in Sachsen wollen gegen den heraufmarschierenden Faschismus von der “Arbeiterregierung” bewaffnet werden und hoffen ihrerseits, diese Gelegenheit für einen letzten Anlauf zur Revolution nutzen zu können – auch die Komintern verfolgt jetzt diesen Kurs, auch wenn auf ihrem Kongress in Frankfurt/Main vom 18. bis 20. März das Exekutivkomittee darauf besteht, dass der aktuelle Hauptfeind der französische Imperialismus sei und nur die Kommunistischen Parteien in Frankreich und Deutschland bisher ihrer diesbezüglichen Pflicht nachgekommen seien.

Durch ein Attentat wird in Köln am 17. März Franz Joseph Smeets, Begründer und Vorsitzender der separatistischen Rheinisch-republikanischen Volkspartei, lebensgefährlich verletzt, vermutlich vom Widerstand gegen die französische Besatzungsmacht, welche den Separatismus unterstützt. Am 18. März wird ein französischer Soldat im Essener Hauptbahnhof erschossen. Die Besatzungsbehörde verhaftet daraufhin Bankdirektoren als Geiseln, schließlich erschießt ein französischer Soldat einen nichtverdächtigen Buchdruckereibesitzer.

Am gleichen Tag spricht Reichspräsident Ebert in Hamm vor Vertretern von Gewerkschaften und “Arbeitgeberverbänden” Dank für den geleisteten passiven Widerstand gegen die Besetzung des Ruhrgebiets aus. Der Parteivorstand der SPD warnt in einer Erklärung davor, “den kommunistischen Gimpelfängern zu folgen”, im Interesse “der Partei und der Einheit der Arbeiterbewegung” lehnt er “gerade jetzt entschiedener denn je ein Zusammengehen mit den Kommunisten ab.”

links: Hermann Liebmann, rechts: Erich Zeigner

1923 beginnt: Was bisher geschah
1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet
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Menschen, Autos, Züge und die Welt

February 18th, 2023

💻 Menschen erblicken Menschliches in anderen Tieren, überall in der Natur, in Wolken und Sternen am Himmel, noch verstärkt durch unsere ausgeprägte Fähigkeit Unbelebtes zu beleben, zu animieren, indem wir es gedanklich in Bewegung versetzen. Nun erblicken Menschen in Chatprogrammen, die von Menschen verfasstes Material anordnen, Menschliches. Und manche schreiben (bezahlt und unbezahlt) Texte, die sich glaubwürdig wie besonders seltsame ChatGPT-Sachen lesen. Oh, the humanity!

🚗 Um weniger Erprobungskosten und dadurch mehr Gewinn zu haben nutzt Tesla nicht nur die Kundschaft sondern auch alle anderen Verkehrsteilnehmenden als Versuchskaninchen für seine selbstfahrenden Autos.

🚂 Die Pointe am Zugunglück in East Palestine, Ohio ist nicht, dass die vormalige US-Regierung im Interesse der Bahnunternehmen die Sicherheitsvorkehrungen gelockert oder dass die gegenwärtige Regierung den Bahnstreik für bessere Arbeitsbedingungen Ende letztes Jahr verhindert hat, auch nicht, eine wie große Frechheit die Entschädigungsangebote an die betroffene Bevölkerung sind, sondern dass die Bahn endlich in die Hand der Gewerkschaften gehört.

☣️ In meiner sozialen Umgebung gab es in den letzten Wochen mehrere Corona-Fälle, ich bin weiter vorsichtig, war selbst bisher noch nicht infiziert.

🌐 Ich habe keine Außenpolitik, keinen Staat, keine Verfügung über die gesellschaftlichen Produktionsmittel. Ich kann niemandem Waffen verkaufen, weil ich keine habe. Wenn ich Waffen hätte und jemand bräuchte sie dringend, würde ich sie nicht verkaufen sondern einfach geben. Ich kann die Arbeitskräfte in Russland nicht dazu bewegen den Krieg zu beenden.

🚩 Was ich tun kann, ist weiter für das zu werben, was gegen Krieg, Klimawandel, Ausbeutung und Diskriminierung am wahrscheinlichsten hilft: dass sich überall immer mehr Arbeitskräfte selbst zusammenschließen, mit immer mehr anderen, über Grenzen und Ausschlüsse hinweg, dass sie in und mit ihren Organisationen ihre Interessen durchsetzen und sich Mittel verschaffen um ihre reale Mehrheit zur Geltung zu bringen.

1923 beginnt: 11. Januar – Einmarsch ins Ruhrgebiet

January 11th, 2023

Am 11. Januar 1923 marschieren zur direkten Entnahme von ausgebliebenen Reparationsleistungen nach dem Versailler Vertrag eine belgische und zwei französische Armeekolonnen aus der Umgebung von Düsseldorf und Duisburg ins Ruhrgebiet ein, das sie im Laufe von drei Tagen bis auf Dortmund besetzen. Es gibt spontane nationalistische Proteste dagegen, bei denen Studierende “Die Wacht am Rhein” singen, doch zunächst fällt kein Schuss.

In den kommenden Tagen wächst die Besatzung auf eine Truppenstärke von insgesamt etwa 100.000. Am 15. Januar feuert die Mannschaft eines französischen Militärpostens in Bochum “blinde” Warnschüsse in eine nationalistische Gruppe, die “Siegreich wollen wir Frankreich schlagen” singt – mindestens einer der Soldaten schießt jedoch scharf und tötet einen Jugendlichen, es gibt zwei Verletzte.

Anders als bei den militärischen Polizeieinsätzen der Jahre zuvor, als Reichspräsident Ebert es war, der ins Ruhrgebiet und anderswo schwerbewaffnet einmarschieren und Proteste niederschießen ließ, sendet er nun zur öffentlichen Beerdigung des Jugendlichen ein Beileidstelegramm und kümmert sich um Hilfe für die Angehörigen. Seit November 1922 gibt es eine Reichsregierung ganz ohne Eberts SPD, doch ihr Zentralorgan Vorwärts schreibt staatstragend vom Blut an den Händen der französischen Politik, betont den kriegerischen Charakter des Einmarschs und will keine Notwehr erkennen.

Das war in den Jahren zuvor anders: Als etwa am 6. April 1920 mindestens elf Arbeiter aus Essen und Mülheim, die ihre Waffen bereits Tage zuvor abgegeben hatten, nach “Standgerichten” des Freikorps Roßbach erschossen und verstümmelt wurden, bezeichnete der Vorwärts am gleichen Tag das Vorgehen der schon seit Tagen mordenden Regierungstruppen als „Polizeiaktion“. Ebenfalls an diesem Tag besetzten französische Truppen als Reaktion auf die Verletzung der neutralen Zone durch die aufstandsbekämpfende Reichswehr wie angedroht Frankfurt, Hanau, Darmstadt und Homburg – der Vormarsch der Reichswehr ins Ruhrgebiet wurde jedoch nicht gestoppt, immer noch war es der SPD-geführten Regierung wichtiger, die aufständischen Arbeiter zusammenschießen zu lassen, als einen neuen Krieg mit Frankreich zu vermeiden.

Nun ruft ab dem 13. Januar 1923 die bürgerliche Regierung Cuno zum “passiven Widerstand” auf, sie stellt die nationale Interessenlage offen dem Klassenkampf gegenüber und kann ihn teilweise erfolgreich für sich einspannen. Kooperation mit den Besatzungstruppen wird vor Ort verweigert, es kommt zu Protesten und Streiks, dabei erschießen Soldaten mehrmals Protestierende.

Auch Dortmund wird besetzt, einige nationalistische Lieder werden von der Besatzungsmacht verboten, es wird zum Teil gegen Beleidigung der Truppen vorgegangen, Soldaten begehen sexuelle Übergriffe. Von alldem angetrieben weiten sich Proteste und Streiks zügig aus. Aus dem Interessenkonflikt zwischen deutscher, französischer und belgischer Regierung ist eine ständige Konfrontation von Soldaten und Zivilbevölkerung geworden.

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Übersicht zu den Postings über die Revolution in Deutschland 1918-23.

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